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Ab 1915: Die Emigranten – Die Flucht aus der Zeit

Ende Mai 1915 emigrierte Hugo Ball von Berlin kommend nach Zürich, «der friedlichen Insel in einem Ozean von Völkerhochmut und grässlicher Verdummung». Vorerst war er kurze Zeit als Mitarbeiter anarcho-sozialistischer Zeitungen tätig und trat bei Versamm­lun­gen als Agitator auf, um auf diese Weise seine pazifistische Überzeugung zu vertreten – er, der sich noch am 6. August 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte. Da sich Ball, der Intellektuelle zwischen den Fronten, der Parteidisziplin nicht beugen konnte und wollte, trat er zusammen mit Emmy Hennings in Variétés auf. Auch das war ein kurzes Intermezzo, welches im Februar 1916 zur Gründung des Cabarets «Voltaire» an der Spiegelgasse 1 führte; daraus ging Dada hervor. Politische Radikalität, strikter Pazifismus, konsequente antibürgerliche Haltung äusserten sich als rabiate Zerfetzung von all dem, was mit der bürgerlichen Kultur gleichgesetzt wurde. Hans Arp, Tristan Tzara, Hans Richter, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco waren wie Ball Emigranten – Pazifisten, poli­tisch bindungslose Radikale, die in Zürich das fortsetzten, was in den Münchner und Berliner Cafés seit der Jahrhundertwende gedacht, besprochen und geschrieben wurde. Das «Odèon» in Zürich wurde zur Gedankenbörse, zum transitorischen Ort, wo Utopien für Stunden Wirklichkeit werden konnten.

Als Ball im Juli 1916 das erste Mal für einige Zeit ins Tessin zog, war das die erste Etappe seiner «Flucht aus der Zeit». Dadaismus sei für ihn, der misstrauisch geworden war, wie auch alle anderen «Ismen», «schlimmste Bourgeoisie». Anfang Juni 1917 reiste er nach einem Nervenzusammenbruch wieder ins Tessin. Ab September war er in Bern als politischer Publizist für die von Deutschen herausgegebene «Freie Zeitung» tätig, betrieb Studien über Neuscholastik und deutsche Mystiker und setzte sich für eine «moralische Revolution» ein. 1920 zog er sich ins Tessin zurück, wo er, mit einem Unterbruch, bis zu seinem Tod 1927 lebte. In diesen letzten Jahren setzte er seine Mystiker-Studien fort, kämpfte aber auch für eine revolutionäre Veränderung des Christentums, bei der sich urchristlich-sozialistische Ideen mit anarchischen und spirituellen verbinden.

Das Tessin wurde auch für andere Künstler des Dada-Kreises zum Refugium. Für Janco, Richter, Arp und Taeuber war das Tessin der Ort des Rückzuges aus dem Zürcher Trubel, aber auch Liebesnest. Walter Serner schrieb in Lugano 1918 seine grossartige «Letzte Lockerung», eine heilig-wütende Abrechnung mit Europa und seiner Kultur. Von Zürich aus kamen an Ostern 1918 Marianne von Werefkin und Aiexej Jawlensky nach Ascona. Sie waren, als gebürtige Russen, 1914 von München an den Genfersee (Saint-Prex) emigriert. Für Jawlensky waren die drei Jahre in Ascona die «interessanteste Zeit», weil die Natur dort «stark und geheimnisvoll» ist. Die Tage seien von «wunderbarer Harmonie», die Nächte aber hätten «etwas sehr Unheimliches». Es ist der Dualismus von Jawlenskys «Variationen» – diesen Kopf-Bildern, die den Tag an die Nacht prallen lassen, das Helle an das Dunkle, die äusserste Klarheit der fest konturierten Gestalt an das Unbestimmte einer sich verflüchtigenden Stofflichkeit. Die Bilder der Werefkin gründen seit der Münchner Zeit in der Polarität eines ruhigen, narrativ-anekdotischen und eines entrückten, wild-verzerrten Ausdruckes. Im Tessin, wo sie bis zu ihrem Tod 1938 – von der Bevölkerung hoch verehrt – lebte, wird die Ruhe gleichsam gedehnter, und die Bewegung steigert sich ins Karikierende, Überdrehte, fast Schrille. Die hohen Berge um das Loch des Lago Maggiore werden zu Tentakeln, die im Himmel etwas Unsichtbares festhalten wollen; die Wiesen verwandeln sich in brodelnde Lavaströme, die alles mitreissen. Ascona war schliesslich 1921 der Ort, wo sich die merkwürdige Verbindung zwischen Marianne von Werefkin und Aiexej Jawlensky nach zwanzig Jahren löste.

1924 gründeten die seit längerer Zeit in Ascona lebenden Walter Helbig, Ernst Frick, Albert Kohler, Gordon McCouch, Otto Niemeyer, Otto van Rees zusammen mit Marianne von Werefkin die Künstlergruppe «Der Grosse Bär». Diese Formierung zeigt, dass sich die Spreu vom Weizen trennen sollte. Ascona war in den zehn Jahren, seit sich 1914 Arthur Segal dort niedergelassen hatte, zum Ort der Maler geworden.

Theo Kneubühler

1925: El Lissitzky – Kunst für das Neue Russland

El Lissitzky, in Deutschland lebend und dem Bauhaus nahestehend, kam im Februar 1924 unfreiwillig nach Locamo. Er musste einer offenen Tuberkulose wegen zur Kur in ein milderes Klima. Der Tessin-Aufenthalt fiel mit seinem Entschluss zusammen, die Staf­felei­malerei aufzugeben, um neue Medien zu erproben: Photomontage, Typografie, Zeit­schrif­ten­artikel, Architektur und Ausstellungsgestaltung. Die Briefe an seine Frau spiegeln einen Menschen, der vor allem an die Arbeit denkt, der wie selten ein Künstler unempfindlich ist gegenüber den regressiven Einflüssen des Südens. Er schrieb und stellte das «Ismen-Buch» zusammen, eine «letzte Truppenschau aller Ismen» von 1914 bis 1918. Zudem verfasste er, der sich in seinem Tessiner Jahr vor allem theoretisch beschäftigte, Artikel für die Basler Architekturzeitschrift ABC. Zusammen mit Emil Roth entwickelte er den Entwurf des «Wolkenbügels», eines für Moskau geplanten Hoch­hauses und Bürogebäudes auf drei Pfeilern. Im Juni 1925 reiste Lissitzky in die Sowjet­union zurück.

Theo Kneubühler

 

Du 10/1978, weiter

Du, Oktober 1978, Seite 48
Du, Oktober 1978, Seite 52
Du, Oktober 1978, Seite 54
Du, Oktober 1978, Seite 56