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Um 1930: Elisàr von Kupffer – Der Tempel im Locarnese

Lebensgemeinschaften wie diejenige auf dem Monte Verità hatten in bezug auf die Architektur die Vorstellung, dass das Individuum möglichst bescheiden, in grösst­mög­licher Nähe zu den Elementen zu wohnen hätte, in der Licht-Luft-Hütte. Die Gemein­schaft jedoch sollte einen Tempel haben, der gewissermassen Ausdruck des Läuter­ungs­willens und der Auferstehung wäre. Fidus’ «Tempel der Erde» war ein solcher Tempel mit einem quadratischen Bau als Weg zur Kammer des Schweigens, dem Dunkeln und schliesslich dem Eintritt in den Rundbau mit dem Heiligtum. Dieser Tempel wurde weder, wie vorgesehen, in Amden noch in Ascona gebaut. Und doch steht er im Umfeld des Monte Verità in Form des Sanctuarium Artis Elisarion in Minusio.

Als der baltische Edelmann Elisar von Kupffer um 1915 ins Locarnese kam, hatte er bereits alle Stationen dieser neuzeitlichen sakralen Topografie durchlaufen, die im Zuge der Bildungsreisen (Goethe) und der Formierung einer Gegenwelt als Kultstätten des Jünglings, der Frau und Grossen Mutter, des weisen alten Mannes, der Elemente und Gestirne im vor allem noch wenig industrialisierten Süden (Taormina, Capri, Pompeji, Florenz) entstanden war. Ascona gehörte unterdessen zu diesen Stätten. Elisar liess sich jedoch im nahen Locarno-Minusio nieder, zusammen mit seinem Freund und Exegeten Dr. Eduard von Mayer.

1927 wurde der quadratische Vorbau mit einem elliptischen Weiheraum und 1939 die Rotunde erbaut. Der Grundriss entspricht also dem Fidusschen Tempelprojekt, doch inhaltlich ergeben sich Divergenzen aus der reinen Jünglings-Ideologie bei Elisar, der nur in einem Bild der Frau, der Madonna, gehuldigt hatte. Elisar nannte seine Ideologie Klarismus, gebildet aus dem Gegensatzpaar Wirrwelt (die Welt der irdischen Leiden­schaf­ten) und Klarwelt (das Paradies, die lichte Welt der Seligen). Wie bei Fidus wird die Auferstehung erst möglich nach dem Durchgang durch den Tod, die Dunkelzone zwischen den beiden Gebäuden. Durch die Umwandlung in ein Kulturzentrum wurde leider das Gebäude so renoviert, dass die Zeugnisse der Wirrwelt und vor allem das 34 Meter lange Paradiesgemälde nicht mehr eingerichtet werden können.

Im Sommer 1907 besuchte Fidus (Hugo Höppener), der Bildinterpret der Lebensreform­be­we­gung, den Monte Verità. Fidus, der schrieb: «Das Wort muss Fleisch und Blut werden», träumte von einer Gemeinschaft von Eingeweihten, für die er den Lebensraum gestalten wollte – Tempelbauten, deren architektonisches Gefüge «einheitliche Gefühls­er­leb­nisse» ermöglichen sollte. Wahrscheinlich prüfte er auf dem Monte Verità, ob seine Tempelidee dort Anklang fände. Sein Konzept wie auch jedes formale Detail standen im Zusammenhang mit dem Jugendstil: Ausdrucksgebärde und Gesamtkunstwerk, Kunst­werk und Schöpfer als Einheit. Der Tod des Schöpfers bedeutet den Tod des Werkes, weil die Finalität des Werkes in seiner lebendig-gelebten Verwirklichung liegt. Lebensreform wurde bei Fidus zu einer ästhetizistischen Ganzheitsidee, die einen ahistorischen paradiesischen Zustand anstrebt, wo der Mensch, als Auslese «Eingeweihter», sich als das feiert und zelebriert, was er als «reine Natur» erachtet.

Theo Kneubühler

 

Du 10/1978, weiter

Du, Oktober 1978, Seite 65
Du, Oktober 1978, Seite 66
Du, Oktober 1978, Seite 67