Die Goethelüge – der Missbrauch durch Haeckel
Gewiss: Goethe ist zeitweise pantheistisch gewesen, mindestens von Spinoza stark beeinflusst. Sein dem Gestaltlos-Abstrakten abgeneigter, allem Sicht- und Greifbaren sinnenfreudig zugewandter Geist füllte die tätige Strebe-Verwandtschaft aller Einzelwesen innerhalb der Natur.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Aber erstens folgt aus solcher Erkenntnis der Lebens-All-Verwandtschaft noch nicht das monistische Hauptdogma der individuellen Wesenlosigkeit; das folgt nicht einmal aus dem Gedichte:
Was wär ein Gott, der nur von aussen stiesse,
Im Kreis das All am Finger laufen liesse!
Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So dass, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst.
denn um ein «Inneres» zu bewegen, muss ein Inneres selbständig da sein; und um «in Ihm zu leben, zu weben und zu sein» muss abermals ein Etwas selbständig gegeben sein, das in engem Wirkungsbunde mit Gott steht, aber eben doch selbständig vorhanden ist – sonst ist Goethes Gedicht ein wortreicher und unlebendiger Pleonasmus.
Zweitens: sollte Goethe auch zeitweise den Wunsch der Selbstauflösung empfunden haben, wie vielleicht im Ganymedesliede – obschon auch hier der «allliebende Vater» nicht die selbständige Wesenheit der Einzelnen ausschliesst; oder in den Worten:
Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden.
– so hat er sich dennoch weit über solche Stimmungen empor entwickelt, was offenbar bei Exzellenz Haeckel, dem Vertreter der Entwicklungslehre, nie der Fall gewesen ist.
Goethe hat sich mit aller Schärfe für die Wesenshaftigkeit des Persönlichen ausgesprochen:
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Und dieses Wort besagt mehr für seine Überzeugung, als das humoristische Erblichkeitsregister («vom Vater hab ich die Statur» usw.) auf das sich ein andrer Goethetäuscher, Wilhelm Ostwald, beruft, indem er den Kernpunkt der Frage, die individuell mächtige Vereinigung solchen «Mosaiks», phrasenhaft umgeht.
An Frau von Stein bekennt Goethe in seinem Gedichte vom 14. April 1776:
Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten,
Meine Schwester oder meine Frau.
und er wiederholt bekennend seinen Glauben an die Wiedergeburt, mithin an die wirkende Wesenhaftigkeit der Persönlichkeit, in seinem Briefe an Frau von Stein vom 2. Juli 1781:
Wie gut ists, dass der Mensch sterbe, um nur die Eindrücke auszulöschen und gebadet wiederzukommen.
Goethe hat mit aller Inbrunst die Daseinsordnung über physikalischer Wesensmächte geahnt. In eben dem Gedichte «Eins und alles», dessen Eingangsverse ich oben als Beweis eines Auflösungswunsches gelten lassen wollte, heisst es weiter
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.
In seinen Briefen an Zelter kehrt sehr oft die Erwähnung «gütiger Geister» wieder.
Und vollends im «Faust», bei dessen «All-Umfasser und All-Erhalter» die Monisten stehen bleiben, führt Goethe die ganze Lebensbahn des Menschen zum Bekenntnis der Überwelt hinauf. Da heisst es zum Schluss (Engel, schwebend in der höheren Atmosphäre, Faustens Unsterbliches tragend):
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen:
Wer immer strebend sich bemüht
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.
Wer darin nur altersschwachen Mystizismus sieht, hat Goethe nie begriffen, ihn der, geistesfrisch bis zum Letzten, von früh her zu solcher Welterkenntnis hinstrebte. Weit davon entfernt, den Monismus zu stützen, ist seine Weltanschauung vielmehr die nächste Vorstufe zum Klarismus, in welchem der vom Monismus nur usurpierte, tatsächlich anti-monistische Entwicklungsgedanke zu seiner tiefsten Begründung und höchsten Ausdeutung gelangte.
Ist folgender Hymnus nicht geradezu ein «Hohelied», das bei Naturandachten angestimmt werden konnte?
Traute, heilige, stille Macht,
milde Flamme, im Busen entfacht,
die Du in unseren Herzen waltest,
Leben um Leben gestaltest,
üppig entfaltest –
Dir sei jegliches Opfer gebracht!
Klärenden Schicksals gärende Kraft,
deren Gestürme die Müden entrafft,
die Du in Wipfeln und Kronen rauschest,
Tote für Lebende tauschest,
Ringenden lauschest –
Dein ist das Leben, das uns erschafft.
Dein ist des Lebens wachsende Spur!
Dein ist des Todes reichliche Flur!
Dein ist des Menschen blindes Bestreben,
goldene Früchte zu geben,
sich zu erheben –
heimliche, ewig junge Natur!
Traute Macht Du, in deren Bann
heimisch die Erde, ich bete Dich an!
Scheinst Du der sterbenden Hand zu entgleiten,
fühl ich Dich dennoch bereiten
andere Zeiten,
dass ich Dich ewig spüren kann.
Der dieses 1899 dichtete, obschon auch damals nicht Pantheist, ist Elisarion, der Künder des Klarismus, den gerade sein tiefes Begreifen der Natur und des mannigfaltig individuellen Sehnens und Aufstrebens in der Natur zum klaristischen Theopanzetismus und Theopannikeismus brachte (zu Gott als dem Alles Suchenden und endlich in jedem Einzelnen Siegenden). Und auch Goethes Pantheismus ist, zwar noch nicht ganz Theopanzetismus, aber weit eher Panzethismus denn Monismus.
Und nun zu Haeckels Goethelüge.
Goethe | Haeckel |
Edel sei der Mensch, Hilfreich und gut! Denn das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen Die wir kennen. |
Das neue Gebäude des ethischen Monismus … das Pflichtgefühl des Menschen … beruht auf dem realen Boden der sozialen Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden höheren Tieren finden. |
Heil den unbekannten Höheren Wesen, Die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch; Sein Beispiel lehre uns Jene glauben. |
Nun ist aber neuerdings für alle diese Gottheiten und für die mit ihnen tafelnden unsterblichen Seelen die offenkundige von David Strauss geschilderte Wohnungsnot eingetreten; denn wir wissen jetzt durch die Astrophysik, dass der unendliche Raum mit ungeniessbarem Äther erfüllt ist. |
Denn unfühlend Ist die Natur. Es leuchtet die Sonne Über Böse und Gute |
Unsere herrliche Mutter Natur. |
Und dem Verbrecher Glänzen, wie dem Besten, Der Mond und die Sterne. Wind und Ströme, Donner und Hagrel Rauschen ihren Weg Und ergreifen Vorüber eilend Einen um den Andern. Auch so das Glück Tappt unter die Menge, Fasst bald des Knaben Lockige Unschuld, Bald auch den kahlen Schuldigen Scheitel. |
Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und naturgemäss erfüllt werden können, wenn sie in reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen … welche wir durch unsere fortgeschrittne Erkenntnis der Naturgesetze gewonnen haben. |
Nach ewigen, ehernen Grossen Gesetzen Müssen wir Alle Unseres Daseins Kreise vollenden. |
Diese Verse zitiert Exzellenz Haeckel aus dem Zusammenhang, macht bei ihnen willkürlich Halt und unterschlägt die direkt anknüpfenden folgenden Verse, die der wahllosen Naturgesetzlichkeit die menschliche Persönlichkeit als zweites, höheres Prinzip entgegensetzen und zur Erkenntnis der Welt göttlicher Wesen hinüberleiten.
Goethe | Haeckel |
Nur allein der Mensch Vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, Wählet und richtet; Er kann dem Augenblick Dauer verleihen. Er allein darf Den Guten lohnen, Den Bösen bestrafen, Heilen und retten, Alles Irrende, Schweifende, Nützlich verbinden. |
Der menschliche Wille ist ebensowenig frei als derjenige der höheren Tiere. So ist der einzelne Mensch ein winziges Plasmakörnchen in der vergänglichen organischen Natur. |
Und wir verehren Die Unsterblichen Als wären sie Menschen, Täten im grossen, Was der Beste im kleinen Tut oder möchte. |
Der Glaube an die Unsterblichkeit … ist ein Dogma, welches mit den sichersten Erfahrungssätzen der modernen Naturwissenschaft in unlösbarem Widerspruch steht. |
Der edle Mensch Sei hilfreich und gut! Unermüdlich schaff er Das Nützliche, Rechte, Sei uns ein Vorbild Jener geahnten Wesen. |
Mit dieser unfassbaren Vorstellung kann die realistische Naturanschauung der Gegenwart absolut nichts anfangen. |
Anmerkung von Eduard von Mayer
Es soll hier durchaus nicht der Klang von Goethes Namen für den Klarismus beschlagnahmt werden. Selbst wenn Goethe wider den Klarismus gewesen wäre, bestände die innere Kraft, Freiheit und Fruchtbarkeit des Klarismus zurecht, denn er ist kein Autoritätsdogmatismus irgend einer Art, sondern persönlicher Entwicklungsglauben in strenger Klarheit. Freilich jedoch ist es für die kulturelle Aussicht der klaristischen Wirkung erfreulich, dass Goethes innere Linie auf den Klarismus zuläuft und nicht auf den Monismus, denn es ist zu hoffen, dass Goethes Werk manchem, der sonst im monistischen All-Nichts-Glauben ermattet stecken bliebe, zum Wegführer bis an die Schwelle des Klarismus werden wird. Darum eben ist es nötig, die Goethelüge der Monisten aufzudecken, damit das pompös angekündete «Jahrhundert des Monismus» das Schlussjahrhundert seiner uralten Verwirrungsherrschaft werde.