Elisarion > Das Sanctuarium > Tempel der Kunst > Wenn ich nicht ich wäre …

Wenn ich nicht ich wäre …

Plauderei mit einer schönen und klugen Frau
Von Elisarion

 

Wollten Sie wirklich lieber als Mann geboren sein? Eigentlich glaube ich es kaum – fast hätte ich «gnädige Frau» gesagt. Aber Sie wissen ja, die Gnade ist unter uns verpönt, noch dazu in einem Zeitalter wie dem unsrigen, das nicht einmal den Königen ihre altes Recht zuerkennen will. Sie meinen, das Recht des Weibes ist auch älter als das der Könige: Eva lebte vor Saul. Das ist schon wahr, aber wenn Sie sich auf die Le­gen­de berufen, so müssen Sie bedenken, dass Adam der König von Eden war und Eva ihm untertänig sein sollte.

Ach, diese alte Geschichten! Mehr als alt sind sie. Aber sind es nicht die Frauen, die vor allem an all die zähmenden Märchen der Theo- und Zoologen glauben?

Aber das ist ein zu weites Feld. Sie nannten mich mal einem Verächter der Frauen. Ist das nicht bös? Ja mehr – falsch? Ich spreche mit Ihnen und wende mich vor allem an die Frauen. Wissen Sie – warum? Weil satte Leute schlecht hören. Und der Mann ist satt, er hat soviel zu verdauen, dass es ihn stört, wenn man von neuen Idealen redet. Das scheinen ihm schlechte, missvergnügte Kerle! Wenn hohe Beamte Siesta halten, darf man nicht mit Bittschriften kommen. Das ist eine alte Regel. Und andere? – die sind so überhetzt von ihres Tages Arbeit, dass sie sich lieber einen Rausch trinken, um ihre Sklavenketten nicht klirren zu hören. Aber die Frauen haben jetzt einen redlichen Hunger und spitze Ohren, sie hören fast das Gras wachsen. Auch sind sie nicht so übermüdet, frisches Quellwasser schmeckt ihnen noch. Darum rede ich gerne mit den Frauen.

Und dann die Mütter? Das ist ein besonderes Kapitel. Ein heikles Kapitel. Ein grosses Kapitel. Sie sind gefährlich, die Mütter, besonders wenn sie Junge haben. Das hab ich schon als Kind an den Katzen gesehen. Es schockiert Sie, dass ich so von der Mutterliebe rede? Nicht wahr, die Mutterliebe ist die stär­kste? Und die höchste!, versichern Sie. Geduld! mir liegt nichts ferner, als die Wunder der Mutterliebe zu leugnen. Lesen Sie mich und Sie werden finden, dass ich eine Mutter zur Heiligen geweiht habe. Gewiss! Kennen Sie meine «Priesterin Mutter»?

«Nur nicht mehr Mutter werden!», sagte mir eine junge Frau, »warum sollen wir die Leiden und die Mühen der Liebe tragen?!» Noblesse oblige, Freundin. Hören Sie nur!

Es geht eine schöne Gestalt vorüber, eine die mir schön scheint, die tiefsten Tiefen meiner Seele aufwühlt und den Leib, ihr buntes Schneckenhaus. Ich jauchze ob der Freude, die sie mir erweckt, und ich klage um sie. Die schöne Gestalt ist vorüber, sie hat den Triumph davon und leidet nicht, aber in mir zittert ihre Wirkung nach. Es quillt und schwillt in mir, verwandelt meine Stunden in Unruh und Pein, bis eines Tages das Kind da ist, das schöne Gemälde, die ergreifende Dichtung, die bezaubernde Musik. Sehen Sie, auch wir sind Mütter und wir sind stolz darauf, obwohl der Erzeuger des Anlasses ver­schwun­den ist. Und nun harren wir der Wirkung unseres Kindes, wollen wir es wachsen sehen in der Gemeinde der Men­schen, Schmerzt erfasst uns, wenn das Kind zurückgestossen, wenn seine Regungen verkannt werden, wenn es im Munde des Menschen schlecht gemacht wird. Wenn sich aber ein Lieb­ha­ber findet, der das Kind hegt und pflegt, weil seine Anmut und sein Herz bezaubern, weil er seine Lust daran hat – dann bin ich glücklich, dann hoff ich für seine Zukunft. Denn die Liebe ist die beste Amme und Pflegerin, jene Liebe, die auch die Kräfte ihres Leibes gibt. Gold kann meine Kinde die Laufbahn ebnen, weise Lehren können es – vielleicht – fördern aber wirklich daheim für die Zukunft geborgen ist es nur, wo Fleisch und Blut von ihm begeistert sind. Ja die Mütter könnten noch von mir lernen.

Mutter möchte ich sein, wenn ich nicht ich wäre, eine Mutter die keine Regung ihrer Kinder missversteht, auch nicht die, die ihr fremd sind. Welche Wonne ward der Mutter zuteil in all ihren Leiden und Sorgen – wenn sie ein offenes Herz hat. Unsere Mütter müssen klug werden, dann gehört uns eine reiche Zukunft.

Eine reiche glückliche Stunde des Lebens, wo keine Em­pfin­dung unseres individuellen Wesens vergewaltigt wird, wiegt ein Jahr glänzender Stellung und komfortablen Daseins auf. O gewiss! Was blieb uns nicht alles zu wünschen übrig! Eine ewig ungestillte Sehnsucht ist unser Herz – wenn es überhaupt eines ist – in unseren Tagen. «Es ist leichter, Kinder zu gebären als ihnen eine Seele einzuhauchen», sagte Theognis, einer der tiefsten Dichter von Hellas. Sagen wir: die Seele zu Blüte zu bringen. Es ist wie der Hauch der Rose.

Es wachsen verschiedene Blumen auf dem Felde des Le­bens, alle haben sie die Sehnsucht sich zu erschliessen. För­dern wir sie in ihrer Blüte! Zwingen wir nicht die Lilie wie eine Rose zu duften, nicht die Rosen stolz gleich der Tulpe zu stehn. Der lila Flieder hat gewöhnlich vier Blätter, wenn er mehr hat, nennen wir es: Glück. Aber unsere Menschenkinder, die wollen wir zwingen und zwängen, dass sie am Spalier unserer Gesit­tung verkümmern. «Werdet wie die Blumen auf dem Felde!», war der Gedanken des Heilandes.

Und wir sind so stolz, dass wir im Schnellzuge fahren, durch die Lüfte fliegen, dass wir elektrisches Licht haben, Radiokonzert aus aller Welt und dass wir Kaviar aus Sowjet-Russland auf unsere Tafel bringen – aber die Rose unserer Seele, der Leib, verkümmert.

Ist Ihnen der Gedanke so fremd, dass der Leib eine Blume ist?! Was sind wir denn anders?! Verbleicht die Blume, so schwindet auch der Hauch ihrer Seele. Zu nichts wird darum nichts. Oh nein! Zu nichts wird nichts. Plumpe Einbildung unseres Verstandes! Weil wir es nicht fassten, soll er nicht da sein, weil wir es nicht sehen, noch riechen. Aber tausend Dinge gibt es, die unsere Sinne nicht merken, und sie sind doch da! – die unmittelbare «Wirklichkeit».

Wenn ich nicht ich wäre, wollte ich eine Blume sein, auf dem Felde, wo die Bienen und Falter Lebenslust aus meinen Kelche trinken. Und kommt der Mäher mit seiner Sense, so war es ein schönes Leben. Brechen mich Knaben und Mädchen zum Schmucke, so spende ich dann noch Freude. Ein Gärtner wollte ich sein und all die Pflanzen im Garten hegen, jedes nach sei­ner Art, und jede Knospe, jedes neue Blatt sollte mich freuen. Ein Gärtner der Menschenkinder – ja, nur das allein!

«Es missraten so Viele und entarten», – ist das Ihr Ein­wand? Das schreckt mich nicht. Die gleichförmigen Riesel­fel­der der Kartoffeln und Rüben waren nie meine Freude. Das ist die Kultur unserer Zeit. Nein, kleine, ganz kleine Felder und hin und wieder Pflanzen zwischen den Beeten. Gibt es es etwas Wunderbareres als Erziehung der Jugend? Eine Erziehung von Herz zu Herz! Die lässt den Verstand am mächtigsten reifen. Wo keine Liebe ist, ist auch keine Erziehung. Wir betreiben zu sehr das Geschäft der Wurstmacher. Die Herzen und Hirne der Jugend sind keine leeren Gedärme, die wir mit Zerhacktem voll stopfen können. Ein Lehrer, der die Stirn hatte, seiner Klassen­ju­gend ins Angesicht zu sagen: «es gibt für mich keine grössere Freude, als wenn ich einem von euch schaden kann, ihm das schlechteste Zeugnis gebe», ein solcher Lehrer – und ich kenne ihn – ward vom Staate geduldet und erhöht. Der Lehrer aber, der all seine Kräfte dem Wohle seiner Schüler widmete, der sie förderte, dass sie die Last kaum spürten, den sie liebten, dem sie zum Fortschritt willig folgten, ward entlassen, weil seine Liebe einmal stärker war, als die Gewohnheit. Wenn wir alle wie Faustens Famulus wären? Ja dann! – aber Mephisto hat Recht. «Das Beste was du wissen kannst – darfst du den Buben doch nicht sagen!»

Ja, wenn ich nicht ich wäre, so wollte ich ein Jahr abso­lu­ter Diktator sein, wie ein Gewitter über die Köpfe brausen, dass die Luft klar würde. Aber – wir wissen ja, dass auch die Abso­lu­tes­ten – Sklaven des Aberglaubens ihrer Völker sind. Freun­din, es ist arg, man möchte sich in einem Schosshund ver­wan­deln, ja recht gehätschelt werden. Siesta auf dem weichen Schoss einer Dame halten, Zuckerwerk naschen und sorglos den kommenden Tag erwarten. Glauben Sie mir, es ist viel besser, als auf den Höhen und in den Tiefen der Menschheit zu seufzen.

Sie finden diese Sprache meiner nicht würdig? Warum drängt das Leben sie mir auf? Ich finde das Leben meiner nicht würdig. Und was heisst überhaupt würdig? Wir alle dürsten nach dem Quell der Glückseligkeit. Wo sprudelt dieser Quell? In unsrer Seele – wenn wir und andere uns nicht diese Quelle zuschütten. Ja, Todesstrafe würde ich darauf setzen, wenn man die Lebensquellen seines Nächsten zugeschüttet. Das heisst ihn langsam verschmachten lassen. Alle diese Quellen- und Brun­nen­ver­gifter, die Missgünstigsten, die alles sprudelnde Leben ärgert, sind die feigsten aller Mörder, denn sie schleichen sich in unsere Heime unter allerhand Masken. Sie besudeln unsere eigenen Quellen. Statt dessen geben sie uns Ersatzgetränke, aber diese betäuben uns nur auf kurze Zeit. Dann erwacht doch unsere Sehnsucht nach dem eigenen Quell. Und wieder gibt man Gegengifte gegen die verdrängte Sehnsucht nach dem eignen Quell. Ich hörte mehr als ein Schrei der weiblichen Seele, die aus sich heraus wollte, weil sie litt. Hörten Sie auch den sehnsüchtigen Schrei der Jünglinge? jenen, die noch nicht mit all den kleinen Surrogaten unserer Kultur sich betäuben lernten … Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ja, es gibt jetzt viel zu hören.

Und wenn kein Schosshund, ja möchte ich ein Vogel sein, der von Haus zu Haus, von Fenster zu Fenster in die Stuben der Menschen fliegt und Ihnen das Lied singt:

 

Selig, wer immer lauter geblieben,

Wagte zu glauben, leiden und lieben!

Liebe, erlösende, Sehnsucht-geboren.

Wirrwelt erlebend,

Klarwelt erstrebend!

Selig, wer immer, Kind dieser Erden,

Wagte zu sein und wagte zu werden!

 

Das klingt wie die zitternde, jauchzende Musik des Südens, die ich in warmen Nächten hörte.

Die Liebe – der heilige Allflieger – wie wir ihn auch nen­nen mögen, der hehre Geist, zu dem alle Völker mit ver­schie­de­nen Irrtümern beten, bald als grausamer Tyrann angstvoll gelästert, bald als Versager verworfen und als Wahnbild ge­schmäht – und doch wieder als huldvoller Befreier ersehnt! …

Wie viel Heuchler darunter und allermeist wie viel arme Hascherl!

Gibt ihnen die Freude wieder! und den Glauben an eine göttliche Welt unsterblicher Freude – und der Tod verliert seine Stachel. Hier haben wir Fegefeuer oft auch Hölle – Wirrwelt; doch auch sonnige Strahlen – Morgenglühen der Klarwelt.

Meine «heilige Burg» dieser lichten Sehnsucht – das ist, was not tut. Und man wird nicht das Schwein im Garten hüten.

Ich kenne einen, der sich wie ein Puterhahn unserer mo­der­nen Grösse aufbläht. «Per bacco! das nenne ich was erreicht haben! Das soll mir einer dem Fortschritt leugnen! Im Diret­tissimo von Roma bis an die Nordküste von Norwegen! Der Cham­pag­ner perlt in meinem Glase, Fleisch liegt auf meinen Teller von einem Ochsen, der im Holland weidete, Kaviar von russischen Fischen, und indes ich tafle, lese ich zwischen Stockholm und Narvik, dass gestern in Belgrad eine Revolution war oder eine Flottenrevue vor Malta! per bacco! Und da sollen wir nicht stolz darauf sein?!» Dann seh ich abends Einen hin­aus­schleichen, um seine Sehnsucht in den Strassen schweifen zu lassen, verdrossen, nervös, scheu vor dem grossen Auge der Gesellschaft. Und das ist derselbe.

Das nennen wir unser Glück, unsere Errungenschaft! Vielen grinst der Hunger aus den Mienen, die an der reichen Tafel der guten Gesellschaft sitzen. Ach, Freundin, dieser Hunger ekelt mich. Ich wünschte, ich wäre allmächtig, einen Tag, um diesen Hunger der Menschheit zu stillen. Scheint Ihnen das so vermessen? Unsere Wünsche leihen uns Flügel. Sie lächeln skeptisch? Doch! doch! Die Fittiche der starken Sehnsucht habe mich schon einigen Zielen entgegen getragen. Wenn wir nur erst wir selbst sind! Ein jeder kann bei sich den Anfang machen, leidend dann wachsend. Die Freien voran. Die Mütter mit ihren Kindern sodann.

Ja, vor allem die Mütter. Wenn erst die Mütter fliegen lernen! Dann lernens die kleinen Vögel auch. Und dann wird es ein grosser Flug ins gelobte Land, wo alle Früchte unsrer Lebensbäume reifen.

Wie oft habe ich den Schwarm der Vögel beneidet, wenn es Herbst war im Norden, wenn die rauen Winde die letzte Früch­te und verblutenden Blätter von den Bäumen strichen. Da sammelte sich der Zug, die Stärkeren voran, an der Spitze der Kühnste, über den toten Feldern übte sich die Schar, und endlich schwirrt es wie ein grosser lebendiger Pfeil weiter und weiter durch die Lüfte. Wäre ich nicht ich, ich wollte ein Kranich sein, den Schwarm zum grossen Fluge zu sammeln.

Ich habe den alten erratischen Steinblock beneidet, der am Eingange unseres Waldes stand, aus fernen grauen Tagen, da wandernde Eisschollen ihn dort niedersetzten. Wie ein alter König ragte er da, würdig und still, aus dem hohen Gebüsche der Erlen. Er erliess den Knaben auf seine Schultern steigen, dass er über die Wogen den Felder und Wälder hinaussah. Er plauderte viel zu mir und ich habe ihn beneidet, wenn ich traurig war. Er war so ruhig geworden und freute sich der grünenden Jugend umher.

Ja, die Natur ist nicht tot.

Da spricht ein Dichter! Nicht wahr, so meinen Sie? Ein Phantast! Man liest es gern, doch man zuckt die Achseln, wenn man es ernst nehmen soll. Und doch ist die religiöse Sprache der Natur, nämlich die Sprache ihrer Eigenwesen, eine heilige-ernste Sprache. O kindliche Einfalt des Kulturmenschen, der keine Sprache anerkennt, die nicht eine Grammatik hat und an keiner Universität gelehrt wird. Wer meine Sprache nicht spricht, kann sich mit mir nicht verständigen, wenn ich die seine nicht kenne. Käme ein Regiment von würdigen Vätern und spräche Chinesisch – es bliebe mir immer chinesisch! Ja, nicht einmal Alle, die Deutsch reden, reden deshalb dieselbe Sprache, die Seelen haben ihre Dialekte. Wer einmal das erkannt hat, wundert sich nicht mehr. Wer aber sich nicht selbst versteht, dem ist schwer zu helfen.

Ich wünschte ich wäre ein Radio und könnte in aller Welt zu allen Herzen sprechen.

Sie sehen, liebe Freundin, es gibt abertausend Wünsche. Und welches wäre Ihr Wunsch?

Immer jung und schön zu bleiben? Aber Sie selbst! Sie denken, wie jener Engländer, der da sagte: wenn ich nicht Engländer wäre, so wünschte ich Engländer zu sein.

Ja, ja, Sie sind nicht bloss jung schön, sie sind auch gescheit …

Schilfkönigin

Die Schönheit, Schweizer Ausgabe 1929, Bericht über das Elisarion, Bericht über das Locarnese.

Die Schönheit, Nummer 11, 1929.

Illustrierte Zeitschrift über die Freikörperkultur. Mit grossem, mehrseitigem Bericht von Eduard von Mayer über das Elisarion, Gedichten von Elisarion und Eduard von Mayer, einer Plauderei mit einer «schönen und klugen Frau» über Wenn ich nicht ich wäre von Elisarion.

Weiter auch Kurzmeldungen über touristische Sehens­würdigkeiten und Sanatorien im Locarnese und in Cademario, sowie über Ascona und den Monte Verità.

Die Zeitschrift Schönheit