Eutheismus und Eudemokratie

von Dr. Eduard von Mayer

Motto: Willst du die Welt zur Gleichheit umgestalten,
  Zum golden Heim des Paradieses weihen.
  So schaffe Geister die einander gleichen
  Und eine sie zu deinen Götterreichen.

Was den Weltkrieg vor allen anderen blutigen Auseinander­set­zun­gen der Völker von denen die Geschichte in ihrem traurigen Heldenbuche berichtet, wahrhaft kennzeichnet, ist nicht sein Umfang an Menschenaufwand, Materialverschwendung, Anlei­heziffern, Hass und Lüge: sondern dass er tatsächlich die Mit­ter­nachtslinie zweier Kulturzeiten bedeutet. Noch ist es Nacht; ja der Bolschewismus, in dem sich die Schatten der Kultur­dämmerung am finstersten breit machen, scheint vom neuen Tageslichte weiter entfernt als die Welt, die am schreck­lichen 1. August 1914 die Sonne untergehen sah. Dennoch gehen wir einem neuen Kulturtage entgegen: allzu sehr ist die Mensch­heit aufgewühlt, als dass der alte Geist wieder herr­schen sollte, der ja im Bolschewismus, seinem Gespenste, erst recht auf Selbstvernichtung hinarbeitet, auf die Selbstaufhebung des Machtgedankens. Dieses bolschewistische Satyrspiel des Im­pe­ria­lismus wird auch darin heilsam sein, das es einen Schrecken von den ungezügelten Barbarei der Masse einflösste und den Blick wieder auf Höhenwerte hinlenkt, die einstens die alte Kultur schufen; nur werden es neue Werte und neue Höhen sein. Der Tiefstand muss und wird überwunden werden.

Gewiss lebte in der Menschheit immer das anspornende Gefühl, dass die Kultur einen zielbewussten Aufstieg über die verworrene Rohnatur hinaus bedeutete, deren sehnsüchtige Anläufe es verwirklichen, deren ringende Kräfte es befreien hiess. Daneben war der Mensch doch so abhängig von den Stoffe und Energien dieser Natur, deren unruhigstes Element er ist, und war so gepeinigt durch alle Notdürfe seines Daseins von der Geburt bis zum Tode, und musste aufatmen über jeden Glückszufall einer guten Ernte oder mineralischer Boden­schät­ze, dass er immer wieder geneigt war, sich demütig als blossen Kostgänger der Natur zu betrachten, und fühlte er lebhaft, so verpersönlichte er die Mutter Natur zum Gott-Vater der Welt, dem er danken konnte, den er bitten durfte, den er vor allem aber fürchten sollte, den allmächtigen Oberherr der Heer­scharen. Es war die Welt unter dem Gesichtswinkel des Hun­gers und der (hungerstillenden) Macht geschaut, deren see­li­scher Einfluss den menschlichen Geist von einem Irrgang in den andern setzte. Dass bei dieser Gleichsetzung von Gott und Natur, bei dieser Alleinheit und Alleinerleiheit des Universums bei der Naturgöttlichkeit und Gottnaturheit das eigentliche, ewige und befreiende Wesen Gottes verblasste und alles Stre­ben und Sehnen des Menschen eigentlich ein mühseliges und überflüssiges Spiel der Selbstquälerei wurde, entging dem viel beschäftigten Arbeitsgeiste des Menschen, der immer neue Lasten zur Bewältigung auftürmte: denn nach der geltenden Weltan­schauung, möchte sie gott­gläubig oder gottes­leug­ne­risch sein, war der Mensch ein blossen Rädchen in der Welt­maschinerie, dessen Aufgabe sich in der Leistung von Arbeit erschöpfte. Was Wunder, dass sich diese Welt­an­schau­ung schliesslich in dem wahnwitzigen Wettbewerbe der Industrien, Handels- und Arbeiterorganisationen mit ihrer schweren Waffenrüstung austobte; und als die Belastung den Höhepunkt erreicht hatte, musste der ganze unmenschliche Bau der baren Überschusswirtschaft zusammenbrechen, die ebenso sehr kapitalistisch wie proletarisch war, nämlich die reine Ver­eh­rung der Zahl, dieser seelenlosen Nutzgrösse. Der Weltkrieg und der Bolschewismus sind ein gewaltiges Kulturgewitter, das aus der blindgeschäftigen Naturvergötzung geboren werden musste.

Es war halb eine Kindes-, halb eine Sklavenanschauung, aus Sentimentalität und Brutalität gemischt. Nun aber ist die Zeit des Glaubens aufrechter und mündiger Menschen nahe, neuen Glaubens.

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Mir ist es vergönnt gewesen, den neuen Glauben des Kla­ris­mus, die Klare Kunde in ihrem intuitiven Werden zu verfolgen und mich ihr zur Verfügung zu stellen: hier ist das Positive gegeben, was der Zahlen- und Machtwahn nicht aufbringen und auch meine, schärfste Kritik gegen ihn nicht ersetzen konnte. Ich habe – leider! – den Niedergang zum Bol­sche­wis­mus, als den unvermeidlichen Fluch der entgeisteten, bloss technischen Kultur längst vorausbewiesen, aber umsonst; auch fehlte mir noch selbst die Einsicht, woraus die zertrümmerte Welt neu zu erbauen. Der baltische Denker und Künstler Eli­sa­rion (Elisàr von Kupffer) war es, der mir seinen Gedanken der Eigenenwesenheit nahebrachte: als Eigenwesen, und nicht Bruchsplitter des Universums oder Geschöpfe Gottes, stehen die Menschen Dinge der Welt da, tätige Eigenwesen, die, von Sehnsucht geformt, ein unermessliches Drama erleben, ei­nan­der hemmen und hetzen, einander aber auch fördern und beschwingen. Und Elisarion erschaute diese Eigenenwesenheit im engsten innern Zusammenhange mit der grossen Zwei­tei­lung der Welt, die er als Wirrwelt und als Klarwelt, als die Städte des Ringens, Leidendes, Strebens hienieden in der Mas­sen­schwere und als die Stätte der Verklärung, der Har­mo­nie, der Freiheit jenseits der Schwere begriff: Als der Reich der Natur und, ihr gegenüber, das Reich Gottes. Was Zarathustra und nach ihm Mani ausgesprochen hatten, was aber, weil sie die Eigenwesenheit nicht erfassten, noch unvollkommen geblieben war, ist in Elisarions Umweltbild erfüllt: der grund­sätz­liche Dualismus zweier ewiger Prinzipien, die Ewigkeit Gottes und des Chaos, das aber kein böses Prinzip ist, sonder nur der Sammelort all des Leidens, dem die ringenden Eigen­we­sen unterliegen, solange sie nicht durch Gott den Urbefreier der Seelen, von dem Naturbanne der Vergänglichkeit, Schwere und Täuschung erlöst wurden. Diese erhabene, lichte Welt­an­schau­ung ist im «Neuen Fluge» (1911) und im «Heiligen Früh­ling» (1913) niedergelegt, und ich habe im zweiten Teil der «Zukunft der Natur» (die Verjüngung des Lebens) die weiteren Folgerungen aus Elisarions Einsicht gezogen.

Denn eben es ist nicht ein wohl gezimmertes Wolkenkuck­ucks­heim was Elisarion etwa für müssige Stunden ersann: sondern es ist ein Lebensplan weitesten Ausmasses, die ernste Grund­lage einer neuen sozialen Gesamtverfassung, die zwin­gend daraus fliesst. Der Eutheismus, wie Elisarion und Klar­glauben auch bezeichnete, der Glaube an Gott den Guten, der weder launischer Rächer noch überweltlicher Tyrann ist, wohl aber die Menschen, aufrecht und frei, zu seinen Mit­ar­bei­tern will und weiht, musste stracks zur Eudemokratie führen. Und im Zeichen der eutheistisch-klaristischen Eudemo­kratie wird sich die Menschlichkeit erneuen.

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Ich bitte zu erwägen: Ist der Mensch ein blosser Atomenball, durch den die Weltenergie braust— welche innere Möglichkeit selbständiger Lebenseinstellung ist ihm da gegeben? Und ist er ein Geschöpf des Allmächtigen, der alles lenkt, und dem gegen­über sein Wille gleich null ist – welches Recht hätte der Mensch, die byzantinische Menschheitspyramide abzulehnen, die in geistiger und politischer Autokratie gipfelt? Hat die Naturwissenschaft des Monismus recht, so ist technisch jeder Anspruch der Menschen an Eigengestaltung des Lebens ein Unding, und hat der alte Furchtglaube an Gott recht, so ist die eigene Lebensverwaltung moraljuridisch unzulässig. Und dann herrscht entweder der weisse Zar über die gläubig gehorsamen Gottesgeschöpfe oder der rote Zar des Bolschewismus über die stumpf betriebsamen Naturgeschöpfe. Für Freiheit, Mündig­keit, Selbstverantwortung ist da kein Platz. Es war Schick­sals­ent­wicklung, die vom Sinaigedanken über Spinoza und Büchner zum maschinengewaltigen Imperialismus führte, der sich im Marxismus selbst ermordet (– hoffe ich).

Wer mit der eutheistischen Trennung von Gott und Natur, mit der klaristischen Erfassung des Weltendramas aus wahrer Eigenwesenheit ist nicht bloss das Recht des Einzelnen gege­ben, sein Leben mündig zu gestalten, sondern sein Daseinssinn darin gesetzt, dass er als Mitarbeiter Gottes selbstverant­wort­lich und frei, im Bunde Gleichstrebender, die Rohnatur meis­tere und ein jeder, als wahrer Selbstmittelpunkt und Eigenkeim des Lebens, von sich aus das Leben mehre: hier und nur hier ist die Begründung, die tiefste und einzige, des Gedankens der Freiheit, der die Demokratie gross gemacht hat. Sie wird sich aber, um von der Massenherrschaft der Unei­ge­nen abzurücken, eben Eudemokratie zu nennen haben: Selbstverwaltung des Gesamtvolkes durch die Besten, Tüchtigsten, erprobt Wert­voll­sten aus dem ganzen Volke, weder erblich noch in ver­ant­wor­tungs­los geheimer Wahl dazu bestimmt, sondern erlesen durch das noch erst zu erpflegende, in Erziehung zu gewinnende Gefühl für Werte, Höherwerte, Qualitäten, die an die Stelle der so bequemen, proletarisch- oder imperialistisch-hörigen Quan­titäten-Bewunderung zu treten hat, Eudemokratie, wahre De­mo­kratie, setzt noch eine eudemokratisch-klaristische Erzieh­ung voraus.

Ja, wahre Erziehung, die mehr als Drill sein will: Eupä­da­go­gik, kann und wird erst im Geiste des Klarismus geschehen, und wer bisher erzieherisch wirkte, tat es, von eben dieser Geistes­ah­nung beseelt, wie es auch unter allen Staats-Ver­fas­sun­gen wahrhaft humane Beamten gegeben hat; aber es han­delt sich um die endliche Erkenntnis eines Grundprinzips. War der Mensch nur ein Geschöpf Gottes oder eine von der Natur ge­schaf­fene, etwas bewusste Lebensmaschine, nur so ein Pro­dukt seiner Eltern, so fehlte der seelische Hebelpunkt – er war und blieb ein verantwortungsloses Ding, das logisch weder erzogen werden kann, noch erzogen zu werden brauchte; Eigen­wesen aber, nur sie, die selbst ins Leben treten und selbst für sich haften, können und müssen reifen, aus Nacht zum Lichte, aus der Wirrwelt zur Klarwelt. Nur sie können erzogen werden, aus Kindern zu tüchtigen Männern und Frauen, die das Leben voll Pflichtgefühl verwalten. So mündet die Erzieh­ung in die bür­ger­liche Kulturarbeit, die sonst in der Lust hängt. Da kann erst in vertiefter Weise das seltsam-scharf­si­chtige Urteil Jean Jacques Rousseaus wahr werden, der im «Contrat social» die Existenz wahrer Demokratie an das Dasein eines Sklaven­stan­des knüpfte, wie Athen es besessen: nein, nicht Sklaven soll oder darf es geben, wohl aber freie, freudige Unterordnung unter den erkannten Höherwert. Nur die Fernsicht eines Aufstieges der Menschenseele aus dem ewigen Labyrinthe der Wirrwelt zur Klarwelt Gottes kann die­ses Gefühl für Werte geben und die jedem angeborene Sehn­sucht in eine positive Wegweisung umsetzen; nur sie schafft ein wahres Gemein­leben, vielgestaltig und mannigfaltig in seelischen Rhythmen und Schöpfungen.

Es ist eine ungeheure Kulturaufgabe, zu der die Klare Kunde Elisarions die Menschheit aufruft.

Aber ich wiederhole: das geschieht nicht in abstrakter Philo­so­phie und erst recht nicht im Utopismus. Mit der Ein­sicht in die Ewigkeit des Chaos fällt jeder Wahn eines Ideal­staates hin, in dessen Namen Wohlfahrtsausschüsse so schreck­lich wüteten; wohl aber ist für jeden neben der vor­neh­men Aufgabe, seines Lebens-Selbstgestalter zu sein, die frohe Aussicht gesetzt, in der tätigen Vollerfüllung seiner Kraft dem Weg der endgültigen Befreiung aus dem Lebensstande der Erde zu betreten. Und nichts, was ihn beglückt und erhebt, ist Teu­fels­werk, sondern ein tastender Schritt zu Gott, der nur Ge­walt­tat und Lüge von sich weist, in Schönheit und Liebe und Be­gei­ste­rung und Opfer­mut aber die Seelen zu sich zieht.

Mit den im tätigen Leben, seinen Gefühlen und Be­stre­bun­gen, ist der Platz der eudemokratischen Mitarbeiters Gottes. Und darum erweitert sich die klaristische Eudemokratie die zu einer neuen sozialen Lebensverfassung. Gerade um die Eigen­leis­tung, die Eigenverantwortung, das Eigenwerk, das Eigen­leben zu schützen und zu gewährleisten, die der Marxismus den müden Menschenatomen so gerne abnehmen will, da sie dann nur noch soziale Maschinen sein werden – gerade um die seelenmörderische Maschinisierung, die geistige Auspowerung zu beseitigen, die trotz aller Versprechungen des Marxismus sich bei seiner Herrschaft steigern würden – gerade um die Mehrung und Lebensbereicherung des seelischen zu wahren, fordert die Eudemokratie, dass sich jeder wie ein Zellkern des Leibes, auf Posten und Diensten der gemeinsamen Lebens­not­durft stelle und dass der weit verzweigte Betrieb des öf­fent­lichen Verkehrs von allen freiwillig-verpflichteten Lebens­dienst verwaltet werde, von einem eudemokratischen tech­ni­schen Bürgerbunde, der jedem proletarischen Umsturz, all die proletarische Lähmung und Verwesung des Gemeinlebens beseitigen würde. Das würde erst wahrhafte Selbstverwaltung eudemokratische Souveränität sein und die freie Entfaltung jeder völkischen Lebensgruppe ganz anders sichern und ver­tie­fen, als ein blosses Wahl- und Versammlungsrecht tun kann, das von unverantwortlichen Prätorianern des Bol­sche­wismus jederzeit vernichtet werden kann, indem sie das Gemeinleben blockieren.

Technisch, ethisch, pädagogisch, politisch – in jeden Ge­bie­te der kulturellen Betätigung der reifen Menschen – weist der eudemokratische Klarismus Elisarions einfache und gross­zü­gige Wege; und früher oder später – und spätestens nach der bolschewistischen Weltzertrümmerung – wird der Klarismus mit seinen Forderungen und Verleihungen das werden, was sich von ihm vor Jahren (im «Herrn von Mensch») sagte: die Magna Charta Universi et Humanitatis, der Freibrief der zur Mündigkeit und Erlösung berufenen Menschheit in einer Welt der Eigenwesen und der Lebensmehrung. Ein neues Glücks- und Lebensgefühl wird aus dieser mündigen Tätigkeit in die Mensch­heit strömen; mir ist vergönnt gewesen, es zuerst zu erleben, anders ist es auf dem Schlachtfeldern, bei der Pio­nier­arbeit in der Wildnis, bei der Arbeitsfront des Alltag zum Segen geworden. Es wird das Lebensgefühl der neuen, eudemo­kra­ti­schen Kulturmenschheit sein, die aus dieser Freiheit und seelisch schön Weiträumlichkeit heraus dann auch dem Völker­bund entgegen reifen wir. Auch der wahre Völkerbund sich selbstbestimmender Lebensgruppen wird eudemokratisch und klaristisch sein – oder er wird nicht sein. Noch ist er erst eine Aufgabe, und echt und lebendig an ihm ist das Sehnen der Menschheit, dem blutigen Wirrwarr zu entkommen, der ein echtes Spiegelbild des grossen Weltenwirrwarr ist.

 

Wir alle harren in der Stadt des Lebens.

In dunklen ihrer Gassen …

Wer wird uns endlich in das Freie lassen?

Da draussen liegt das sonnige Gelände,

Da lacht die Welt uns Allen.

Wo ist der Mut, der sich zum Glücke fände?

Auf! Auf! Last uns ins Freie wallen!

Kein Pförtner hilft am Tor. Nein, offen

Steht es allein dem Kampfes Mutigen hoffen.

Elisàr von Kuppfer, «An Edens Pforten»

Aber Mut und Hoffnung sind nur Wirkungen Gottes in der strebenden Eigenseele: nur in Eigenwesen bäumten sich Schmerz und Empörung gegen Leid und Unrecht auf, wirken Sehnsucht und Begeisterung an dem grossen Werke der Befreiung.

 

Sie stürzt noch eine, die dunkle Zelle,

Und eine neue Sintflutwelle

Spült fort den Trug der Heiligkeit,

Sie kommt, die neue Zeit!