Die Seele Tizians, zur Psychologie der Renaissance, Kapitel V
Tizians erste Portäts sind Stiferbildnisse gewesen, er in seiner Laufbahn hat die Entwicklung der Porträtmalerei aus der mittelalterlichen Sitte, die Züge des frommes Bestellers mit zu verewigen, wiederholt.
Zuerst war es der Bischof von Paphos, Jacopo Pesaro, zusammen mit Papst Alexander VI. (etwa 1502); noch einmal erscheinen er und die ganze Familie Pesaro auf ihrem herrlichen Madonnenbilde. Auf der «Verkündigung» in Treviso ist der Stifter in den Hintergrund gedrängt, und bei der «Auferstehung» in Brescia umhüllt ihn Dunkel — zum Glück; die «Heilige Familie» in Dresden (1550) wird durch die Gegenwart des profanen, obschon anbetenden Ehepaares gestört, so dass die unzufriedene Miene Josephs wirklich begreiflich ist; die «Taufe Christi» in Rom — die Tizian wohl zugeschrieben wird — wird durch die Neugier des spazierenden Stifters Giovanni Ram beinah zu einer «Überraschung beim Bade». Doch in der «Dreifaltigkeit» (1554) sind die Gestalten Karls V. und Philipps II. mit innerem Sinn in die Reihen der anbetenden Himmelsscharen gewiesen. Als Gattung behält das Stifterbild das Unkünstlerische fast immer, aus einer naiven Unnaivität, naiv dank der unbefangenen Vermischung von Mythos und Wirklichkeit und daher unnaiv für den späten Beschauer. Dennoch schulden wir ihr Dank, weil sie die kirchliche Kunst der Malerei dem weltlichen Leben erobert hat. Natürlich vermochte die ungelenke Hand zunächst nur in harten Umrissen zu zeichnen, die Köpfe sind zuerst wie geschnitzt, und das feinere, leichtbewegliche Leben der Züge bleibt unentdeckt. Wie sich da Stil und Zeit doch zusammenfinden, wie die arme Form dem dürren Geist getreu ist, beweist ein Bild des Malers von Murano, Alvise Vivarini, der eine alte Äbtissin in der Gestalt der heiligen Klara malt (Venedig, Akademie), und die harten Farben und Linien sind hier zu packender Verkörperung der verknöcherten, bigotten Strenge einer Stiftsdame geworden. So glücken auch Mantegna die gemütslosen Kondottiereköpfe der Gonzaga, und der Pinsel Bellinis scheint keiner Aufgabe so gewachsen wie schlicht-heiteren Kindergesichtern, indes Antonello da Messina sinnlich-sinnig jugendkräftigen Zügen am gerechtesten wird. Giorgione sucht oder findet in den Antlitzen immer die Stimmung seiner eignen Seele, die hemmende leise Furcht vor den geheimsten Tiefen seines Wesens; Tizian endlich, ein Seefahrer der Seele, wird um so grösser im Porträt, je mehr er reift und sich im täglichen Kleinkriege seiner Empfindungen innerlich selbst erlebt.
Eigentümlich ist es, dass Tizian, dem Meister des Porträts, dennoch die peinliche, genaue Ähnlichkeit nicht geglückt zu sein scheint, denn dasselbe Urbild — wie das der sogenannten «Bella» oder seine Tochter Lavinia — ist bei jeder Wiederholung anders geraten, nicht bloss im Mienenspiel, das natürlich immerfort wechselt, sondern in Einzelheiten des Gesichtsbaues, in Augenbrauen, Lippen, Nase, Kopfform. Und doch ist das Wesen so sprechend lebendig und so einheitlich von Bild zu Bild, dass die höhere Ähnlichkeit unbezweifelbar ist. In der Tat stehen denn seine Porträts an der Grenzlinie historischer Wirklichkeit und überzeitlicher Wahrheit; er malt nicht Personen, den Bekannten erkennbar, steckbrieflich genau, sondern Persönlichkeiten, denen man ihre Lebensmacht anfühlt, so zeitlos, dass sie uns nach Jahrhunderten anmuten, als wären wir ihnen schon begegnet: etwas vom Ewigkeitsrealismus der Mythen pulst in ihnen. Und das ist um so mehr der Fall, je mehr das Urbild seiner geistigen Höhe irgendwie nahekommt; kein Zufall, sondern Wesensnotwendigkeit ist es, dass ihm, dem Künstler, die Fürsten, Staatsmänner und Krieger am besten liegen und dass die Krone unter seinen Bildnissen den mächtigsten Kronenträger seiner Zeit darstellt, Karl V.: sie «beide standen auf des Lebens Höhn» — das war ihre Verwandtschaft. Die Anekdote, Kaiser Karl habe in Augsburg, als Tizian beim Malen einen Pinsel hatte fallen lassen, diesen mit schmeichelhaften Worten aufgehoben, ist schwerlich wahr, aber sie spricht davon, in welchem Licht die Zeitgenossen das Verhältnis des Kaisers und des Künstlers sahen; und Tizian wird es selbst nicht anders gefühlt haben, auch wenn er in seinen Briefen an den Kaiser diesem «als untertänigster Diener die Hand küsst». Zunächst will diese Höflichkeitsformel in einem Bittbriefe nicht viel besagen, «küsst» doch umgekehrt der spanische Geschäftsträger Tizian «die Hand» — brieflich; und jedenfalls war sie den wahren Verhältnissen noch weit angemessener, als wenn heute ein Mann von Geist oder Würde jedes beliebige Femininum «gnädig» nennt: denn äusserlich schied sie eine unendliche Kluft. Der eine war der römische Kaiser, das Haupt der abendländischen Welt, der andre trotz dem ihm schon 1533 vom Kaiser selbst verliehenen Pfalzgrafenrang und der Ritterwürde doch nur ein kleiner Privatmann — auch wenn von ihm in den Berichten der Zeit als dem «ersten Manne der Christenheit» gesprochen wird.
Alle solche Auszeichnungen und Erfolge hätten auch einen andern stolz gemacht, bei Tizian bedurfte es nicht der äusserlichen Eichung, um sein Selbstgefühl zu wecken. Er besass es längst, nicht zur Schaustellung, sondern als innerstes Bewusstsein seines Wesens, dessen Eigenheit eben sein Wert war: das ruhig und frei gehaltene Haupt seiner Selbstbildnisse, das dem Leben ebenbürtig ins Auge sieht, ruft am meisten diesen Eindruck hervor. Eine geringe Verkürzung, eine Senkung des Kopfes, eine Hebung des Blickes, und sofort wäre das echte Selbstgefühl gedrückt oder überspannt oder mystisch ausgetauscht. Mit Linien und Flächen, in geometrischen Formen wirkt der bildende Künstler, und ein Stümper wäre ein Meister, wenn er Meissel oder Pinsel hie und da um Haaresbreite anders geführt hätte. Aber es heisst eben zuvor diesen Wert der Haaresbreite gefühlt haben, es heisst selbst dieser um Bruchteile sich verändernden Empfindungen und Bewegungen fähig sein, und auch fällig sein, aus dem Chaos des Milieus, des äusseren Geschehens das eigne tiefe Selbst, die eigne grosse Innenmacht in jedem Augenblicke frei herauszuheben. Nur wer die Klarheit des eignen Himmels kennt, erkennt auch die wehenden, flüchtigen Wolkenzüge.
Tizian besass dieses grosse Selbstgefühl, deswegen konnte er es auch in denen finden und wiedergeben, die er zu malen hatte; Tizian war aber eben auch ein Psycholog am eignen Leibe, er kannte die Brüche und Widersprüche des Seelenlebens, er wusste, was für Nebelgebilde sich zitternd über die tiefen Ströme des Charakters erheben können. Deswegen vermochte er auch mit ruhigem Blick und sicherem Instinkt in den Menschen, die ihm vor den Pinsel kamen, zu sichten und das zu erraten, was in ihnen unbewusst lag, ihm aber als das Wesen entgegenleuchtete. Aus dem rohen Erze der Person schied er das Metall der Persönlichkeit und setzte dann so viel der äusseren Kräfte zu, dass wieder die ursprüngliche Gestalt, aber geläutert, ich möchte sagen: chemisch rein, zum Vorschein kam.
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Von den zahlreichen Bildnissen von Tizians Hand sind eigentlich wenige auf uns gekommen; nicht einmal die Fürstenporträts sind alle erhalten, die vieler Privatpersonen sind erst recht durch Unachtsamkeit zugrunde gegangen, und dass ihrer nicht wenige waren, wissen wir aus den Berichten, wenn auch nur ein geringer Teil der Namen überliefert ist. Hatte sich doch Tizian mit Zähigkeit zum Erben der Maklerpfründe Giovanni Bellinis und damit zum verpflichteten Staatsporträtisten durchzupetitionieren gewusst (1516); wurde er doch, seit die Herzoge von Ferrara, Urbino und Mantua ihn schätzten, Mode, und Pietro Aretinos Empfehlungen trugen nicht weniger als Karls V. Gönnerschaft dazu bei, ihn geradezu zum guten Ton zu machen. Venezianische und festländische Edelleute, Soldaten, Diplomaten sollten oder wollten von ihm ein Bild besitzen, ob ihr eignes, ob das andrer Personen; selbst Monsignor Giovanni della Casa, der päpstliche Legat, der witzige Verfasser des «Capitolo sul Forno», wünschte das Porträt seines Herzensverhältnisses, diesmal einer jungen Dame aus Venedig.
Wo Tizian auch war, musste er daran, ob daheim oder in Rom, in einer kleinen Fürstenresidenz oder am Hoflager des Kaisers zu Bologna, Innsbruck, Augsburg; dass er da nicht immer bei Laune war, ist begreiflich, und manches Bild, das doch von ihm ist, könnte inhaltlich ein Geringerer gemalt haben, so wenig hat der Inhalt selbst zu Tizian gesprochen — aber auch da verrät sich noch der Meister der Charakteristik, die jedem gerecht wird.
Bei der eignen nervösen Natur ist es kein Wunder, dass Tizian für das seelische Spiel der Hand ein tiefes Verständnis und darstellerisch eine Vorliebe hat: er lässt gerne die Finger das Gewand raffen oder an einem Buch, einem Gerät, einer Waffe den Widerstand finden, an dem die vornehm gedämpfte Lebhaftigkeit sich im stillen schadlos halten kann. Wenn dieser Gegenstand dann natürlich zur äusseren Schilderung dient, so ist das nicht ein billiges Hilfsmittel der Verlegenheit, sondern dem äusseren Dasein der Person entlehnt, also ihr zugehörig. So stimmt das halb zugeklappte Buch sehr wohl zum versonnenen Blicke von Jacopo Sannazaro (1518 bis 1520), und ebenso zu dem klugen Gelehrtenkopfe des angeblichen Andreas Vesalius, des Anatomen (1550), oder zu den pedantischen Gesichtszügen des Geschichtschreibers Varchi (1550), während der liebenswürdige Prälat Beccadelli einen Brief hat sinken lassen (1552) und die Kaiserin Isabella ein Gebetbuch hält (1544). Die junge Frau im Louvre, auf dem reizvoll intimen Bilde (1520), strählt mit der Rechten ihr schönes Haar, die Linke greift nach der Salbenschale; die «Bella» (1527) spielt mit einer schweren kostbaren Quaste, indes ihre linke Hand sich in zwangloser Leichtigkeit hält und die selbstsichere Haltung der vornehmen Dame noch hebt, die trotz lebhafter Empfindungen so kühl zu blicken weiss, wie ihrer Stellung entspricht — sollte es auch nicht die Herzogin Eleonore Gonzaga von Urbino sein, sondern eine Geliebte des Herzogs, die er nach demselben Geschmack wie seine Gattin sich ausgesucht. Lavinia, Tizians Tochter, hält eine schwerbeladene Fruchtschale graziös empor (1550), ein reizendes, warmherziges Mädel, oder sie hält ein Fächerfähnchen mit der Würde der jungen Frau (1555), in der noch das schalkhafte Mädchen steckt, oder sie nestelt an ihrer Perlenschnur, eine wohlhabende Dame (1565). Das lässig vornehme Wesen des Kavaliers wird fein angedeutet, wenn er mit seinem Falken spielt (sogenannter Giorgio Cornaro, 1522 bis 1527), oder das zutulich springende Hündchen streichelt (Markgraf Federico von Mantua, 1523), oder wie Karl V. die grosse Dogge am Halsband hält (1523). Ebenso sind die Handschuhe nicht Zutat, sondern Stimmungsmittel: eine gewisse selbstbewusste Nonchalance, die ebenso wohl zu dem verschlossenen strengen Herrscher (Karl V., München, 1548) passt, wie zu dem in sich verlorenen — oder in sich gefundenen —Wesen des jungen Engländers (Pitti-Galerie, 1548), und auch zum gutgespielten Gleichmut, mit dem der Mann «mit dem Handschuh» (Louvre, 1518—20) einer Unannehmlichkeit entgegensieht.
Die Hand an der Waffe im Bilde des Markgrafen von Mantua, stramm und ruhig, sagt, dass dieser Mann nicht bloss elegant und leutselig ist, sondern auch energisch und zielbewusst; noch ziel- und mittelbewusster erscheint Alfons von Ferrara, der sich leicht auf eine Kanone stützt, aber wieviel Falschheit kommt im unschuldigen Spiel der Finger auf dem Schwert zum Ausdruck! (1537, eine Kopie). Im Griff, mit dem der Kardinal Ippolito de Medici das Schwert gepackt hat, liegt so viel Ingrimm, wie in dem Feldherrnstabe Herrschsucht (1533), die sich im gleichen Abzeichen der Macht beim Herzog von Urbino, Francesco Maria della Rovere (1537) nicht dermassen zeigt: der Arm, beim kriegerischen Muss-Kardinal angespannt, ein heftiger Wille, ist hier im Gefühl des Machtbesitzes weit ruhiger, abwartender gebogen. Auch unter seinem Panzer steckt eine bei aller Entschlossenheit ruhigere Natur, während die Rüstung von Pier Luigi Farnese (1546) etwas ehrgeizig hastig Knochiges verrät, wie die Giovannis de Medici die Unbeugsamkeit des «schwarzen Banden»-Führers (1546); Philipps II. prächtiger Harnisch hingegen schützt eine misstrauische Seele, die jeden Augenblick bereit ist, sich hinter einem Visier zu verbergen und das Schwert zu ziehen, nicht zum Angriff, sondern zur Abwehr (1550—53). Nicht die toten Dinge, aber ihr Einfluss auf die Seele ihres Besitzers, ihr Gebrauch wird dem mit zuckenden Fühlfäden begabten Tizian zu einer Geheimurkunde, die er entziffert und verliest. Derselbe Gegenstand wird ein andrer, wenn ein andrer Mensch sich seiner bedient, wenn er von eines andern Menschen Seele durch eines andern Menschen Hand in eine neue Lebenssphäre hinein gezogen wird. Deswegen gibt Tizian auch nicht allen Personen dieselbe Hand — wie Van Dyck —, sondern legt die individuelle Seele auch in die Fingerspitzen. Wenn er nicht nach dem Leben oder guten Vorbildern (wie zur Kaiserin Isabella) malt, sondern nach Münzen und Masken, dann gibt er überhaupt keine Hände, so Franz I. (1538), so «Giovanni delle bande nere»; nur auf dem frühen Bilde «Alexanders VI.» (mit Jacopo Pesaro) war die empfehlende Gebärde und somit die Hand unentbehrlich. Allerdings liebt Tizian schlanke und doch volle Hände, weich und doch fest — er scheint bei seinen weiblichen Modellen geradezu darauf geachtet zu haben, auch der Christus auf dem «Zinsgroschen»-Bilde und dem Halbbilde in der Pitti-Galerie haben solch ruhig-freundliche Hände; aber was für eine knochige Habgier legt er in die Finger von Pier Luigi Farnese, die denen seines Vaters, des Papstes Paul III., verwandt erscheinen, doch bei diesem mehr vorsichtig, kühl, entschlossen. Tizians eigne Hand zeigt eine verhaltene Nervosität, zuckende Unruhe, die ein fester Wille meistert.
Auch das zeichnet eben Tizian vor andern grossen Porträtmalern aus, dass er nicht sich wiederholt, nicht sich selbst in den Zügen des Dargestellten spiegelt — Lenbach blickt so oft aus den verschiedensten Antlitzen —, sondern seiner unübertragbaren Eigenheit wohl bewusst, jedem gibt, was sein ist, und sich selbst nur in der souveränen Schöpferkraft zeigt. Und da werden seine Porträtwerke doch zu Enthüllern seines Wesens, zu Zeugnissen seines inneren Lebens, die von all den Erdbeben seiner Seele berichten, von den Erschütterungen erzählen, mit denen das Aussenleben immerzu das erkämpfte Gleichgewicht seiner Persönlichkeit umstürzte: nur deshalb konnte er die Geheimgeschichte jeder Bewegung, jeder Gebärde nachflüstern, weil er sie alle selbst erlitten.
Tizian bevorzugt als Kopfhaltung durchaus die ruhige Mittellage, die, an dem Durchschnitt gemessen, wie eine Hebung erscheint; es ist aber nicht Überhebung, sondern ein von der Aussenwelt ziemlich unabhängiges Selbstgefühl, und dieses klare «Auge in Auge» mit der Welt verstärkt sich dann auch durch die unbefangene Weite der Lider: es kommt ein intelligenter Stolz hinein wie in die hübschen Züge der Isabella von Este (1534). Aber wo es notwendig ist, nähert Tizian die Augenlider: so blickt die Herzogin von Urbino (1537) dicht unter den Wimpern weg, kühl und kritisch, und der feste kleine Mund scheint auch eine tadelnde Bemerkung zu planen; senkt sich nun noch der Kopf, dann wird bei dem halbmondförmigen Schnitt des Mundes solch eine Fuchsnatur verkörpert, wie die Pauls III. (1543). Besonders den Mund lässt Tizian sagen, wie sein Held das Leben anfasst, denn in diesem ältesten Angriffsorgane der Lebewesen liegen alle Fähigkeiten ausgedrückt, die ein Mensch zur Erreichung seiner Ziele besitzt: diese selbst ruhen im Auge. Der leise gespitzte Mund des Mannes «mit dem Handschuh» gibt dem Wesen etwas Unentschlossenes, das zum beobachtenden Blick und der scheinbaren Ruhe der Hand passt; der in leisem Atmen geschlossene untätige Mund des Unbekannten in Florenz stimmt zur Weltvergessenheit des über den Beschauer weg zum fernen Horizonte hinirrenden Blickes; das freudige Erfassen der Gegenwart, wie die volle Unterlippe des Markgrafen von Mantua sie verrät, entspricht dem leutseligen Auge dieses aufrichtigen Kunstfreundes und Gönners Tizians; beim Dogen Gritti (1523), dem einzigen erhaltenen Dogengemälde des Staatsporträtisten Tizian, klingt wieder die feste Lippenhaltung mit den tiefliegenden kleinen Augen zusammen: ein weiser Politiker, während ein ähnlich geschlossener Mund, aber kräftigere Lippen beim Kardinal Ippolito im ungarischen Magnatenkostüm einen verbissenen Willen anzeigen, gleich dem lauernden Blicke und den Gebärden beider Hände. Ganz verschwindet der Mund bei den beiden Herzögen von Ferrara und von Urbino, aber indes dieser von wohlwollender Beschränktheit scheint, kommt in das Gesicht jenes durch den äusserst ruhigen, aber scharf beobachtenden Blick etwas Heimtückisches. Ebendadurchmacht Kardinal Bembo (1539) den Eindruck von nergeldem Missvergnügen, das durch den gezwängten Blick und die polemisierende Gebärde der Finger Bestätigung findet; Unzufriedenheit liegt auch in den Zügen des Antiquars Jacopo di Strada (1566), der unter seinem Barte seine eignen Entschlüsse verbirgt, wodurch der Blick, der auf dem Käufer der Venusstatuette ruht, geradezu etwas verschmitzt Kaufmännisches erhält — und Tizian machte gelegentlich selbst kunsthändlerische Geschäfte!
Beschränkt, frömmelnd und sinnlich sieht der Malteserritter (Prado, 1535—40) aus: die tiefliegenden gesenkten Augen lassen freien Stolz vermissen und um den Mund spielt verlegene Zote; auch dem Lebensgenüsse hold ist der Mund des Kardinals Farnese (1543), aber in geistvoller Weise, wie die grossen, lebhaften, wenn auch längst nicht genialen Augen beweisen; hingegen bei Philipp II. kommt zur Genusssucht seiner aufgeworfenen Lippen die Bigotterie des starren Blickes und das Misstrauen des unter scheuen Lidern vorbeispähenden Auges. Pietro Aretino (1545) trägt den vollendeten Stempel genialer Skrupellosigkeit: die kühne Kopfhaltung, der dunkle stolze Blick, die Ironie der leise geblähten Nasenflügel, die Gourmetlippen vereinigen sich mit dem Glanz der schweren Stoffe und der Ritterkette zum Bilde eines geistreichen, zornmütigen Menschenverächters und Lebemannes, der alles zur Grösse besitzt, nur diese selbst nicht — Tizian kannte sich in seinem Freunde aus. In manchem ähnlich, auch verschlagen und spöttisch, vielleicht nicht so entfesselt, aber doch durch. grössere Ziele emporgehoben ist der Diplomatenkopf Granvellas (1548). Um die Mundwinkel liegt der Schleier eines weltmännisch unveränderlichen Lächelns, das die Augen, die Seele nicht teilen. Die Lippen sind gewölbt, aber fest zusammen, der Blick ist wie der Aretins von oben herab, aber weil der Kopf hier weniger emporgeworfen ist, erscheint er wie ein kühler Menschenlenker, neben dem Aretin nur ein Heisssporn ist. Mit Hilfe dieses Mannes lenkte Kaiser Karl V. ja sein buntes Weltreich, das wie schwere Verantwortung auf seiner Seele lastete. Vergleicht man das Bild Kaiser Karls, das Tizian 1533 malte, mit dem fünfzehn Jahre später entstandenen Münchener, so fühlt man, welch ein Riesenkampf mit äusseren und inneren Feinden diesen Mann nicht etwa geknickt, wohl aber hartgehämmert und auch müde gemacht hat. Die stolze Pracht des Anzuges, in dem der Dreiunddreissigjährige auftrat, ist weit schlichter, düsterer geworden, aber die vornehme Ruhe ist noch gewachsen, der offene energische Mund ist jetzt beinahe geschlossen, der gebieterische Blick ist nervös vorsichtig geworden, aber ebenso unnachgiebig geblieben — die Schatten von San Juste dämmern schon in dieser Seele. Und wie eisig-energisch zeigt ihn das Reiterbild der Schlacht von Mühlberg!
Tizian, der jede Einzelheit sieht und fühlt — mitfühlt, zerlegt dennoch nicht die Züge, sondern baut sie auf; charakteristisch bis zum Packenden, bleiben seine Bildnisse doch zugleich etwas Einheitliches und werden so nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich fast schön. Fern von aller Karikatur, schöpferisch nachschaffend, bleibt dieser Meister denn auch nicht bei den harten Anfangsbuchstaben der Seeleninschrift stehen, dem Knochenbau, den Muskeln, sondern liest die feinen Lettern der Haut; schön im Charakteristischen, wird er charakteristisch im Schönen und legt das feinste Seelenleben in die schimmernde Nacktheit. Tizian hat die Natur begriffen, die den Menschen von der tierischen Schutzhülle der Felle und Federn befreite, um ihn mit neuen Sinnen zu bereichern und durch den Anblick der ungetrübten Formenpracht zu veredeln. Und fürwahr, die Furcht vor der Nacktheit ist ein Gradmesser der Barbarei und Perversität.