Elisarion > Monte Verità > Der Monte Verità > DU, Oktober 1978 > Gründer, Vegetarismus

1900: Ida Hofmann, Henri Oedenkoven und Gefährten – Der dritte Weg

Monte Verità und Ascona waren Schauplatz einer Addition von 600 Viten, 600 Paradies­vorstellungen, die meist im Norden als Reaktion auf die Zeitprobleme entstanden waren und nun in den paradiesischen Süden projiziert wurden. Asyl-Idylle, botanischer Garten und Kloster waren die bis dahin anvisierten Interpretationen. Im Jahre 1900 erschienen die Lebensreformer. Industrialisierung, Urbanisierung, Technisierung und damit verbunden die Konfrontation zwischen Kapitalismus und einer erstarkenden Arbeiter­bewegung hatten schon im 19. Jahrhundert Reformbewegungen auf den Plan gerufen, die die unumgänglich scheinende proletarische Revolution verhindern wollten. Lebens­reform hiess die Möglichkeit eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kom­mu­nismus und implizierte die freie Entfaltung des Individuums und eine neue Gemein­schaft, bestehend aus freien Mitgliedern. Ascona wurde so zum südlichen Vorposten der nordischen Lebensreformbewegung und der Hügel über Ascona zum Berg der Wahrheit, der gelebten Wahrheit, in Anlehnung an die Stilisierung Tolstois zum «Mann der Wahrheit».

Vegetarismus – Vegetabilismus

Hiess im Mittelalter die Devise «Stadtluft macht frei», so tönte nun im Zeitalter des Ent­stehens der Grossstädte der Ruf gerade umgekehrt. Weg von den Orten der Zivilisation, weg vom gefrässigen Fortschritt, zurück zur Natur, wo man natürlich leben, wo Seele, Geist und Körper regenerieren können, wo man autark leben kann, möglichst fleischlos, da der Fleischgenuss die Aggressionen wachhält. Diese Ethik des Vegetarismus war das Gemeinsame, das die Ankömmlinge von 1900 verband. Des weitern waren sie überzeugt von den Wohltaten der Naturheilkunde und von der Notwendigkeit der Siedlungs­grün­dung als Keimzelle und leuchtendes Beispiel für die übrige Gesellschaft. In den zwanzig Jahren Monte Verità, die durch die Vegetabilier geprägt waren, bevor die Gründer zum Neuanfang nach Brasilien aufbrachen, können wir die ganze Spannweite zwischen idealisierten Daseinsvorstellungen und dem Scheitern in der Wirklichkeit ablesen: Aus dem kommunistischen Siedlungsmodell wurde eine vegetabilische Gesellschaft, eine individualistische Cooperative und zuletzt ein Sanatoriums- und Hotelbetrieb. Die Dogmatik, mit der die Monte-Veritaner vorgingen, war von einer derartigen Rigorosität, dass die Siedlung sehr rasch berühmt wurde.

Der heutige Monte Verità ist ein einzig­ar­tiges Beispiel einer interpretierten Landschaft als Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners, und alle Bauetappen sind noch deutlich mit entsprechenden Beispielen vertreten: die Licht-Luft Häuschen für den individuellen Gebrauch, die Gemeinschaftsräume im Haupthaus (heute ins Hotel von 1927 integriert), die auf Abbildungen ersichtlichen Badeanlagen für die Licht-Luft-Sonne-Therapien, die Gartenanlagen und das erstaunliche Wohnhaus der Gründer, die Casa Anatta, mit den doppelwandigen Holzgewölben und dem grossen Flachdach. 1917 fand in diesem Hause die «Gnostische Messe» anlässlich des von Theodor Reuss einberufenen anationalen Kongresses des orientalischen Templerordens statt (15. bis 25. August), der folgende Reformvorstellungen ansprach: die anationale cooperative Gesellschaftsform, die neuzeitliche Erziehung, die Stellung der Frau in der Zukunftsgesellschaft, die mystische Freimaurerei, soziale Neubildungen, Kunst, Ritual- und Kulttanz früherer und ausser­europäischer Kulturen, Ausdruckskultur in Erziehung, Leben und Kunst.

Die Schwierigkeiten vom Ich zum Wir

Zu verschieden waren die Menschen, die sich vornahmen, in Ascona eine Siedlung zu gründen, zu gross die Spannungen und Erwartungen. Der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven, die montenegrinische Pianistin Ida Hofmann, der k.k. Ex-Offizier Karl Gräser, sein Bruder, der Kunstschlosser Gusto (Arthur) Gräser, die Ingenieurstochter Lotte Hattemer lernten sich in der Naturheilanstalt Veldis kennen und zogen von Idas Münchner Wohnung im Oktober 1900 nach Norditalien, um im Gebiet der ober­italie­nischen Seen eine genossenschaftliche Ansiedlung zu gründen. Oedenkoven wollte mit Hilfe des Kapitals den Kapitalismus überwinden, Gräser schwebte eine urkommunis­tische Siedlung vor. Schliesslich trafen sie sich in Locamo: «In Brissago, Ronco, Ascona, Losone, Minusio, Orselina, Monti Trinità – bis hinein in die Täler und hinauf zu den Höhen von Bosco – gab es eine Stimmung, die einer neuen Gedankenwelt günstig war. Überall gab es Abseitslebende, Künstler, Philosophen, Theosophen, Vegetarier und politische Flüchtlinge. Nicht in grossen Mengen, im Gegenteil, nur ganz vereinzelt, verstreut; aber doch genug, um einen Hauch des Besonderen, des Bereiten, des Empfänglichen über die Gegend zu legen.» (Robert Landmann, Monte Verità, Berlin 1930). Dieser Bereitschaft verdankte die Gegend denn auch den Zuzug von Lebensreformern, die bis an ihr Lebensende in Ascona blieben, um so die mütterliche Gegend um die Dimension des weisen alten Mannes zu bereichern.

 

Du 10/1978, weiter

Du, Oktober 1978, Seite 38
Du, Oktober 1978, Seite 39
Du, Oktober 1978, Seite 40
Du, Oktober 1978, Seite 41