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Der Traum des Sonnengottes

Eine moralische Phantasie

 

Zweitausend Jahre hatte der Sonnengott geschlafen. Da war ihm, als erwachte er. Er öffnete seine Augen, und in der dunklen Höhle, in der er gelegen hatte, ward es licht und warm. Die bösen Dünste wanden sich ängstlich an der kalten Mauer hin und her. Eine dicke Kröte in der Ecke steckte ihren Kopf ärgerlich und verschämt unter einen Stein, so hässlich kam sie sich vor, als sie in der beleuchteten Pfütze ihre matten Augen, ihr schläfriges Maul und ihr plumpes Wesen sich widerspiegeln sah.

«Dass du stürbest, unsittlicher Verführer! Ist das eine Art, so seine nackten Glieder zur Schau zu tragen. Jeder anständige Mensch trägt jetzt ein graues Kleid», brummte sie und ver­kroch sich ganz. Wo sie gesessen hatte, da roch es nach den Drüsen ihrer Scham. Aber der nachte Sonnengott verstand sie nicht und achtete auch nicht auf sie. Er reckte seine ewig­jun­gen Glieder und warmes Leben rieselte durch seine zarten Adern. Allemal, wenn die mürrische Kröte ihren Kopf über der Pfütze auftauchen liess, musste sie das sehen und ein nei­di­scher Groll zog in ihre Seele, aber sie sah doch wieder hin.

Und der Sonnengott ging hinaus. Wo er hintrat, da er­wärm­te sich der Boden und grünes Gras und weisse Blumen mit roten Kelchen sprossen hervor. Eine Fledermaus, die vor dem Licht erblindet war, sass mit gesenkten Flügeln, wie in einen Traueraltar gehüllt hinter einem Mauervorsprung.

«Wovon soll ich leben, wenn es licht bleibt!», seufzte sie. Wie neblig es aussah! War das die Sonne, dies blasse, rötliche Etwas, das durch die schalen Dünste blinzelte?

Er wischte sich den Nebel aus den Augen. Da ward es lich­ter umher. Der welke Rasen leuchtete bald im sattesten Mat­ten­grün. Die Bäume streckten ihre Äste weit in die Luft und atmeten in vollen Zügen. Rote Sonnenröschen öffneten ihre Hülle und lächelten seelenvergnügt aus goldenem Antlitz. Eine Spottdrossel in den schwanken weissen Blütenzweigen der Akazie sang ein sittiges Lied, aber sie lachte immer dazu und wiegte kokett ihr Köpfchen:

 

«Sitte hin, Sitte her;

das Leben gilt mehr.

Gott grüss dich, mein Schöner!»

 

Plötzlich – was war das? Auf einer Holzbank im Grase sass ein kleines Männchen im langen schwarzen Rock und hatte ein grosses Buch vor sich auf den spitzen Knieen liegen. Auf der Nase sass ihm eine grosse graue Brille. Die bartlosen Mund­win­kel hingen lang herab und unter dem dürren Kinn zitterte andächtig ein grauer Bart. Nebenan lag sein schwarzer Hut. Der Sonnengott schaute ihm verwundert an, er wusste nicht, was aus ihm zu machen. Nie hatte er ein so mürrisches schwar­zes Männchen gesehn. Wie sass es da in sich versunken und merkte nicht, wie die bunten Gräser über seinen Kopf hinaus­wuch­sen!

Wie der Sonnenjüngling ihn so unverwandt anschaute, da fühlte der Alte einen stechenden Schmerz auf seinem kahlen Hinterkopf. Erschreckt bemerkte er nun das Leuchten und Farbenschimmern um sich her. «Pfui», sagte er, «die Blumen stinken in meine Seele. Ist das heute eine Hitze! Ist die Erde denn verrückt geworden? Es war doch so schön kühl und herbstlich, als ich mich hinsetzte.» Er erhob sich, blicke um sich und blieb wie versteinert stehn.

Ein nackter Mensch! Hier im Freien! Wider alle Sitte und Moral! Mein Herr, das ist Verletzung des öffentlichen An­stan­des!», er suchte seiner heiseren Stimme einen erschütternden Tonfall zu geben, aber sie klappte über. Die Spottdrossel sang immer lauter.

«Wie sollten Sie auch die keusche deutsche Sprache verstehen! – C’est un outrage à la pudeur publique! – E vietato!»

Immer lächelte der Sonnige. Das Männchen sah durch das Grau seiner Gläser das Atmen des Körpers und den Schatten der Akazien, der schmeichelnd über die schlanke, üppige Gestalt huschte. «Er ist wahnsinnig», schrie er und rannte wie besessen davon, dass die langen Rockschösse im Maienwinde flatterten. Der schwellende Rasen gab höhnisch unter seinen plumpen Tritten nach, er strauchelte und fiel mit dem Gesicht in die Nesseln. Die grauen Gläser hatte er verloren, nun sahen die matten Augen nichts mehr; er musste mit gesenktem Kopf auf der Erde weiter tasten.

«Ein sonderbares Tierchen!» dachte der Sonnige ver­wun­dert. Hut, Buch und Feldstuhl waren liegen geblieben. Er setzte sich hin, nahm das Buch und wollte studieren.

Da kam ein Pärchen des Weges gegangen. Er trug weite gestreifte Hosen, ein weiten dunklen Rock und rote Hand­schu­he; aus der Tasche guckte ein dicker Stock hervor. Sie hatte ein weisses Kleid und einen roten Sonnenschirm. Und sie lächelte verschämt, während er nach gangbaren Worten suchte, um ihr seine Neigung zu entdecken, aber es waren nur abgestandene süsse Witze. Plötzlich bemerkte sie den nackten Gott, der sich auf dem Rasen ausgestreckt hatte. Ein Aufschrei entfloh ihren roten Lippen. Ihr Begleiter hatte gerade von der Liebe im all­gemeinen gesprochen. Sie hielt den Schirm errötend vor das Gesicht, blickte aber verstohlen durch die langen klaren Spit­zen. War das ein zauberhaft berauschendes Gefühl! Jetzt hatte auch er ihn bemerkt und zischelte ihr etwas leise zu, worüber sie noch mehr errötete. Der Sonnige wandte sich um und musste lachen.

«Seid ihr nicht Menschenkinder? – Erklärt mir dieses Buch.» Statt Antwort zu geben, eilten die beiden davon – in das nächste Dickicht.

«Sonderbare Leute! Aber sie gefielen mir doch schon besser.» Er ging weiter. Er wollte Menschen suchen, schöne wirkliche Menschen, frohe lichtbraune Menschen, wie er sie vor zweitausend Jahren gesehn hatte.

Bald nahte er der Stadt. Die Strassenbuben sahen in schon von fern und lachten aus vollem Halse. «Seht doch den! Seht den! Das lassen wir uns gefallen. Da gibt’s keine Schläge, wenn die Hose zerrissen ist.» Und sie tanzten bald ausgelassen um ihn herum in ihren Holzschuhen.

«Wie hässlich!», dachte der Sonnige. «Diese schmutzigen Lappen um die Glieder! Diese Holzfüsse! Wie sie stampfen!»

Neugierige Leute schauten aus den Fenstern und er­war­te­ten ein Schauspiel zu sehn. Es ward ihm eigen zu Mut. Ein paar Männer in schwarzen Röcken, mit schwarzen Röhren auf dem Kopfe, gingen eilig über die Strasse. Sie waren so sehr in ihr Gespräch versunken, dass sie nicht merkten, was um sie her vorging. Ein dicker Mann mit martialischem Schnurrbart und rasselndem Säbel stand an der nächsten Strassenecke. Kaum hatte er den leuchtenden nackten Gott erblickt, so rötete sich sein breites Gesicht noch mehr und die breiten Enden des Bartes zuckten wie zwei Staubbesen. «Herr-r-r!», donnerte er und schritt auf ihn zu; aber schon war der Sonnige in einem Flur verschwunden und der behäbige Hüter des Gesetzes hatte das Nachsehen.

Die hohen Stiegen, die düsteren Räume versetzten den Gott in ein launiges Erstaunen. «Ist das ein tolles Maul­wurfs­ge­schlecht!», dachte er, schlüpfte aber doch hinauf. Stimmen­ge­wirr brummte ihm entgegen. Er schlich durch eine offene Tür in ein Zimmer, da war niemand, nur eine Menge Mäntel hingen da gleich Fledermäusen; in einen solchen versteckte er sich, obwohl im gruselte, als das hässliche fremde Gewand seinen Körper umschloss. Da – Stimmen im Nebengemach!

Es wurde um Ruhe gebeten. Er lauerte durch eine Spalte. Hu! was war das für eine Versammlung von Raben, Dohlen, Krähen! Aber sie hatten doch Menschengesichter, einige sehr würdige. Jetzt hub einer zu reden an. Er hatte eine spitze Nase und einen Bart auf den Wangen.

«Meine Herren», sagte er, die trüben Brillengläser ab­wi­schend, «meine Herren, unsre Sittlichkeit ist strak im Sinken begriffen, unserer alten frommen Zucht droht Vernichtung. Was das bedeutet, wissen Sie. Und wer ist daran schuld? Unsere Künstler, die der gemeinen Sinnlichkeit schmeicheln, unsere Theater, die nicht mehr nur religiöse und moralische Fragen behandeln, wie im guten Mittelalter. Wohin sind die schönen Oster- und Weihnachtsspiele, die so erbaulich waren? Nur ein gewisser Hauptmann hat noch Ähnliches mit der armen Hannele versucht. Aber ach! sonst herrscht Zucht­lo­sig­keit. Man merkt überall den Trieb nach ungeweihter Liebe.»

Der Sonnige lachte in seinem mausgrauen Mantel, so dass die golden Locken sich schüttelten. Waren denn diese Leute aus Holz geschnitzt und mit Russ angestrichen, dass sie solche Angst hatten, man sähe ihre steifen Glieder und wüsche ihnen die schwarze Farbe ab? Geboren waren sie doch gewiss nicht, sonst könnten sie nicht solche Furcht vor der Haut haben. Geweihte Liebe nicht? Was war das? Weihte die Liebe nicht? Der Mann sprach weiter: «Wehe über das, was heute ge­schrie­ben und gelesen wird! Die kindlichen Gemüter werden schon früh verdorben. Wer will noch an den Storch glauben! Und das nennt man Naturalismus! O die leidige Natur. Sie verführt uns zur Sünde.»

Was war nun das wieder für ein Wort? Etwas Hässliches muss der Mann doch damit meinen. Aber die Natur ist doch das Schönste. So dachte der Sonnige.

Da fuhr der Redner fort: «Ja, wenn die Naturalisten und Realisten noch mausgrau sind, wie der Slave der Ent­halt­sam­keit mit den russischen Schmierstiefeln oder der mystische Nebelmann aus Norwegen, aber nun herrschen gar Leute mit sardonischem Lächeln und zügellose Teutonen, die an der Börse der Unsterblichkeit in Unterhosen spekulieren. Ja, ja, wir sind heruntergekommen!»

Nur nicht vom Olymp. Dort hätten wir euch als Possen­reis­ser gebrauchen können. Der hinkende Hephästus hätte sich wahrlich gefreut, nicht mehr allein als Zielscheibe unseres Witzes dienen zu müssen.

«Und das Theater?!», fuhr der Mann fort. «O weh, welche Brutstätte böser Gedanken und Lüste ist es geworden! Statt sich zu erbauen, kokettieren sie in den Pausen nach Küssen. Das sind hässliche Auswüchse. Wir müssen die Weiber schüt­zen.»

Der Sonnige musste wieder lachen, denn er wusste wohl, wie schön ein Kuss ist. Hatte er doch so häufig die Chloe und den Hyazinth geküsst.

«Aber eine Hoffnung gibt es: wir müssen jede freie Schrift verbieten, die Theaterzensur einem Komitee von Schutzleuten überlassen; zuletzt haben wir ja noch eine brave Jugend – die Studenten – wenn die nur tüchtig zischen wollten!»

Das taten die lieben Athener auch, wenn Reden recht geist- und witzlos waren; hier täten sie’s ebenfalls.

«Nach der Moralität des Publikums muss sich der Dichter dann richten, die wird ihn behüten und bewahren. Sonst kau­fen wir seine Bücher nicht.»

Ho ho! als ob er das nicht besser wusste, dass kein wahrer Dichter sich nach fremden Lümmeleien richtet. – Publikum? Bin ich’s doch selber, der die Sänger begeistert, dass sie tun, was ich ihnen eingebe. Freilich, es gibt solche Gebrüder Schmier­hans, die mögen sich nach andern richten, aber denen verschaffe ich nicht den Lorbeer der Unsterblichkeit.

Verrückte Leute! Bin ich nicht gesund und schön, und gehe immer nackt in meinen Gebirgen?! Wer ist doch gesund: die Natur oder diese schwarzen Holzpuppen? Possierlicher Unsinn.

«Und was die bildenden Künste anbetrifft, so soll man nicht mehr gestatten, dass der nackte Körper mit solcher Unverschämtheit den Blicken der Unschuld preisgegeben wird. Wir müssen überall einen Schurz vorhängen, damit die lieben höheren Töchter und Söhne nicht zu erröten brauchen. Oft werden wir ein Kunstwerk ganz verbieten müssen. Erziehlich und moralisch soll der Künstler wirken. Auch diese alten grie­chi­schen Götter, die schon längst tot sind mit ihrer Gemeinheit und Sinnenfreude, sind zu verdecken.»

Das ward dem Sonnigen doch zuviel. Du lügst, du lügst, infamer Schwätzer! Wir sind lebendig, noch eben lebendig in denen, die das Leben lieb haben. Und wenn ihr nicht von Holz seid, so seid ihr Heuchler.

Hässlich sollen wir sein?! Ha, da will ich euch etwas Besseres lehren. Er lachte zornig. Es kochte in seinen Adern. Er trat in den Saal der versammelten Grauen und warf den Fledermausmantel von sich. Das stand er in seiner vollen leuchtenden Schönheit inmitten der Versammlung!

Als der Redner das sah, da fiel er kopfüber, die andern aber schlugen alle mit ihren Nasen auf die Tischplatten … Die nackte Schönheit hatte sie getötet.

Hu! Da erwachte der Sonnige – diesmal aber wirklich. So war das erste Erwachen auch nur ein Traum gewesen, wie die zweitausend Jahre dumpfen Schlafes? – – –

Da flutete das blaue Meer, vom hellen Schimmer des Morgens übergossen. Die rosigen Klippen der Berge badeten sich in der Flut.

Pfui! das war ein hässlicher Traum, sagte er fast traurig. Wenn der wahr würde! … Nein, nein, das Licht siegt doch und die Dunkelheit erbleicht vor meinen Strahlen.

Vor dummen, bösen Träumen sind auch die Götter nicht sicher. Hahaha!

Elisàr von Kupffer, Auferstehung – irdische Gedichte, erschienen 1901

Der nebenstehende Traum des Sonnengottes ist diesem Bändchen entnommen. Er zeigt auf eine humorvolle Weise die Gedankenwelt des Autors. Im Paradies sind alle von natürlicher, anmutiger Schönheit und brauchen keine Kleider. Auch die Liebe ist frei – «Geweihte Liebe nicht? Was war das? Weihte die Liebe nicht?».

Zweite Auflage PDF
Gedichte und die Kurzgeschichte
«Der Traum des Sonnengottes»