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Aus einem wahrhaften Leben

Der Einzug in Schloss Jootma

War der Anfang des Jahres 1883 für mich ein sehr trauriger gewesen, so sollte der Sommer mir dafür die Erfüllung eines Wunsches bringen, deren Erwartung mich schon in freudige Erregung versetzte. Es war erreicht: wir sollten aus dem Land­haus von Sophienthal in das grosse Herrenhaus von Jootma übersiedeln, das vier Kilometer von jenem entfernt lag. Jootma war ein Rittergut, das nun dem Verwandten und Studien­ka­me­ra­den meines Vaters, Baron Maydell zu Kurro, gehörte, der es von Herrn Viktor von Henning erworben hatte, der mein Tauf­vater war. Früher durften baltische Rittergüter nur von Ange­hörigen des immatrikulierten Baltischen Adels erworben wer­den. Herr von Henning, der nicht «immatrikuliert» war, hatte es zuerst im Namen seiner Frau, geborene Baronesse Sophie von Wrangel, erworben, deren Vater die schönen Gar­ten­an­lagen von Jootma gemacht hatte. Nach ihr hatte «Sophienthal» seinen Namen, da das Grundstück von ihrem Gatten gegeben wurde. Obige Bestimmung wurde dann nachher aufgehoben, und bald gerieten Rittergüter auch in Hände solcher Besitzer, die überhaupt keinen Adel hatten. Baron Maydell besass nun ausser Kurro, wo er mit seinen Schwestern lebte, die Ritter­güter Jootma und Resna, dessen Herrenhaus abgebrannt war. Vor uns hatte in Schloss Jootma ein Baron Rosen mietweise gewohnt. Nun ward es frei und uns überlassen. Jootma konnte man schon in der Tat ein Landschloss nennen, es sah von aus­sen stattlicher aus als das Herrenhaus von Kurro, und wurde darin, im Äussern, eigentlich nur von dem gotisierenden weissen Schloss von Lechts übertroffen, das bald eine andere Bedeutung für mich gewann. Stattlich war auch das weisse Schloss von Taps mit seinen sechs Säulen, wo meine Tauf­mut­ter Alla von Fock wohnte. Jootma war ein zweistöckiges Haus im Empirestil, hatte auf der Frontseite 24 Fenster und einen tempelartigen Vorbau von vier hohen Säulen durch beide Stock­werke. Wir sehen es schon bei der Einfahrt über den grossen grünen Rasenvorhof, der von Bäumen aller Art um­stan­den ist, von Linden, Birken, Espen, Pappeln, Tannen und blühenden Büschen. Wir fahren von links, wie durch einen Hain von Laub- und Fichtenbäumen hinein und halten vor der Treppe mit den Säulen. Wir treten hinein, in das Vorzimmer, wo wir ablegen. Da steht ein ganz altertümlicher Schrank, ein Mahagonispiegel. Gradaus blicken wir durch eine Flügeltür in das Speisezimmer mit der Doppeltür auf die Veranda und auf den rückwärts liegenden Rasenhof. Rechts schweift der Blick, bei geöffneter Tür, in die zwei Gemächer meines Vaters. Links treten wir in den geräumigen Saal. Er ist weiss, mit vier weis­sen Flügeltüren, elf Meter lang und siebeneinhalb Meter breit. Durch sechs Fenster fällt das Licht; drei schauen nach Süden auf den umhegten Vorhof mit der Einfahrt, drei nach Norden zum Gartenhof. Fast vor allen Fenstern stehen Pflanzen im Saal. Zwischen drei Fenstern hohe Mahagonispiegel im Em­pi­re­stil. Ein grosser Flügel ladet Kundige zum Spielen ein. Ein mächtiger weisser Kachelofen verspricht Wärme für den Winter. Eigenartig geschnitzte Möbel mit medaillon-förmigen Lehnen, rotbezogen, laden zum Verweilen ein, zum Teil um einen grossen Teppich geordnet. Eines bedaure ich: kein echtes Parkett. Auch im Herrenhaus zu Kurro war ein gemaltes, das viel Vorsicht erforderte; man durfte nur auf schönen Läufern gehen. Freilich gab es dort keine Kinder.

Auch an Bildern fehlte es nicht bei uns. Da waren die Ölporträts meiner väterlichen Grosseltern, vom Maler Baron Clodt. Das schöne Jugendporträt meiner Mutter von Johann Lind. Wölfe, die einen russischen Bauern mit seinen Pferden im Schnee überfallen, von meinem Onkel General Feodor von Kupffer. Und sonst einfarbige Reproduktionen meist biblischer Bilder. Eine Rokoko-Uhr tickt auf einem alten Spieltisch. Bis­wei­len tönt der Schlag einer ganz alten englischen Standuhr aus dem Speisezimmer. Ein mächtiger tropischer Philodendron ragt bis zur weissen Decke. Das ist ein Saal im wahren Sinne des Wortes. Mir weitet sich die Brust.

Links führt eine Flügeltür in das blaue Kaminzimmer mit dem weissen Kachelkamin und der Bronze davor. Durch zwei Fenster schaut man in den umgrünten Hof. Fünf Meter zu fünf­ein­halb ist der Raum. Ein solches Kaminzimmer wünschte ich mir. In diesem Zimmer sollte zehn Jahre später meine gütige Mutter nach viel Qualen sterben. Aber daran dachte ich na­tür­lich damals nicht. Von dort schritt ich in das Eckzimmer mei­ner Schwester, zu ihrem altertümlich zierlichen Schreib­tisch mit den Geheimfächern, und zur roten Ampel, die bisweilen Abends bei Besuchen leuchtete. Von ihr ging es in das andere geräumige Eckzimmer, das zuerst von meiner Mutter bewohnt wurde, und wo auch ich oft in den Ferien bis zum 16. Jahre schlief. Da blickte man sommers auf blühende Beete und Büsche. Dann ging ich in das Zimmer meiner väterlichen Gross­mutter, die noch lebte, und dann wieder in den grossen Saal. Eine Treppe hoch, wohin man aus dem Vorzimmer ge­lang­te, waren sechs Zimmer ausgebaut. Zwei bewohnte ich später in den Ferien. Da schweifte der Blick über den Rasenhof der Rückseite, über weite Wiesen, durch die der Fluss sich schlängelte, bis zum Walde, wo jenseits von Moor und Bahn­linie der Turm des weissen Schlosses Lechts auftauchte!

Und der Garten! Auf der Rückseite des Hauses mit der halboffenen Veranda ein weiter Hof mit blühenden Kräutern, links daran eine Gruppe hoher Lärchenbäume, wie ich sie sonst nicht sah, erst in den Höhen der Schweiz. In Sibirien soll es ganze Wälder davon geben, wie auch Steppen mit Edelweiss, die man sonst auf Alpenfelsen sucht. In den Zweigen dieser Lärchen habe ich meine Strickmatte aufgehängt und darin wach geträumt. Dabei war ein Treibhaus, in dem ein Fei­gen­baum stand, der leider nachher starb. Daran schloss sich ein grosser Garten mit vielen Obstbäumen, besonders prächtigen Apfelbäumen und Beerensträuchern, rings umschlossen von einer dichten geschorenen Tannen- oder Fichtenhecke, aus der in gewissen Abständen andere Bäume, besonders prächtige Ahornbäume emporragten, die Ende September in Purpur und Gold erglänzten. Hin und wieder lauschige Gänge mit riesigen rötlichen Päonien und Feuerlilien; sibirische Birke, riesen­blätt­rige Linde, Ulme, Esche und dazwischen hochstielige helle Veilchen, die besonders stark dufteten. Dunkelblaue und grüne Libellen sonnten sich in diesem Gange. Wie dufteten die Pap­peln nach dem Regen, wetteifernd mit ihnen die Birken. Und im Frühjahr die Frühlingskirsche, ein wilder Baum mit weis­sen, duftenden Dolden, bei uns Faulbaum genannt. Abends flogen die Weinschwärmer um die Lila Fliederblüten, und ich jagte nach ihnen, wie nach all den bunten Faltern auf den blühenden Wiesen. Zur Sühne habe ich sie nachher allein von allen Tieren in die Welt der Seligen aufgenommen.

Der Garten verlor sich in einen verwilderten Park bis zu einer Stromschnelle des Flusses, auf dem ich zu Boot zu fahren versuchte, obwohl er bisweilen seicht und steinig wurde. Der frühere Besitzer, Baron Wrangel, hatte hier viel Schönes schaf­fen wollen, aber seine Mittel versagten. Nun konnte ich, soviel davon blieb, mich daran freuen. Ja, das war meine Welt!, in der ich mich zu Hause fühlte, weit mehr als in Sophienthal, trotz der nahen Wälder. Der Hauch der veredelnden Kultur be­zauberte mich mehr in seiner Verbindung von Natur und Men­schengeist. Ja, als ich in das Landschloss Jootma einzog, war es wie ein zaubernder Traum im Leben des Knaben.

So bin ich ein volles Menschenalter später in das Sanc­tua­rium Artis Elisarion in Minusio bei Locarno eingezogen, in meine eigenste Schöpfung, als geprüfter Mensch. Auch das war gleichsam die Erfüllung eines tiefen Wunsches, hatte ich doch als Jüngling geäussert: Einmal möchte ich eine Villa, ein Schloss am blauen Lago Maggiore haben. Es bestand keine Aussicht dafür. Sonderbar solche Wunscherfüllung auf Erden!, die doch zu wünschen übrig lässt. Eine Oase in der Fremde der Wirrwelt. Aber hienieden bleibt immer Wirrwelt umher. Ich weiss:

Die auf diese Welt ihre Hoffnung stellen, hören das nicht gern. Wird mir einmal die letzte Traum- und Sehn­sucht­er­fül­lung werden – das Erwachen in der lichten Klarwelt ewiger Jugend, wie ich sie schaute und schuf ? … Glaube auch das! Mein Glaube ward mehr als zweimal Wahrheit.

Erste religiöse Bedenken

Bald begannen für mich neue innere Bewegungen, zarte re­li­gi­öse eines frühdenkenden, etwa zwölfjährigen Knaben, den frühes Leiden gereift hatte und der trotz aller Phantasie einen klaren Blick für Menschen, Dinge und Verhältnisse besass und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und bescheidnen Stolz. Da meine Mutter immer mehr Rücksicht auf ihre Gesundheit nehmen musste, konnte sie nur sommers zur Kirche fahren. Wollten meine Eltern das Abendmahl nehmen, so kam der Pas­tor zu uns. Vordem hat meine Mutter auch uns Kinder um Vergebung, falls sie uns Unrecht getan hätte, ja auch das Dienst­mädchen. Das war bei ihr echte, tiefe Frömmigkeit im besten christlichen Sinne. Und doch gaben gerade diese Abend­mahlsfeiern den Anstoss zu meiner Entfremdung von der Lutheriscben Kirche. Schon mit 12 Jahren empfand ich es als unbegründete Ungerechtigkeit, von dieser Heiligen Gemein­schaft mit meinen Eltern ausgeschlossen zu sein. Die christ­liche Lehre und Konfirmation fand bei uns verhältnismässig spät statt, mit etwa 16 Jahren, bei mir sogar durch Umstände besonders spät, mit 18 Jahren. Das kam dadurch, dass unser Pfarrer, Pastor Knüpffer, ein schöner, stattlicher Mann mit kurzem Vollbart, aus angesehener Literatenfamilie, infolge einer furchtbaren Krankheit mit rasenden Schmerzen sich ein Bein abschneiden lassen musste und ich zu seinem mir gar nicht angenehmen Stellvertreter nicht in die Lehre wollte. Nachher musste dem armen Mann auch noch das zweite Bein genommen werden. Ein trauriges Schicksal dieses feinen Ver­treters seines geweihten Standes. Das gab nachher auch zu denken, und ich hatte grosses Mitleid mit ihm, dem ich gerne zuhörte, trotzdem ich damals schon ganz anders eingestellt war und mich innerlich der katholischen Kirche zuwandte.

Nicht des Kultus wegen, wie die meisten sofort glauben werden, das sei hier gleich beizeiten gesagt, denn ich hatte keine Gelegenheit, schönen katholischen Kult zu sehen.

Also dieses Ausgeschlossensein vom heiligen Mysterium der Verbindung mit Gott, an dem meine Eltern und meine beiden älteren Geschwister teilnahmen, befremdete mich, ich war mir nicht bewusst, dessen unwürdig zu sein. Warum auch? Da musste ein Fehler sein – zweifellos. Sonntagvormittags las mein Vater eine Predigt vor, deren Inhalt aber mich meist ermüdete und später sogar zum inneren Widerspruch reizte. So war es auch, wenn ich in der Kirche in Reval Predigten hörte. Das schien keine Kirche, keine Religion für mich. In Reval ging ich noch mit Vorliebe in die Domkirche, deren historischer Charakter einen andern Geist atmete. […]

Es spricht wohl jedenfalls für den Knaben und Jüngling, dass er selbst solche Wege der Seele suchte und fand, und ohne die Verehrung vor den Eltern zu verletzen. Mit einem Nachfol­ger des schwer geprüften Pfarrers, mit Pastor W., hatte ich ein Gespräch über jenen Gedanken der ewigen Verdammnis. Als ich ihm meine ethischen Bedenken äusserte, entgegnete er mir: «In der Gnade Gottes werden wir so glücklich sein, dass wir gar nicht mehr an die in der Hölle denken.» Darauf konnte ich nur erwidern: «Nein, Herr Pastor, ich könnte nicht glücklich sein, wenn ein Wesen, das mir lieb und teuer war, in ewiger Qual schmachtet.» Dabei muss ich an die antiken Freunde Kastor und Polydeukes (Pollux) denken, von denen der Götter­sohn es vorzog, das halbe Jahr mit dem Freunde in der Unter­welt zu entbehren, um dafür in der andern Hälfte ihn für die göttliche Welt zu gewinnen. Diese «Heiden» waren entschieden dem Göttlichen in der Einsicht näher als der christliche Pfar­rer. Wieviel in der Antike im besten Sinne «christlich» klingt, habe ich in «Olympia und Golgatha» in Kürze dargelegt (1907 in den «Lebenswerten», Jena). Ich zitiere hier nur drei Stellen: «Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.» Und: «Es ist die Liebe, welche Liebe stets gebiert.» Beide von Sophokles, und ebenso: «Doch neben Gott (Zeus) ist auf den Thron für alle Schuld gesetzt die Gnade.» Und Pindar, der antike Dichter sagt: «Keinen Gott betrügt, keiner der Sterblichen je durch Tun noch Wollen.» Und selbst den strafenden Apollon lässt er seinen Sohn bestimmen: «Zu heilen der Menschheit schmerz­bereitendes vieles Weh, jedem aus jeglicher Qual Erlösung zu schaffen.» Und wenn Aischylos in den «Eumeniden» sagt: « – um Missgestalt den Nächsten schmähen, ist ungerecht und edlem Sinne fremd», so gemahnt das mehr an einen Christus, als die hämische Bosheit, die wir so oft bei Christen erleben.

Schwere Erlebnisse

Im Sommer des Jahres 1884, als ich zwölf Jahre war, traf uns unerwartet ein schweres Ereignis, das für unsere Zukunft die schlimmsten Folgen hätte haben können. Es war ein schöner Sommerabend, ich hatte mit meinem siebenjährigen Bruder Adolf im Garten nach Schmetterlingen geschaut und trat gera­de ins Haus, um einen hübschen grünen Birkenspinner zu zeigen. Ich komme in das Zimmer der Grossmutter, die sich schon hingelegt hatte, während mein Vater, wie manchmal zur Entspannung am Tische Geduldspiele in Karten legt. Da – plötzlich – quillt ein roter Strom aus seinem Munde. Blut! Welch ein Schrecken! Meine Mutter eilt herzu. Seine 82-jäh­rige Mutter erhebt sich. Er wird sofort im blauen Kaminzimmer gebettet. Glücklicherweise ist noch Eis im Gartenkeller. Das wird auf seine Brust gelegt. Im weitesten Umkreis kein anderer Arzt und Helfer! Es wird weithin zur Bahn geschickt und nach einem Arzt im Städtchen Wesenberg, an Dr. Voss, tele­gra­phiert. Wesenberg ist näher als Reval, auf der Linie nach Peters­burg. Eine schwere Sorge um den Kranken! um den Ver­sorger der Familie, denn was mein Vater bis dahin ersparen konnte, reichte kaum für die Eltern, geschweige denn für die Erziehung der drei Söhne. Zunächst musste ein Arzt als Ersatz für all die Kranken auf dem Lande gefunden werden; das war ein junger Doktor Hirschhausen. Nun kamen lange bange Wochen. Wie sehr mein Vater verehrt wurde, konnten wir gewahren; wiederholt kamen die Wagen von den Rittergütern und fuhren nicht vor, sondern hielten ausserhalb des Hofes, um den Kranken nicht zu stören. Alle wollten wissen, wie es um den Arzt und Hausfreund der Familien stand. Meine arme Mutter, selbst von zarter Gesundheit, leistete fast Un­mög­liches, von meiner Schwester unterstützt. Die Lebensgefahr ging vorüber.

An demselben Abend der Erkrankung gab mein Vater beide Gifte auf, die er jahrelang gebraucht hatte: Morphium und Tabak. Er rauchte seitdem nie mehr eine Zigarette. Das war bewunderungswürdig. Es gab eine Übergangszeit, die hohe Anforderung an seine Nerven und seine Willenskraft stellte, aber er überwand es. Und merkwürdig: seit jenem Blutsturz wurde er allmählich ein gesunderer Mensch; ging zeitig schla­fen, stand zeitig auf und fuhr auch im Winter im offenen Schlitten. Er wurde viel lebhafter, vielleicht auch leichter erregt; während er früher eher schlank war, nahm er zu an Körperfülle, später fast zu sehr. Aber – ich war leider in der früheren Lebenszeit gezeugt und habe viel später selbst begin­nen müssen, ein genau geordnetes, vorsichtiges Leben zu führen, so inbetreff des Schlafengehens und Essens. Getrunken habe ich nie, ausser in Italien ein halbes Gläschen Wein, ge­raucht überhaupt nie, und nie irgend eine Geschlechts­krank­heit gehabt, was, wie ein Arzt mir einmal sagte, eine grosse Seltenheit wäre. Das folgende Jahr brachte mir im Frühling wieder eine schwere Aufregung. Meine geliebte Mutter er­krank­te an böser Diphtheritis. Meine älteren Geschwister haben vor der Türe meiner Mutter auf den Knien gelegen und Gott um ihre Erhaltung gebeten. Ich war fern in der Schule. In der Nikolauskirche wurde von der Kanzel für das Leben meiner Mutter gebetet, auf Bitte ihrer Schwester. Ich sass in Todes­angst um das Leben meiner Mutter. Sie blieb am Leben. Als ich sie im Sommer wiedersah, war sie blass und elend – aber sie lebte! Ich hatte meine seelische Erdenheimat noch nicht ver­loren.

Eltern und Sohn

Mein Vater hätte sich, wie meine Mutter sagte, einmal dahin geäussert, er bedaure an mir einen Mangel an Zärtlichkeit gegen ihn. Ich meine, das hätte an ihm liegen sollen, mehr am Manne als am scheuen Knaben. Wenn mein jüngerer Bruder ursprünglicher zu ihm stand, so lag es wohl daran, dass seine Natur ihm näher war, und wohl auch daran, dass mein Vater, seit er jene Narkotika aufgegeben hatte, selbst aufgeschlos­se­ner wurde, sich natürlich lebhafter gab; ich hatte ihn schon zuvor als den müderen Menschen gekannt, der wenig Kraft für seine Kinder erübrigte. Erst nach dem Tode meiner Mutter sind wir uns wesentlich näher gekommen. Mein Vater war deutscher in seinem Wesen als ich, er überlegte weniger, scherz­te grader, ohne zu erwägen, ob andere sich vielleicht dabei ein falsches Bild machten. Das Sensitive, Überlegende hatte ich von der Mutter, das Lebhaft-Sinnliche von meinem Vater, glücklicherweise später auch ein wenig von seinem Humor. Meine Mutter hatte die feine Art jenes Schweden, der sich lieber auf die Zunge beisst, als etwas Taktloses zu sagen. Auch ich blieb gern zurückhaltend höflich, bis man mich durch Ungezogenheit zur Empörung trieb; dann aber antwortete ich mit heftiger Zurückweisung. Schriftlich war ich stets unent­wegt, ohne an meinen Vorteil zu denken. Von der Liebe des Sohnes zur Mutter ist, seit die Psychoanalyse Mode wurde, auch einiges recht Schiefes gesagt worden. Auf das Wort «Mut­ter­bindung» muss ich darum hier eingehen. Gewiss war ich durch herzlichste Liebe mit meiner Mutter verbunden, und alle Liebe, die echt ist, hat auch eine Wärme, die sich der mensch­lichen Nähe erfreut, aber auch in der Entfernung lebendig bleibt, ja in Sehnsucht zu wachsen scheint. Insofern ist natur­gemäss auch ein sinnlich-sympathisches Element dabei, aber die Sinnlichkeit der «Verliebtheit» war es nicht. Meine Mutter hatte nicht die Art eines überzärtlichen Weib­chens, sondern mehr die stille Wärme der Güte, etwas Ma­don­nen­haftes, was von ihr auf mich überströmte. Und was sie an mir anzog, mag meine ausgeglichene Art stiller Liebe gewesen sein, dass ich wie sie unwillkürlich alles Hässliche, Unfeine in Wesen und Erscheinung vermied, auch Sorgfalt auf mich ver­wandte. Wie sie noch kurz vor ihrem Tode zu mir sagte: «Bei dir bin ich sicher, dass du mir nie Schande machen wirst, auch nicht in deinem Äusseren.»

Der Typ, der erotisch stark auf mich wirken sollte, war eigentlich ein anderer. Auch ihr Äusseres hatte etwas Madon­nen­haf­tes, sie trug ihre Stira hoch und frei, ihr Wesen war das einer edlen Frau ohne Anmassung, ohne Koketterie. Die von Locken beschattete Stira, die Schelmerei des Erotischen war ihr nicht zu eigen. Wir waren mehr seelisch auf Grund der Sympathie verbunden. Und so hat mich diese tiefe Liebe auch nicht abgehalten – wie gewisse Psychoanalytiker das meinen – mich als Jüngling in ein Mädchen unserer Nachbarschaft heftig zu verlieben. Sie war ein ganz anderer Typus, der mich sinnlich ansprach, abgesehen davon, welchem Geschlecht er angehörte, da es nicht das, Geschlecht war, was mich sinnlich anzog, son­dern eine bestimmte Wesensart und Erscheinung. Auch das ist arg missverstanden worden und bis heute nicht richtig gewer­tet. Dass gar Homosexualität aus Neigung zur Mutter ent­stün­de, kann ich an mir nicht bestätigen. Es wäre ja auch traurig, wenn nur in solchem extremem Falle lebhafte Liebe zur Mutter bestehen sollte. Auch die Liebe der Mutter zu ihrem Kindchen, mit dem sie sinnenfroh spielt, hat etwas naturgemäss Sinn­li­ches; wir leben doch in einer Welt sinnenbegabter Menschen, aber es gibt verschiedene Arten von Sinn­lich­keit. Es gibt An­zieh­ung und Abstossung verschiedener Art.

Im erwähnten unvollendeten Epos schilderte ich meine Eltern mit einigen Versen:

 

Sein Vater war ein wahrer Edelmann,

Dazu ein Christ, jedoch von heitrem Wesen,

Sah diese Welt als gottbegnadet an,

Tat auch viel anderes als die Bibel lesen.

Ihm wurden Erd und Himmel nah verwandt –

Wenn Mensch und Christ sich je vereinen kann.

Er spielte Karten, liebte, doch er bannte

Sein Feuer stets ins üblich Anerkannte.

 

Demo-Freistaatler seinem Herzen nach,

Religiöser Freiheit eifriger Verehrer,

Stets duldsam unabhängig, bot er Schach

Der fremden Überzeugung; war ein Mehrer

Der Menschengüter, doch kein Menschenkenner.

Er hielt in Leiden noch die Hoffnung wach;

Im Daseinskampfe nie ein wilder Renner,

Doch gross als Zähler ob des Unglücks Nenner.

 

Sie, die ihn zeugte, war von andrer Art,

Nach aussen huldvoll, vornehm, sanft verschlossen,

In jeder Regung und im Wesen zart,

Im Kampf des Alltags weh, doch unverdrossen.

Nur einmal liebend, ist sie nie erkältet.

 

Da waren Ernst und Milde fein gepaart.

Die schönen Hände, die so oft gefaltet

Zum Beten waren, haben treu gewaltet.

 

Zu sehr viel Leiden und Kämpfen kam ich in dies Leben. Und doch wenn ich eine edle Aufgabe hätte und diese sich mit Gottes Beistand erfüllen sollte, so waren dies wohl die Eltern, die mich gebären und am Anfang des Lebens betreuen sollten.

Hatte der spätere Elisarion eine Botschaft, die vielen Heil bringt, so will ich das Martyrium dieses Lebens, körperliches Leiden und gehässige Feindschaft der geistig Blinden, nicht verwünschen. Einmal habe ich als Knabe meine Mutter be­trübt, die Stunde der Geburt verwünschend.

Wenn Buben reif werden

Und ach! noch sprach ich von der Liebe nicht,

Vom A und O der Menschheit keine Zeile!

Und doch, ich schwör es, fürchtet mein Gedicht

Nichts mehr als böse graue Langeweile.

 

Und Axel war erst recht von jenen Jungen,

In denen früh der Eros Kämpfe sieht;

In diesem Kampfe hat er früh gerungen,

Verliebter Torheit manches Lied gesungen.

 

Das klingt wohl scherzhaft und doch ist es heiliger Ernst – das Gebot der Liebe bei jungen Menschen; und töricht wird es von blinder Erziehung und irregelenkter Moral ins Dunkel ge­scho­ben oder unterdrückt, bis eines Tages soziale Explosionen bewei­sen, dass grosse Fehler in der geeichten Kultur waren. Sol­che Umwälzungen erleben wir in stärkstem Masse. Auch die mo­ra­li­schen und religiösen Revolutionen in Russland und Spa­nien sind nicht nur Ausgeburten der Bosheit, sondern Vul­kan­ausbrüche, die andeuten, dass etwas in der früheren Ordnung nicht in Ordnung war.

 

Einstweilen, bis den Gang der Welt

Philosophie zusammenhält,

Erhält sich dies Getriebe

Durch Hunger und durch Liebe.

 

Der Freiheitsapostel Schiller hat es wohl erkannt, aber sein deutsches Volk hat ihn noch nicht zu wahrer Geltung kommen lassen. Goethe war der vorsichtigere Mann, den man leichter nach Belieben auslegen kann. Vieles hat er auch so geschickt dem Mephisto in den Mund gelegt, was er im Grunde selbst sagen wollte; das kann man dann beiseite tun, so dass es un­wirk­sam bleibt. Ja, ja – wenn jemand einem Mädchen, das seine Monatsregeln hat, diese verbieten wollte, so würden die Naturkundigen und Ärzte ihn wohl für verrückt erklären. Diese Naturerscheinung beim Weibe, die ja nicht gerade eine weise Einrichtung der Natur scheint, wird stillschweigend geduldet, auch von den Vertretern der hohen Moral, weil sie keine Freu­de bereitet, im Gegenteil lästig und leidhaft ist. Wenn aber der Knabe und Jüngling ebenso naturhaft der Funktion seines Leibes folgt, so wird das ihm arg verdacht und wenigstens offi­ziell als unsittlich und unrein totgeschwiegen. Weil es nicht physisches Leid, sondern Lust bereitet, gilt diese Naturkraft derselben Natur plötzlich als «unrein» (um mich ge­sell­schaft­lich auszudrücken). Was ist die Folge?

Der Junge darf nichts wissen noch fühlen; aber der gesun­de junge Leib lässt sich nicht wegphilosophieren, nicht weg­lü­gen, er lebt und meldet seine natürlichen Triebe genau so in Intervallen an, wie bei Hunger und Durst. Wie würde es in einer wahnwitzigen Kultur aussehen, in der Essen und Trinken un­mo­ra­lisch wären? Heimlich würde noch schlimmer und un­ge­sun­der geschlemmt werden. Etwas davon erlebte man ja in Län­dern, wo der Alkohol (der doch keine solche Natur­not­wen­dig­keit ist) absolut verboten wurde. Was geschah da? Es wurde im geheimen getrunken, und zwar schlechter, verdorbener Alko­hol, und noch mehr. Finnland, das radikale, hat bereits seinen Fehler eingesehen. Und das gilt erst recht von natur­not­wen­di­gen Erscheinungen. Zur Mässigkeit sollte man Jugend und Menschen erziehen, zur Harmonie; sonst heisst es den Teu­fel durch Belzebub austreiben. Ja, die armen Jungen! Allein, was weiss er denn von Menschendingen ? Wie Engel­chen, die Hallelujah singen. Ja, die Kinder-Engelchen?! – Eine der üblichen antierotischen Gesellschaftslügen. Wie oft sind die Kinder grausame Egoisten, unter sich und gegen das Alter. Je nachdem, welches Erbe sie mitbringen, Erbe von den Vor­el­tern oder etwas aus eigenem Vorleben. Wenn sie von den En­geln herkämen, so wäre es besser, sie blieben bei den En­geln, statt in dieses Leben zu treten, nach welchem sie viel­leicht, laut der Kirche, wenn sie schlecht bestehen, als böse Bengel in die Hölle zu den Teu­feln wandern müssen. Sei dem, wie ihm wolle … Die Eltern glauben ja meistens: ihre Kinder wüssten natürlich nichts, nichts von ihrem eigenen Körper und dessen Trieben, wenn sie nicht von den schlechten Kindern anderer oder von gewissenlosen Menschen verführt würden. Was sollte auch die Jugend von selbst wissen! Soviel? – O mehr! allein zu wenig noch, Und leicht verirrt er sich auf falsche Bahnen … der übertriebenen einsamen Selbsterschöpfung, die schwächen kann. Die süsse Kraft, am Ende zwingt sie doch und lässt ihn bald geheime Freuden ahnen.

Sich selbst verzehrt der ersten Jugend Feuer, und oft ver­welkt er in Narkissos Joch. Und sonst ? – Verseucht ein käuf­lich Ungeheuer Euch euren Knaben, der euch lieb und teuer. Oft treibt der Spott der Kameraden dahin, weil es «Sitte» ist.

 

Wohin ist Spartas gute Lebenszucht,

Die um den Mann die Mannesjugend scharte,

Fern von Blasiertheit und galanter Sucht,

Wo mit der Strenge sich die Liebe paarte;

Wo Jünglinge, gesund, in reifsten Jahren

Ihr Schifflein lenkten in der Ehe Bucht?!

 

Etwa mit dem vierzehnten Geburtstag wurde mein Körper reif und meldete seine Entwicklung an, doch ohne jede Verführung von aussen und ohne jeden eigenen künstlichen Antrieb. Das war Natur. Bis in mein fünfzehntes Jahr hinein, also noch Monate nach jenem Erwachen der Pubertät wusste ich nichts vom körperlichen Unterschied der Geschlechter. Sexuelle Auf­klä­rung gab es bei uns nicht, auch nicht von seiten meines Vaters. Als ich dann davon durch einen Kameraden erfuhr, bat es mich gar nicht erschüittert oder aufgeregt. Mein Eros war nicht geschlechtlicher Natur und ist es auch bei vielen andern nicht, wenn sie nicht dazu erzogen werden durch Ermahnung, betonte Kleidung und Haartracht. Ist es etwa «Natur», dass dem Knaben die Haare möglichst kurz geschoren werden, weil das männlich wäre? Kein Mensch, der etwas denken kann, wird das behaupten können, denn auch beim Knaben wachsen die Haare naturgemäss. Dann heisst es: der Reinlichkeit wegen. Als ob die Mädchen nicht auch Reinlichkeit brauchten! Ande­rer­seits gibt es Völker, wo die Mädchen und Frauen kurzes Haar haben, nicht bloss unsere Kulturmädchen mit dem Bubi­kopf. Und von Natur aus wächst der Frau kein Rock. Eigentlich wäre ein kurzer Rock, wie ihn die kühnen Albanesen und die Schotten tragen, dem Manne naturgemässer als die Hose, die ihn presst, wo es den männlichen Organen gar nicht entspricht. Fast nichts davon ist naturgemäss, was unsere Moral und Sitte hochtrabend so nennen. Kleidung und Tracht sind oft ein Ver­grös­serungsglas der Geschlechtlichkeit, die schon aus weiter Ferne die Sexualität betonen. Und das schöne Geschlecht? — Es gibt Völker und Stämme, wo der Mann, besonders der Kna­be und Jüngling schöner ist; und es gibt andere, wo das Weib, besonders das Mädchen schöner ist. Darüber zu streiten ist müssig, da auch der Geschmack verschieden ist. Selbst inner­halb derselben Rasse, ja derselben Familie gibt es darin Ver­schie­denheit. Meine Tante Luise, die Hofrätin Meder in Reval sagte mehr als einmal, auch zu meiner Mutter: «Schade, dass Eia nicht ein Mädchen wurde und Frieda ein Junge! Er könnte früh eine glänzende Partie machen.» Ich aber war froh, ein Knabe zu sein, hatte nie den Wunsch, ein Mädchen zu sein, auch verlangte mich nie nach weiblicher Kleidung, wie das bei weiblich gearteten Knaben vorkommen soll. Die Gestalt ge­ben­de Kleidung gefiel mir weit besser. Ich spielte ja auch gern mit Soldaten und führte Kriege auf; mit fünfzehn Jahren schuf ich die Figuren zum Trojanischen Krieg und zum Siebenjährigen Kriege, bin aber doch kein Raufbold geworden. Meine Mutter sah es ungern, als ich mit elf Jahren lange Hosen anziehen musste, des Gymnasiums wegen! sie fand ihren Buben ent­stellt. Damals war man ja noch nicht so vorgeschritten wie heute, wo Jünglinge und gar schon Männer mit kurzen Hosen, ja mit nackten Waden und Knien gehen. Damals war man noch gefangener im hässlichen Röhrensystem der männlichen Ver­hül­lung. Ja, schon braune Krawatten, statt schwarzer oder weisser, waren eine Art Revolution. Wer stellt sich das heute vor, auch in bigottesten Gegenden? Trägheit ist auch die Grund­lage der menschlichen Physik. Indess, auch als Knabe gekleidet, erregte ich Gefallen. Das muss nun hier gesagt sein, auf die nahe Gefahr hin, als «eitel» beschimpft zu werden. Meine Tante, die mich sehr liebte, bemerkte auch einmal auf der Stadtstrasse zu mir: «Sahest du, mit welch verliebten Blicken der Bewunderung jener Herr dich verschlang?» Man­che werden das für unbedacht, unpädagogisch erklären. Gott sei Dank! ihre liebenswürdige Seele war vor allem menschlich natürlich. Ich lachte dazu, freute mich, ohne etwas Besonderes dabei zu denken. Und als später einmal die Rede davon war (in der Zeit der Russifizierung), dass der neue russische Lehrer so vom Schönen beeindruckt würde, bemerkte meine liebe Mutter lächelnd: «Dann sollte er doch auch Elisàr freundlich be­han­deln!» Eins lastete noch auf mir: ich litt viel und arg an Zahn­schmer­zen, einmal einen ganzen Monat Tag und Nacht. Mein Vater war gegen Operation, und wie er sagte, wollte er mich nicht durch eine äussere Operation verunstalten lassen. Ich litt nicht bloss physisch, sondern auch psychisch, weil ich tadel­lo­se Zähne als zur Schönheit notwendig fühlte. Erst als ich mit 18 Jahren und besonders mit 23 Jahren damit in Ordnung kam, wurde ich darin von einer seelischen Last befreit. So sehr ich bei allen physischen Eingriffen litt, Blut und Wunden brachten mich fast zur Ohnmacht, so wurde ich heldenhafter, wenn es um Sein oder Nichtsein des Schönen ging. Der Kampf um die Schönheit erhöhte mich zum Martyrium, er brachte mir später viel blinde Feinde, aber auch überzeugte Freunde und Freun­dinnen.

Meine Tante und ihr Gatte waren gute Sänger, sie haben unter der Leitung des seinerzeit hochgeschätzten Musik­di­ri­gen­ten Heinrich Stiehl sogar an der Aufführung der Matthäus­passion in St. Petersburg mitgesungen. Abends waren bis­wei­len Sangproben auf dem Chor der Nikolauskirche (in Reval); dann ging ich unten im Dunkel der Kirche umher, die noch Erinnerungen an die katholische Zeit bewahrte. Am Eingang stand überlebensgross die bunte Gestalt des heiligen Chris­to­phorus, der das Christkind auf der Schulter trägt, einst­mals Träger der Kanzel. Gruselnd ging ich an ihm im Dunkeln vor­bei. Bisweilen hatte ich da auch Gesellschaft von einem Kame­ra­den, der zwei Jahre mit mir in Pension war. Zuerst waren es zwei Vettern, Nikolai und Emanuel Brasche, aus einer an­ge­se­he­nen Literatenfamilie, zu der auch ein Pastor in Reval ge­hör­te. Nikolai, nicht unschön und ein Jahr älter als ich, erprobte sein junges Bedürfnis nach Liebeszärtlichkeit in werbender Art auch an mir. Ich entsinne mich eines Gespräches zwischen bei­den Vettern, wo Nikolai vortrug, Liebe unter Kameraden wäre besser und gesünder, als sich einsamer Liebe hinzugeben. Der Junge hatte ja recht mit seiner Stimme in der Wüste. Ich be­to­ne, dass ich dann bereits leiblich gereift war, seit einigen Mo­na­ten, vielleicht hätte ich es sonst gar nicht recht verstan­den. Mit Emanuel, dem sehr schlanken, zwei Jahre älter als ich, hatte ich ein bezeichnendes Erlebnis. Er sass bei der Schul­ar­beit, als er vom vierzehnjährigen Kameraden gestört wurde. Er drohte ein wenig, falls er nicht Ruhe bekäme, würde er den Störenfried strecken und verwitschen. Nun war dieser Bube aber sonst kein Störenfried und Unart; es war etwas anderes, was ihn antrieb. In der Schule war körperliche Züchtigung, was ich erwähnen muss, in Russland strengstens verboten, im Ge­gen­satz zu deutschen Ländern. Ein Lehrer, der das wagte, hätte seine Stelle verlieren können. Aber auch Prügeleien oder gar Rohheiten vonseiten der Kameraden hätten mich aufs tiefste empört und, wie erwähnt, blieb ich davon verschont. Aber hier war es etwas anderes, und der grössere Kamerad hatte schon gezeigt, dass er für den zartern eine beachtende Zuneigung hatte. Es war also weniger wirkliche Unart, als das Bedürfnis der reifenden Jugend nach einem erotischen Erlebnis. Also achtete der Vierzehnjährige absichtlich nicht auf die Warnung; da wollte der Gestörte seine Drohung ausführen. Aber nach einem schüchternen Versuch hielt er inne und sagte: «Du bist zu hübsch, mit dir kann man nicht böse sein.» War es die Scheu vor der Anmut? Aber der Schelm war enttäuscht. Man­cher Unart mag auch ein solcher Trieb unbefriedigten Lebens- und Liebesdranges zugrunde liegen, ob es sich nun um einen Knaben, Jüngling oder um ein weibliches Wesen handelt. Es ist eine Art Herausforderung der Werbung und Überlegenheit. Das gibt für Erziehung und junge Ehe zu denken. Manchmal könnte eine Spannung entstehen, wo nicht in der Tat «falsche Ver­bin­dung» ist. Eine verlogene Vogelstrausskultur, wo man den Kopf in den Sand oder, menschlich gesprochen, in den alten Sack des Überkommenen steckt, kann zu keiner Entspannung der geladenen Stimmungen führen. Ergebnis: zuletzt Explosionen an verschiedensten Stellen, wie sie misere Zeit allenthalben aufweist. Auch der religiöse und ethische Bolschewismus ist ein Ergebnis langer Misswirtschaft auf ethischem Gebiet, un­sin­niger Unterdrückungen, nicht bloss satanische Bosheit. Leider werden dann gerade auch Unschuldige zu Opfern, aber nicht bloss Unschuldige. Das Kapitel des Sinnenlebens der Jugend, insbesondere der männlichen, ist viel wichtiger, als man glauben will, um zu einer harmonischeren Entspannung zu führen. Besonders zu denken gibt die Zeit vom 14. bis 24. Jahr, wo an eine Ehe nicht zu denken ist. Wie ein Geistlicher sagte: «Man drückt oft beide Augen zu.» Das ist aber kein Ausweg für klardenkende, ehrliche Menschen, die ein gutes Gewissen erzielen wollen. Entweder der Knabe und Jüngling vegetiert irgendwie in seinen gereiften Gefühlen hin, wird melancholisch, lebensüberdrüssig, erschöpft sich vielleicht einsam, wenn er nicht in höchst seltenen Fällen einen ältern Freund als Führer seines Liebesgefühls findet; oder er strebt mit 17 oder 18 Jahren, wenn nicht schon früher, nach einem weiblichen Umgang, der ihm dann leider meistens eine Ge­schlechts­krankheit beschert. Ist das eine Segnung ve­rmeint­lichen Christentums? Nein, da wird wohl auch eine Änderung eintreten müssen; Anzeichen einer Wandlung sind schon da. Ein Unsinn ist es, den natürlichen Trieb des jungen Leibes auf künstliche Reizung zurückzuführen. So auf Alkohol. Ich habe damals gar keinen Alkohol getrunken. Am Ende haben auch die strengsten Guttempler sinnlichen Umgang, wofür schon ihre Kinder Zeugnis sind. Auch auf Bücher und Bilder die «Schuld» zu wälzen, ist stark übertrieben, denn Kinder aus dem Volk, ja Analphabeten, die weder Bücher lesen, noch Museen und Aus­stell­ungen besuchen, haben ebenfalls den gleichen Trieb und folgen ihm oft noch naiver. Längst vor allen Kinos. Es ist nur zu billig, als Sechzigjähriger Enthaltsamkeit zu predigen. Der erschreckende Prozentsatz der Geschlechtskrankheiten und auch der Neurosen würde abnehmen, wenn diese Un­wahr­haf­tig­keit unseres Lebens mit ihren widersinnigen Gesetzen und ihrer oft widernatürlichen Moral gemindert wird. Sinnlichkeit ohne herzliches Gefühl ist gewiss minderwertig, aber «un­sau­ber» ist die Lüge unserer Scheinkultur. Schutz der Jugend? Ja, gegen jene Krankheiten des Leibes und des Gemütes. Ich kenne das Leben und Jugendentwicklung aus Erfahrung. Aus einer Fülle von Briefen solcher Jugend mögen einmal Auszüge eine herzliche Sprache sprechen. Ich selbst bin ohne Ge­schlechts­krank­heit durch all die Jahre gekommen – Gott sei Dank – und habe ein Recht zu reden.

Erotisch, nicht sexuell

Nach der antiken Mythe war Harmoneia die Tochter des Ares und der Aphrodite; und das hat einen tiefen Sinn. Aus der Ver­bindung von Ares, dem derb Männlichen, und Aphrodite, dem Weiblichen, entsteht die Harmonie. Das findet sich in aller grossen Kunst, in der Antike, in der Renaissance, in neuerer Zeit; und es wäre eine lohnende, klärende Aufgabe, diese Tat­sa­che durch eine grosse Arbeit mit Bildwiedergaben zu be­le­gen. Aber nicht nur in der Kunst, auch im Leben finden wir davon deutliche Spuren. Und dieses Erlebnis der «Harmonie»-Verbindung habe ich das Araphroditische genannt, nicht zu verwechseln mit dem Hermaphroditischen. Letzteres ist die mehr äusserliche Verbindung geschlechtlicher Merkmale bei­der Geschlechter; araphroditisch ist die von innen kommende, geistig-seelische Verbindung männlichen und weiblichen We­sens, die sich auch leiblich in einer Durchdringung von Kraft und Anmut äussert. Das kann auch bei einer Frau eintreten. Ich meine damit nicht «Homosexualität», nicht eine Zwi­schen­stu­fe, sondern eine Überstufe. Ich meine also nicht «wei­bi­sches» Wesen eines Mannes in einem männlichen Körper oder umgekehrt. Es gibt das wohl, das weiss ich; es gibt sehr «fe­mi­ni­ne» Männer, ganz passiv eingestellt und doch in ihrer äus­sern Erscheinung gar nicht anmutig, ja oft männlich eckig oder vernachlässigt. Da ist ein gewisser Widerspruch zwischen Aus­sen und Innen, jedenfalls keine Harmonie. Merkwürdig ist, dass solche, gar nicht anmutende Scheinmänner doch von Männ­lichen begehrt werden wollen. Das kann für sie sehr be­trü­bend werden und bei den Männern die Verwunderung und Ablehnung solcher Erscheinung wecken. Unsinnigerweise ist diese Art homosexueller Erscheinung mit dem, wovon ich rede, zusammengeworfen worden. Daraus entstand ein Wust von falschen Urteilen, unter denen auch ich viel zu leiden hatte, weil man mein Buch «Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur» auch öfters gänzlich falsch verstand. Das ge­schah erst nach 1900, doch musste ich dem hier schon vor­grei­fen, um nicht schon hier wieder gleich missverstanden zu werden, da die Menschen gewöhnt sind, auf übliche falsche Geleise abzurutschen. Trotz meines vielen Leidens ver­schie­de­ner Art bewahrte mein Körper immer eine gewisse har­mo­ni­scbe Gestalt, nicht gebrechlich, noch massig, sondern mehr in der Art eines antiken Epheben. Noch als 33-jähriger erlebte ich es, dass ich in Siena von einem feinen englischen Herrn als toskanischer Maljüngling angeredet wurde und dass er mir von seiner Zuneigung sprach. Photographische Bilder von meiner griechischen Reise, auf der ich 36 war, werden beweisen, dass ich noch damals den Körper eines Epheben hatte. Und noch viel später, mit 50 Jahren, war er nicht wesentlich anders. (Der Herausgeber: Und des Siebzigjährigen Leichnam war immer noch der Körper eines Fünfundzwanzigjährigen!) Es ist nicht aus Eitelkeit, dass ich das erzähle, sondern notwendig zur Erklärung meines ganzen Lebenswerkes mit seinem Aufruf an die Menschheit. Ich hatte auch mein künstlerisches Werk nicht schaffen können, wenn nicht der Künder der Harmonie und eines noch seltenen Rassentypus tatsächlich auch in mir selbst als Erscheinung lebte. Ich habe nicht, wie so viele, das ge­schaf­fen, was mich quälte, noch das, was mir fehlte, wie Michel­an­ge­lo, der scheinbare Titane, dessen Gedichte doch beweisen, wie sehr er seelisch bangend seine Sehnsucht in übermächtige Gestalten und kräftige junge Männer ausströmte; auch Vittoria Colonnas männlicher Geist erhob ihn, beglückte ihn. Mein gan­zes Lebenswerk ist – gerade in seiner Harmonie – ein Aus­druck innerer Kraft, die trotz allem immer wieder den Sieg er­strebt: trotz physischer Zartheit, nervöser Leiden, nach all dem Ererbten und schon als Knabe Erlittenen; ja trotz aller Feind­schaft, die mir auf neuen Lebensbahnen entgegentrat – ja, mich heimlich mit gehässigen Intrigen verfolgte. Dazu gehört sich eine seelische Kraft, eine Energie des Willens, wie sie sel­ten ist. Das darf ich heute sagen, nachdem es auch Ärzte an­er­kannt haben. In Kürze will ich es schon hier erwähnen, dass es mir nach dem Tode meiner Mutter allmählich gelang, einen Freund, einen Mithelfer und Mitstreiter zu gewinnen, der in seiner Art einzig ist und ohne den ich mein grosses Werk nicht hätte verwirklichen können. Das ist der Denker und Dichter und Gelehrte Dr. Eduard von Mayer.

Agi, die Frühgeliebte

Als ich 16 Jahre zählte, im Sommer 1888, ward mir die Liebe zu einem Mädchen bewusst. Es war in Schloss Lechts, dem weissen Schloss jenseits Wiesen, Wald und Moor, auf Wegen sieben Kilometer von Jootma; es sollte mir in den folgenden Jahren zu einer vertrauten Stätte der Liebessehnsucht werden. Ich sehe das lebendige Bild wie damals: das lose, wellige, kas­ta­nienbraune Haar mit einem Samtbande gehalten, unter dem gekürztes Haar in die Stirne flattert; die dunklen Augen mit den langen Wimpern, das halbschelmische, halbverlegene Lächeln um den küsslichen Mund; dazu ein hellblauer Ma­tro­sen­kra­gen mit weissen Rändern über dem kurzen dunkelblauen Kleidchen, einen Reifen zum Spielen in der Hand. Seit jenem Tage blieb mir das Matrosenkleid mit dem kleidsamen Kragen eine liebe Erinnerung, die mich später ein zweites Mal ge­win­nen sollte. Elf Lenze bloss hatte die kleine Baronesse Agnes von Hoyningen-Huene, oder Agi, wie sie gewöhnlich genannt wurde. In diesem Jahr blieb es noch ein plötzliches Auftauchen wie aus einer Traumwelt der Liebe und Schönheit. Diesen war­men Blick habe ich öfters wiedergesehen und nie vergessen. Das war ein Erbe mütterlicherseits; Baronin Alexandra, ge­bor­ne Baronesse von Ungern-Sternberg, war eine schöne und geistvolle Frau, die mir nachher stets Sympathie und Interesse bezeugte. In einer schwarzen Samtmantille hatte sie etwas merkwürdig Südliches, fast Spanisches. Beide Familien ent­stamm­ten dem deutschen Uradel. Agis Vater, Freiherr Fried­rich von Hoynigen-Huene, war der rechte Typus eines Land­ba­rons. Er hatte eine Adlernase, einen blonden Knebelbart und etwas Urwüchsiges in seinem Wesen, das sich oft mit Humor gab. Auch er war mir stets freundschaftlich gesinnt, hatte eine grosse, schöne Schmetterlingssammlung, auch von exotischen Faltern, und ich bin manchmal mit ihm auf die Schmet­ter­lings­jagd gegangen, in Garten, Wald und Wiesen. Das Rittergut Lechts hatte auch schöne Waldung, dem Baron gehörten auch das Gut Arrohof und das Beigut Kurküll. Besonders seit ich 17 Jahre war, wurde ich dort ein heimischer, gern begrüsster Gast; und es war ein allezeit gastliches Haus.

Zwischen Jootma und Lechts: Elisàr und Agi

Der siebzehnte Sommer meines Lebens sollte mir ein frohes Fest bescheren und zugleich das gesteigerte Bewusstsein der Leidenschaft in meiner Liebe zu Agnes. Am 1. Juli war die Sil­ber­hochzeit meiner Eltern. Da gab es Vorbereitungen: im Saal von Jootma sollte ein Theaterstück aufgeführt werden. Die Proben dazu fanden in Schloss Lechts statt. Für mich war das hauptsächlich ein Anreiz, weil ich Agi dabei wieder sah und jedes Mal ihren Zauber auf mich wirken liess. Die Pflege­schwes­ter Katja spielte mit. Am Vormittag des Festtages kam der Vater, Baron Friedrich von Hoynigen-Huene, nach Jootma, meinen Eltern Glück zu wünschen; ich benutzte die Gele­gen­heit, ihn nach Hause zu begleiten, um Agi zu sehen, da sie, die Zwölfjährige, leider nicht zum Feste kam. Nie bin ich so schnell mit Pferden gefahren, wie damals, in 20 Minuten die über 7 Kilometer. Es waren zwei prächtige, graugescheckte, weisse Rosse, wir flogen nur so dahin. Kaum angelangt, gab es nur kurzen Aufenthalt – leider! Eine flüchtige Begrüssung mit Agi; dann fuhr ich mit der Baronin Alexandra und Katja wieder nach Hause, diesmal in einem Wagen von vier schwarzen Ros­sen gezogen. Es wurde wirklich ein schönes, unver­gess­li­ches Fest. Etwa 30 Gäste von auswärts, aus Reval und Petersburg, blieben bei uns zur Nacht. Und dann waren all die Gäste von den Rittergütern. Die Aufführung glückte, in der ich den Lieb­haber spielte, freilich ohne den Antrieb, den ich gehabt hätte, wenn Agnes meine Mitspielerin gewesen wäre. Abends gab es zwei Riesentafeln im Speisesaal und auch im grossen Saal. Meine teure Mutter sah in ihrem Kleide aus grauvioletter, hel­ler Seide so still, heiter und edel aus; dies Fest war für sie selbst kein leichtes Ding, wenn es auch an dem Tage nicht an Bedienung fehlte. In Jootma gab es in diesen Jahren viel tu tun, besonders im Sommer. An Bedienung hatte mein Vater seinen Kutscher, der für gewöhnlich drei, in einem Jahre auch vier Pferde zu besorgen hatte und stattlich in seinem langen, dicken Rocke auf dem Bocke sass. Diese Tracht war von Russ­land übernommen. Für den Garten war ein Gärtner, der im Winter auch die vielen Kachelöfen heizte, das Original eines alten Esten mit Zickelbart und dem tönenden Namen Mars. Dann waren eine Köchin und ein Stubenmädchen, bisweilen noch ein zweites junges Mädchen als Aushilfe – die hübsche dunkle Anni. Meist waren die Esten eher hellblond. Sie dienten alle gerne bei uns. Frühere Dienstboten kamen noch, um meine Mutter zu begrüssen. Das Fahren war für mich ein Haupt­ver­gnü­gen, und ich habe später schweren Herzens darauf ver­zich­ten müssen. Wir hatten einen hübschen «Char-à-banc», einen leichten Wagen, der für uns Jugend diente, ausser dem Wagen für zwei Pferde, den mein Vater ge­wöhn­lich benutzte, und der grösseren Kalesche für die Sommerfahrten; diese wurde ge­wöhn­lich als «Troika» mit dem Dreigespann benutzt. So lä­cher­lich es manchem klingen mag: ein Höhepunkt des Lebens dort war es für mich, als ich einmal allein im grossen Wagen mit vier Pferden fuhr, nachdem ich Gäste zur Bahn begleitet hatte. Ich musste da an meinen, mir lieben Dichter Lenau den­ken: Und von flinken Rossen vier Scholl der Hufe Schlagen, die durchs blühende Revier Trabten mit Behagen.

Wenn ich sonst nach Lechts fuhr, so geschah es meist im leichten Gespann, das ich selbst lenkte, mit der hohen, steifen, eleganten Peitsche, die seitwärts stand. Ging ich einmal zu Fuss nach Lechts, was höchst selten vorkam, so schickte mich Agis Vater sicher in seinem Wagen abends nach Hause. Ich denke noch gern an ihn zurück. Scherzhaft sagte mir einmal sein Töchterlein, ich wüsste ja wohl, dass ihr Vater hübsche junge Männer gern habe. Ich trug dort später oft meine neu­es­ten Dichtungen vor, denn es gab ein reges geistiges Leben. Im Scherz nannte sie mich bisweilen «den jungen Goethe», und die Baronin ahnte, dass ich ihre Tochter Agnes lieb hatte; sie war ja selbst eine geistreiche Frau, die mit sonderbar mo­der­nen Aussprüchen überraschen konnte, besonders bei einer Dame ihrer Abstammung. Die Kinder zählten gern ihre Ahnen; sie hatten deren über 16. Da gab’s auch Wettstreit über solche Fragen. Fürst Bismarck konnte ja keine Ahnen zählen, trotz­dem sein väterliches Geschlecht dem Uradel angehörte, denn seine Mutter war eine Bürgerliche. Agnes sagte mal, ich sollte doch froh sein, aus einem guten, alten, gebildeten Geschlecht zu stammen, das wäre mehr wert als ein neuer Titel, ein Graf etwa, der noch keinen – «Grossvater» hatte; etwas Ähnliches habe ich sogar in Luzern von einer Schweizerin gehört. Etwas Wahres war daran, erst der Enkel wächst in die neue Umwelt hinein. Agnes’ Vater führte seine Visitenkarte mit dem Ba­rons­titel und farbigem Wappen, den drei silbernen Ringen auf schwarzem Felde, aber die Baronin und Agnes hatten ihre Karte ohne jedes Adelsprädikat, nur mit einer siebenzackigen Krone, drucken lassen. In jenen geschlossenen Kreisen, wo jeder wusste, was der andere war, da war das eine harmlose Pose; auswärts hatte sie diese Karten doch nicht gebraucht. Mein Vater war ein aufrechter, selbstbewusster Mann, aber in der Stadt Reval aufgewachsen; ich musste, in diese Umwelt hineingeboren, mich mit ihr abfinden und zum Teil durch­käm­pfen. Vielleicht wären sehr viele an meiner Stelle oppositionell oder gar Demokraten geworden, aber ich, der ich im Grunde selbst «aristokratischer» fühlte, als die andern, wenn auch nicht sippenhaft eingestellt, dachte nicht daran, mich vor dem älteren Adel zurückzustellen oder aber meine Einsichten auf­zugeben.

Ich war überzeugt, dass die Edleren aus der Gemeinschaft der Menschen die Führung haben sollten, nur dass diese Grup­pe der Edlen immer wieder neue Kraft durch Zuzug aus dem eigenen Volke gewinnen müsste. Ich habe schon damals er­klärt, dass der Abstieg des Adels dann entsteht, wenn sich seine Vertreter als Sippe oder Junker gegen Erneuerung ab­schlies­sen. Die Bedeutung des Monarchen wäre, diese Er­gän­zung zu verstehen und sinnvoll zu vollziehen. Unter ver­än­der­ten Verhältnissen nannte ich das nach dem Weltkrieg 1919 «Eu-Demokratie», die Führung durch die Edlen vom ganzen Volke; so hat sich auch der germanische alte Uradel gebildet, in germanischen Ländern, wo er nicht als fremde Ero­be­rer­schicht auftrat, sondern dem Volke blutsverwandt war. Ich bewog meinen Vater, unser Adelsrecht bestätigen zu lassen. Das geschah denn auch durch Kaiser Alexander, und wir wur­den in das Kaiserliche Heroldsarchiv eingetragen; ebenso unser Wappen, das rote Schild mit dem goldenen Herzen und zwei silbernen Kreuzen. Als unser neuer, linksradikaler Pfarrer Wilberg, aus estnischer Familie, meinem Vater sein Befremden über dessen Schritte äusserte, entgegnete mein Vater, der es nicht mal aus eigenem Antrieb getan hatte: «Ich habe kein Recht dazu, das meinen Kindern zu verwehren, denn nicht ich habe den Adel erworben; sie haben als Erben ihres Vorfahren ein Recht darauf. Rechte achte ich, ob ich selbst so denke oder nicht.» Bravo! das war eine Antwort, die seiner würdig war. Es gibt wenig Men­schen, die Gefühl für das Recht der andern haben und für die berechtigten Wunsche andersgearteter Men­schen. Darin bin ich nicht aus der Art geschlagen. So habe ich auch später bei dem einfachsten Menschen aus dem Volke seine Menschenwürde in Höflichkeit und Toleranz geachtet, mehr als die meisten sozialen Freiheitsschwärmer und Plu­to­de­mo­kraten. Aber es ging in Lechts nicht bloss um solches Hin und Her zwischen Agnes, Erika (der zweiten Schwester) und mir; wir hatten auch ernstere Gespräche über religiöse Prob­le­me, denn ich trug die meinen vor, die damals zum Teil eine historisch-katholisierende Richtung hatten. Es wurden von ihr auch originelle Gedanken aufgeworfen: ob Sonne und Sterne auch Wesen wären, was ja sogar ein Goethe zu Eckermann ausgesprochen hat. Kurz, es gab allerhand Anregung auf den Spaziergängen im lauschigen Garten des Schlosses, der mit seinen versteckten Wegen und Plätzen vortrefflich angelegt war. Dazwischen spielten wir Krocket, sehr ehrgeizig, oder es gab einen Ausflug zu Wagen, vormittags zum Flussbade, wobei die männlichen Teile abseits warteten bis die weiblichen gebadet hatten. Ich vertrug aber schon damals gar nicht das kalte Wasser und musste das Baden im Flusse aufgeben. Einen der wenigen Aufträge meines Lebens erhielt ich da von der Baronin Schilling zu Jurgensberg, die Aufbahrung ihres Sohnes Alexander zu malen, dessen Kamerad mein Bruder Johannes gewesen war. Ihr zwölfter Sohn Cäsar hatte zwei Kaiser zu Paten, den russischen Kaiser Alexander und den alten Kaiser Wilhelm; sie war eine geborne Gräfin Wartensleben aus Deutschland. Ihre Zwillingssöhne Georg und Gneomar waren mir später liebe Kameraden in St. Petersburg, mit denen ich zu den Ferien nach Estland fuhr, Schulter an Schulter gelehnt, wenn es auf der acht Stunden langen Fahrt Nacht geworden war.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers

 

Wahrheit oder Dichtung?

Auf dem Meridian von Delos

Normannisches Muttererbe

Aus väterlich geistigem Geschlecht

Baltische Art

Das letzte Jahrhundert meines Zweiges

Die Wahlsprüche meines Lebens

Geburt – ein Opfer der Freude

Mein Vater – des Klugen blinder Glaube

Kind – in der Wirrwelt

Meine Mutter – duldende Liebe

Tante Mathilde von Maydell

Die geistige Freundin des Kindes

Der erste Tod

Heimschulung

Balten – keine Russen

Hinaus ins feindliche Leben

Der erste Schultag!

Der Bühne erster Zauber

Ein heiterer – ein seltener Christ

Karl I. Stuart?

Der Verzicht auf das Krönungsfest

Der Einzug in Schloss Jootma

Wieder in Reval

Erste religiöse Bedenken

Schwere Erlebnisse

Eltern und Sohn

Russischer Machtwahn und Demokratie

Der zweite Tod

Name ist nicht «Schall und Rauche

Wenn Buben reif werden

Erotisch – nicht sexuell

Agi, die Frühgeliebte

Das Jubiläum meines Vaters

Seelenadel

Die arme Dame

Zwischen Jootma und Lechts: Elisar und Agi

Wandlungen

Letztes Schuljahr in Reval

Ich und die russische Welt

Gedanken, die voraneilen

Sankt Petersburg, das alte kaiserliche

Die Lotterie des Examens

Eine Fügung: Eduard von Mayer

Sankt Annen in Sankt Petersburg

Ein schweres Jahr

Vor der Berufsentscheidung

Die Universität und der Idealist

Liebe, Leid und Torheit

In der Familie des russischen Popen

Der einsame Studiosus Juris

Liebesprobleme

Der junge Denker und Seelenarzt

Vor dem grossen Entschluss

Das Elend männlicher Jugend

Neues Erwachen

Dem Schicksal entgegen

Der Auswanderer

Am Tode vorbei

Falsche Heiligkeit

Selbstwerdung

Aus dem Karneval

Über die Alpen

Erster Zauber des Südens

Schwermut in München

Von München nach Estland

Entfremdung

Fernensehnsucht und nahe Liebe

Berliner Universitätszeit

Meines Vaters Tod

Ich lächle dieser Tränenwelt

Die Tragik des Aufrechten

Tiefstand des Lebens

Lebensbund und Italienreise

Ein Intermezzo – Zwischengedanken

Im deutschen Sommer

Eine männliche und mannhafte Arbeit

Ein kleiner Genius

Ein Spielhagenabend

Liebendes Erwachen

Neapel und Pompeji

Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur

Von Süden nach Norden, von Norden nach Süden

Ein Winter in Rom

Der neue Glaube

Ein Mensch wie Du – kein Zerrspiegel

Erlöste und Unerlöste

Rhythmus der Sprachen

Wunderkräfte des Lebens

Fino von Grajewo

Meine Dramenschicksale

Berlin – Kur – und bunte Ferienwochen

Lichte Wochen am Genfersee

Noch ein Versuch in Berlin

Warum ich nicht geheiratet habe

Schwere Prüfungen

Zur Gesundung des Liebeslebens

Die Aufgabe Europas! – oder Untergang

Florenz: ein Haltepunkt meines Lebens

 

Der Weg der Liebe