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Technik und Kultur – Teil IV – Die Technik und die Zukunft

Die Technik und die Zukunft

29. Die Notwendigkeit einer neuen Weltanschauung

Die Technik war in ihren ersten Anfängen eine Förderin des persönlichen Lebens und dadurch der kosmischen Be­strebungen des Menschen. Sie ist in ihrer Vollkraft zwar immer noch ein Notbehelf des individuellen Daseins, aber kulturell und kosmisch der allergrösste Verderb geworden.

Wie soll es weitergehen …?

Zurück? – zurück ist immer der Weg zum Chaos. Also vorwärts! – ja, aber vorwärts heisst nur: hinauf!

Wir müssen uns gewöhnen, endlich wieder über den Hun­ger­standpunkt der Tierheit hinaus zum Menschheitswege der freudenschönen Gestaltung zu gelangen. Wir müssen alles bisher Erreichte und was noch die Technik in letzter Erfüllung erreichen kann – künstliche Lebensmittel, Ausnützung der Interatomkraft,1 Luftschifffahrt – als ersten Rohstoff künftiger Bildungen ansehen lernen. Wir müs­sen uns nicht am Ziele, sondern wieder an aller Erdendinge Anfang denken. Wir müs­sen einsehen, dass, was wir moderne Freiheit nennen, urechtes Mittelalter ist und unsere gepriesenen Fortschritte nur An­nä­he­run­gen an das Chaos sind. Wir brauchen nun nicht sofort im täglichen Leben, in Kleidung, Wohnung, Gewerbe, Verkehr und Staat alles abzutun. Nein! das alles soll bleiben, soweit es lebensfördernd und fruchtbar ist. Aber wohl sollen wir ein neu­es Ziel erschauen, wiederum nicht hinter uns, sondern höher hinaus in der Ferne. Das erste, was uns Not tut und was uns allein aus der Verameisung retten kann, ist neue Welt­an­schau­ung – wohlverstanden: Anschauung und Empfindung, nicht Geplapper. Aber empfinden und schauen kann nur der in­di­vi­duel­le Mensch, jeder persönlich für sich. Weltanschauung heisst nichts anderes als persönlich empfundene Stellung zur Welt, ähnlich in den Ähnlichen, verschieden in den Ver­schie­de­nen, kurzum ein Weltbild, so unendlichfach bunt, reich und lebendig, wie die Natur, die aus der Unzahl der streitenden Individualitäten ein wunderbarer Kosmos der Einheitlichkeit werden möchte. Weltanschauung in diesem Sinne hiesse die Masse überwinden, denn verpersönlichen heisst entmassen. Einen andern Ausweg, um die Masse unschädlich zu machen, gibt es nicht, als sie von innen heraus aufzuheben.

Ihr kosmisches Ziel kann hier auf Erden die Natur nur durch den Menschen erreichen. Es ist der Technik, der prak­ti­schen wie der geistigen, gegeben hierzu beizutragen – wenn sie wieder von der Persönlichkeit in Dienst genommen wird. Was notwendig ist, ist ein neuer Kurs, neue Orientierung, neues Ziel. Die Technik «selbst» wird uns nie und nimmer her­aus­füh­ren – so wenig als Münchhausen sich wirklich selbst an seinem Zopfe aus dem Sumpfe gezogen hat. Vergebliche Hoffnung, unsere Kultur müsse doch «von selbst» das Mittelalter über­win­den. Nein! das Mittelalter kann auch einfach Alter werden, Greisenalter. Manche Kinderkrankheit wird im ganzen Leben nicht überwunden. «Von selbst» wird die Technik nur immer tyrannischer, unpersönlicher. Dennoch kann die Technik hel­fen, kann sie eine Waffe der Befreiung werden – in der Hand der Persönlichkeit. Eine «spontane» Umkehr der Technik zu erwarten, ist ganz müssig. Spontan, kraftschaffend, rich­tung­ge­bend ist nur die Persönlichkeit. Aus den persönlichen Mächten des Weltalls quillt allein immer neue und erhöhte Kraft. Per­sönliche Kraft macht die Abnutzung der Kraft wieder wett und führt zum Aufstieg – die unpersönliche Barkraft sinkt abwärts. Von dieser unpersönlichen Barkraft redet die moderne Ener­ge­tik allein, wenn sie die «Erhaltung der Kraft» predigt (im Ersten Satz) und das «Abströmen der Kraft» lehrt (im Zweiten Satz). Der individuelle Ursprung aller Kraft, der individuelle Aufstieg ist ihr noch ganz unbekannt.2

Die Technik, in der Wissenschaft Tatsachenfülle, erlaubt, ja erzwingt heute eine neue Naturanschauung, grund­ver­schie­den von der geltenden, und doch so ähnlich den uralten Kind­heits­ge­füh­len der Menschheit. Die Technik soll diese neue Naturanschauung aus der Geburt heben. Diese neue An­schau­ung kann auch erlauben dasjenige beizubehalten, was an unserem Staatsleben wertvoll ist, nur, vor allem ohne den ent­persönlichenden Geist. Die Technik des Gewerbes kann, als Dienerin, das neue Leben erleichtern. Sie kann durch die Ver­kehrs­mit­tel dem Einzelnen die Freiheit geben, sich den Ort zu suchen, an den er gehört. Sie kann die grossen Städte de­zen­tra­li­sie­ren. Sie kann der Landflucht vorbeugen. Sie kann durch Reisen den Sinn weiten. Sie kann durch die Verbreitung von Bildern die Anschauung sinnlicher Schönheit fördern, den Sinn für die Form anerziehen, dem Glauben an die Göttlichkeit der Freude den Weg ebnen. Hierin kann die Technik noch un­end­lich viel gutes wirken –, wenn sie in diese Richtung bewusst gesteuert wird. Nichts soll zerstört werden, ausser dem Geiste der Unpersönlichkeit, alles soll Baustein zu schöneren Ge­stal­tun­gen werden, nicht Anarchismus, sondern gerade Gemein­le­ben, allerhöchstes, tätiges und freudiges, soll an Stelle des Staatsgefängnisses treten, das unsere Massensucht erschaffen hat.

30. Unsere sogenannte Weltanschauung

Welches ist unsere geltende Naturanschauung? In der absolut gleichen Urmaterie bilden sich – (wie?)a – die che­mi­schen Elemente, aus den Riesenstrecken leuchtender Gas­wol­ken ballen sich feuerflüssige Kugeln zusammen. Aus den absolut gleichen Atomen der Elemente finden sich die höheren Verbindungen zusammen, aus den feuerflüssigen Kugeln sondern sich durch Trägheit und Abkühlung kleinere Himmels­körper, die um den Rest der alten Feuerkugel als ihre Sonne kreisen. Aus den höheren chemischen Verbindungen ist – (wie?)b – das Eiweiss und mit ihm das organische Leben ent­standen, auf unserem Himmelskörper Erde hat sich die flüs­sige Urmasse allmählich verfestigt. Aus den Lebewesen ist nach und nach die Reihe aller Tiere und Pflanzen – (wie?)c – her­vor­ge­gan­gen, auf der Erd- Oberfläche haben sich die Ozeane und Gebirge, die Ströme und Flachländer herausgebildet. Aus den Tieren ist dann – (wie?)d – der Mensch geworden, auf der Erde sind durch die Tätigkeit des Menschen Wälder verdrängt und Felder geschaffen worden, sind Wege über sie hingelaufen, sind Ströme abgelenkt und Meere ausgetrocknet, sind Berge abgetragen und Städte gebaut worden. Soweit die Natur­ge­schich­te der äusseren Menschheit.

Und die Geschichte der inneren? Der wilde Urmensch ist ein von kindischem Aberglauben an lebendige Naturgeister geplagtes, rohes Geschöpf. Durch eine Reihe von Zwi­schen­stu­fen hat er sich zum reinen Glauben an die weise Vorsehung des Sittengesetzes entwickelt und führt ein glückliches (?) Dasein der Arbeit in musterhaften Staaten. Dieses Glück den zu­rück­ge­blie­be­nen Völkern Aussereuropas zu bringen, ist seine Aufgabe. Er hat sie zu bekleiden, wo sie noch so gesund sind, dass sie nackt gehen, ihnen Feuerwaffen zu geben, wenn sie nicht erfolgreich genug morden können, sie arbeiten zu lehren, damit sie nicht faulenzen, ihnen Gesetze und Staatsbeamten zu schicken, um die Unsittlichkeit zu verhindern, ihnen die Bibel zu bringen, um sie aufzuklären. Hat doch der allmächtige und gütige Alleingott sie bislang ohne Erleuchtung in der Qual ihrer Seelenfinsternis gelassen. Dass der erleuchtete Mensch der Zivilisation nebenbei noch die Naturschätze, Arbeitskräfte und Länder der Barbaren in Verwaltung nimmt, ist das Recht seiner «Menschenwürde», die er durch seine Technik erreicht hat.3 Im einzelnen ist wieder jedes Volk der zivilisierten, tech­nischen, sittlichen und aufgeklärten Welt der Höhepunkt der Kultur, neben dem die andern doch mehr oder minder zu­rück­ge­blie­ben oder entartet sind – z.B. vom deutschen Standpunkt die Russen, die Franzosen und Italiener, vom italienischen die Deutschen und Engländer, vom russischen der «faule Westen» und die gelben japanischen «Teufel». Und im einzelnen ist ferner jeder zivilisierte Mensch nur durch strengste Gesetze und Strafen davon abzuhalten, ein Verbrecher zu werden: des­wegen gehören Heer und Polizei zur sittlichen Welt­ord­nung.

Kurzum: aus absoluter Gleichheit der Atome ist durch Zu­fall hie und dort eine ungeheure Menge einzelner Körper und Wesen hervorgegangen. Jedes dieser Wesen ist seinen Art­ge­nos­sen gleich und aus solcher Masse von Menschheit hat dann der Staat die Bildungen des öffentlichen Lebens geschaffen. Nur durch Zufall, nur durch äussere Umstände – was für welche? – von Kraft und Raum sind die Atome zu Körpern geworden, nur durch Zwang der Mitmenschen und des Staates kann der Mensch zum Gemeinleben gebracht werden. Ein unpersönliches Ding, gleich dem Atom, ist jeder Mensch, nur die negativen Kräfte der Abstossung walten im Atom, wie im Menschen – positiv wäre nur der Massenzwang, der das Atom bändigt und den Menschen erhebt. Also eine Null unten und eine Null oben – das ist die Welt.

Und die Früchte dieser Weltanschauung …?

Obenan die Herrschaft der Staatsparagraphen, der Staats­be­am­ten­schaft und der Staatsheere, die den Menschen auf der Höhe der Zivilisation erhalten sollen. Aber durch Be­vor­mun­dung und berufliche Unterdrückung seiner lebendigen Kräfte schwächen sie ihn am Selbstgefühl, an der Selbst­ver­ant­wor­tung, der Tätigkeit und der Freude. Unter solchem äusseren und inneren Drucke wird er freilich träg, aufsässig, ge­mein­schäd­lich, wird – algebraisch gesprochen – zur negativen Null. Demnächst ergibt sich, dass das Leben des einzelnen nur soviel Wert hat, als er an der Gesamtheit mitarbeitet. Mitarbeiten heisst aber sich als willenloses Rad in Staat oder Gewerbe ein­stellen lassen. Also zum Staatsatom ist der Mensch geworden, seine Kräfte wirken nur roh, an unpersönlicher Roharbeit abgeschlissen. Da jammern die Staatstechniker über Rohheit, Materialismus, Pessimismus, über die Selbstmorde. Aber ihr einziges Mittel ist: die Staatsmaschine noch energischer ar­bei­ten zu lassen, strenger als je in Öffentlichkeit und Erziehung unsere Weltanschauung zu predigen, die Religion der Un­per­sön­lich­keit und die Ideale der Unterwürfigkeit – das Ergebnis ist nur, jedes Ideal, jede Religion gründlicher zu verleiden. Negativ ist allein unser mechanischer Staat.

Denn was ist die sogenannte Negativität im Menschen, ausser dem Selbstverteidigungstriebe der Persönlichkeit, die sich verletzt zurückzieht. Sie bricht zuletzt wider ihr Em­pfin­den verzweifelt aus, wenn ihr Dasein mit äusserem Zwang zurechtgehämmert wird. Das Sehnen der Persönlichkeit ist das Gegenteil von anarchistisch-chaotischer Mass­losigkeit – gerade die Gestaltung ihrer selbst an und mit der Umwelt. Wo eine Persönlichkeit masslos ist, da zeigt sich in der Regel gerade ein Zuviel von äusserlichem Gestaltungstrieb, eine gewaltsame Eingliederung und Unterjochung anderer Persönlichkeiten. Solche zu bekämpfende Gewaltsamkeit ist ja aber im höchsten Grade das, was das Wesen des modernen Staates ausmacht, der unpersönliche Staat der Masse.

Erkennen wir doch endlich den Trugschluss unseres Staats­le­bens. Die Masse als Ganzes kann das gewiss nicht, aber die Einzelnen haben es hier in der Hand, eine Kultursendung zu erfüllen. Entmasst die Masse, erzieht sie, verpersönlicht sie. Dann kann auch die Technik ihre Tyrannei verlieren – der­einst. Heute beherrscht sie viel zu allgewaltig das ganze er­den­stän­di­ge Leben in Nahrung und Empfindung. Äussere Um­än­de­run­gen, grosse greifbare Verbesserungen sind daher noch fast unmöglich – aber sie können und müssen im Kleinen und Ein­zel­nen beginnen. Jeder in seinem bescheidenen Lebens­krei­se, vorab in sich selbst, in der inneren Stellung zum Leben kann die neue Welt keimen lassen. Reifen und Frucht tragen kann dieses neue Leben aber nicht früher, als bis in Geschlechtern der Persönlichkeitsgedanke, die kosmische Anschauung von den Persönlicheren zu den Unpersönlicheren gedrungen ist, von den Einzelnen zur Masse. Nur durch diese innere Um­wand­lung und Sinnesänderung4 der Einzelnen kann allmählich die Masse in organisches, differenziertes Leben, Gemeinleben, übergehen. Jede Neuerung will so viel Zeit zum Siege, als die Bildung der Masse gedauert hat, der sie zugute kommen soll. Daher um so länger, je tiefer die Empfindungsschicht ist, die umgestaltet werden soll. Und umgestaltet werden muss gerade die tiefste der heute herrschenden Empfindungen – die Un­per­sön­lich­keit. Klare Einsicht in diese biologischen Bedingungen allein kann vor Entmutigung schützen; es kann besser werden, aber es kann nicht bald. Die ganze grosse zu erhoffende Le­bens­er­zieh­ung durch die Kunst dank der Reproduktions­tech­nik kann erst dann wirklich beginnen, wenn die grundlegenden Stufen der neuen Verpersönlichung gelegt sein werden. Zuerst, zu allererst, ihr Menschen –, verbannt aus euren Gedanken, euren Reden, euren Lehren, euren Schriften den Irrwahn aller Irrwahne, den Glauben an die Unpersönlichkeit.

31. Was ist Wahrheit?

Unsere Weltanschauung hat ethisch nur geschadet, sie ist von fadenscheinigster Unlogik5, von der ganzen Wirklichkeit wider­legt.

Warum können wir denn aber nicht mehr sehen, was doch so klar ist? Dem Kinde zeigt sich die Welt immer noch so neu und frisch, wie dem ersten Menschen. Aber unsere Sinne werden durch das Massenleben direkt und indirekt durch den abgestandenen Massengeist, durch die Reden der Er­wach­se­nen, durch den schädlichen Überfluss des technischen Luxus, durch Schule, Beruf und Öffentlichkeit verwirrt, getäuscht, gelähmt. Unser Bewusstsein ist ein sozial eingeengtes. Nur der ewige Kindersinn des Künstlers fühlt ununterbrochen den lebendigen Pulsschlag der Natur. Die Technik überwältigte die Natur und gab sie dem Menschen zum Dienst – wie konnte sie noch göttlich sein? Wenn das Kind persönliches Leben in Steinen, Blumen, Tieren fühlt, wird es bald belehrt, dass das alles «tote» Dinge seien. Nur es selbst, Vater und Mutter hätten Seelen, vom Alleingotte ihnen eingeblasen. So wird die Natur sofort mechanisiert. Zwar soll es nach des Alleingotts Belieben zu dessen Ebenbilde gemacht worden sein, dennoch muss es seinen Leib ängstlich verhüllen – nach dem Ebenbilde der Tiere! Staunend fügt sich das Kind dem Gewirr von Wider­sprüchen, die es fühlt, aber nicht begreift, fügt sich der realen Gottesgegenwart von Vater und Mutter. Ja, wenn diese sich doch als kleine lenkende Gottheiten ihrer kleinen Welt fühlen wollten! Aber so sind sie nur Automaten des öffentlichen Massengeistes, Räder, die auch des Kindes Natursinn all­mäh­lich zermalmen. Dann irren diese augenlosen Seelen durchs Leben und ihre entgeisteten Körper tun und arbeiten, was ih­nen Gebot, Nachahmung und Gewohnheit vorschreiben. Doch ihr eignes Leben geht wie ein klagendes Gespenst in ihnen um.

Wenige nur sind stärker: sie glauben noch im Stillen an das, was sie gefühlt haben, statt nachzusprechen, was die Masse – nicht fühlt. Dann suchen sie und grübeln sie und müs­sen die ganze Wirklichkeit zerfasern, müssen durch alle Mau­ern und Schranken der in langen Geschlechtern ent­stan­de­nen öffentlichen Weltanschauung bis zum letzten Atom hin­ab­stei­gen. Und da bleiben sie dann ermüdet stehen. Ihre einst am schaffenden Leben der Natur erwachte, dann gewaltsam er­nüch­ter­te Persönlichkeit durfte ja nicht mitschaffen, sondern nur arbeiten, nur mechanisch umgestalten, nur die Natur­for­men zerstören – und stark genug zerstörte sie alles, bis sie am Ziele zusammenbricht. «Alles ist eitel» – die Wis­sen­schaft gelangt zu diesem Schlüsse der Lebensmüdigkeit.

Nur wer an den Urbeginn der Welt angelangt noch nicht seine Kraft verbraucht hat, wer angesichts des Atomes noch weiter gehen kann und schöpferisches Wollen besitzt – dem kann dann die wunderbare Erkenntnis neu aufgehen, die ihm als Kind geraubt worden ist. Das ist denn auch der wahre Kul­tur­wert der Wissenschaft: dass sie, die ein Gift für schwache Menschen ist, nun für starke ein Gegengift gegen die tech­ni­sche Mechanisierung der Welt sein kann. Sie ist bestenfalls ein Umweg zu den lebendigen Quellen der Welt. Das Mittel, an dem Tausende zugrunde gehen, kann für den philosophischen Geist die Rettung werden, um durch das Chaos der Fülle zur schlichten Einheit des Kosmos zurück zu gelangen. Philo­so­phie­ren heisst: sich zur Natur zurück denken, und wie kin­des­schlicht und einfach ist sie nicht, in Wahrheit! Was das Kind fühlt, was der Naturmensch glaubt, was der Künstler schaut, der Philosoph kann es nur bescheiden bestätigen, wenn er aus seinem Epimenidesschlafe von zwei Jahrtausenden erwacht. Philosophie überhaupt ist regressive Religion. Bei den grie­chi­schen Philosophen setzte die Zerrüttung der alten Welt ein, bei Bacon, Descartes, Spinoza, Kant, besonders dem letzten, unsre moderne Zeit der absoluten Technik. Doch Technik und Wis­sen­schaft haben wider ihren Willen die Natur so laut zu Worte kommen lassen, dass es nicht länger angeht, Gehirnakrobatik zu treiben. Die Wahrheit pocht gebieterisch an.

Was ist Wahrheit? Formal: die umfassende Wirklichkeit. Was umfasst sie aber denn, was ist ihr Mittelpunkt, wenn nicht die Per­sön­lich­keit?! Der Wissensdrang ging nur von der Per­sön­lich­keit aus, die sich in ihrer kleinen Welt des Leibes be­un­ru­higt fühlte. Und die Wahrheit ist nur da, wo die Per­sön­lich­keit mit der Welt in Ausgleich gekommen ist. Wahrheit heisst: seinen persönlichen Platz in der Welt bewusst gefunden haben. Das ist die Wahrheit, für alle gleich und doch für jeden un­end­lich verschieden, verschieden für die starke, reiche Per­sön­lich­keit und für den sozial eingezwängten, eingeengten Massen­men­schen. Die Welt des einen ist weit, gross und lebendig-persönlich, persönlichen Lebens voll, für den andern ist sie mit den Brettern der öffentlichen Meinung rundum vernagelt, dumpf und mechanisch. Nicht nur Lebensfreude und Lebens­wert, Glück und Ethik: auch das, was als Höchstes gepriesen wird, die Wahrheit, ist nur persönlich zu erreichen, denn ihr Kern ist Persönlichkeit, Schöpferkraft, Freude und Frieden. Nur ist das nicht «die» Wahrheit von heute und der Masse Gnaden, die allgemeine und unpersönliche Vernunft. Diese wird so in den Himmel erhoben, nur weil sie ein Mittel ist, um die Persönlichkeit in ihrer Eigenart zu erdrosseln. Und sie wird eben darum am lautesten von denen ausgerufen, die nur Ar­bei­ter in der Fabrik des Massengeistes sind; – von denen, die nicht überlegen die Tiefe des Lebens erfassen, sondern nur ihre enge Fachmaschine kennen; – von denen, die nicht Geist, Leben, Persönlichkeit sind, sondern mechanisch-plumpe Räder ihrer Staatstechnik. Darum ward nie so viel gelogen, wie bei uns im Namen der «Wahrheit».

32. Die individuelle Naturanschauung

Die erste aller Lügen ist, dass die Natur tote Materie, gleich und unpersönlich sei, die zweite, dass das Bewusstsein des Men­schen in kühler Unpersönlichkeit bestehen müsse, die drit­te, dass der Mensch der gewaltsamen Beherrschung be­dürfe.

Denn die Tatsachen der Natur lehren zum ersten:

die sogenannten Atome sind voller Eigenbewegung, und ob sie gleich sind, hat niemand gemessen noch bewiesen. Viel­mehr ist es wahrscheinlich, dass sie verschieden sind. Was wir Element nennen, ist vermutlich nicht eine einheitliche Stoffart. Die Elemente sind Gruppen von einander an innerer Kraft na­he­ste­henden Atomen, die wir nach ihren praktischen Eigen­schaf­ten plump zusammenfassen. So fassen wir auch die Licht­wellen in die Gruppen der Farben zusammen und die Lebe­wesen, nach der Ähnlichkeit, in Familien, Gattungen und Rassen;6

wir kennen nur die äussere Betätigung der Atome: sie ist Bewegung. Die innere Betätigung können wir nur an der äusseren Wirkung messen, an der Veränderung, die sie in der äusseren Tätigkeit anderer Atome hervorbringt, an der An­zieh­ung oder Abstossung – je nach den inneren Beziehungen. Das beweist eine allseitige Kraftausstrahlung jedes Atomes, und nur aus dem Kampfe der Atomeigenbewegungen stammt das Fluten der äusseren Naturkräfte;

verbinden sich einander nahestehende Atome (eines und desselben sogenannten Elementes), dann verstärken sich ihre Eigenschaften unter Entbindung von Kraft. Je mehr die fremde Kraft ausgeschieden werden kann, um so fester schliessen sich die Atome einheitlich zusammen, werden aus Gasen flüssig und fest. Vereinigen sich Atome verschiedener Gruppen, so ver­än­dern sich ihre Eigenschaften, es entstehen chemische Ver­bin­dun­gen, die durch Kraftentlastung der kristallinischen Einheit zustreben;

jeder Kristall mit seiner eigenartigen Raumausfüllung ist eine innere Einheit von Atomen unter möglichstem Ausschluss fremder Naturkraft. In jedem Kristall muss ein der Gesamtheit überlegenes Atom mit überlegener innerer Macht als Mittel­punkt des gemeinsamen individuellen Körpers vorhanden sein;

was in jedem Kristall vorgeht, muss auf das Wesen der Atome zurückgehen. Jedes Atom muss in gleicher Weise aus den Elektronen entstanden sein, durch Überlegenheit einer Elektrone als Mittelpunkt. Es müssen also auch die Elektronen untereinander verschieden sein, individuelle Mächte, die sich auseinander steigend entwickeln. Sie heissen besser Aktiden;7

viererlei kennzeichnet die Aktiden: jede bewegt sieh ver­schieden schnell, jede wächst mit verschiedener Wucht an, jede strahlt Kraft in verschiedener Stärke aus, jede lässt aus sich neue Aktiden von verschiedener Ursprungshöhe hervorgehen;

in der chaotischen Masse von Existenzen entsteht dort ein Gebilde, wo eine überlegenere Macht (Aktide) in ihrem Laufe zunächst einige schwächere Atommächte (Aktiden) durch Kraft­aus­tausch an sich kettet. An diesen ersten Kern kann sich die weitere Masse angliedern, wenn keine allzu grosse Vor­herr­schaft der flutenden Naturkraft – Wärme – besteht oder sich durch Abkühlung verringert. Jedes Gebilde ist eine Bewe­gungs­ge­mein­schaft, ein dynamisches Gefüge; jedes Gebilde ver­än­dert sich fort und fort in seinem Bestande. Dieser Aktiden­wechsel ist die wahre Ursache des späteren Stoffwechsels.8 Das Chaos differenziert sich, wo sich mehrere Mittelpunkte durch mehrere Mächte (Aktiden) bilden. Diese Differenzierungen können durch überlegenere Aktiden zu höherer Organisation verbunden werden;

aus der unorganischen Natur kann das lebendige Eiweiss nur dadurch hervorgegangen sein, dass, unter günstigen Um­stän­den, erstmalig und immer wieder überlegenere, in­di­vi­duel­le Atommächte (die Aktiden) die Kohlen-, Stickstoff-, Sauer­stoff-, Schwefel-Wasserstoffe zur Einheit zwangen;

das lebende Eiweiss zeigt sich darin so überlegen, dass es sofort die anorganische Natur assimiliert und sich angliedert – sich nährt und wächst, bis die Kraft der Zentralmacht (Zen­tral­ak­ti­de) ihre Grenze erreicht und das Eiweiss zerfällt. Ist da eine neue überlegene Aktide zur Stelle, so differenziert sich die erste Lebezelle9 – es entsteht ein neues selbständiges Wesen durch neue individuelle Gestaltung der schon organisierten Materie;

aus den einfachsten Zellen können all die aufsteigenden Reihen der Lebewesen nur dadurch hervorgegangen10 sein, dass jeweilig, bei innerer Reife und äusserer Gunst, abermals überlegenere Mächte eingriffen und die Zersetzung der Keim­zelle in neue Organisation und Formen lenkten.11 So ist auch der Mensch nur dadurch auf der Erde erschienen, dass aus dem Rohstoff eines Affenembryo eine überaus überlegenere Aktide das neue, höchste Lebewesen bildete – früher, als bis die Aneinandergliederung der Aktiden soweit gediehen war, wäre es unmöglich gewesen;

wenn dank dem immerwährenden individuellen An­wach­sen jeder Aktide die oberste Aktide schliesslich nicht mehr mit den geringeren zusammenpasst, dann tritt die Trennung, der Tod ein. Aber jede Aktide sucht sich dann eine neue Gestal­tungs­mög­lich­keit im Chaos.12 Das ist das Wesen der Un­ster­blich­keit.

Also: persönliche ungleiche Mächte walten im Menschen wie im Atom, sind Weltmittelpunkte.

Zum zweiten lehrt die Natur:

in unzähligen Kräften flutet die Aussenwelt an den Men­schen heran, aber nur weniges dringt durch die Sinne ins Bewusstsein. Und hiervon verschwinden die allermeisten Reize spurlos – in der Erinnerung bleiben nur diejenigen haften, die sich stark mit dem inneren Leben verknüpfen. Nicht in «objek­ti­ven» Gehirnzellen, sondern in der Persönlichkeit des Men­schen ist es, wo die Wirklichkeit zur Anschauung wird;

das ganze bewusste Leben ist nur ein Ausgleich der inner­per­sönlichen Mächte mit denen der Aussenwelt, nur ein Be­wusst­wer­den der Indi­vi­dua­li­tät. Je stärker die Individualität ist, um so klarer und umfassender ist das Bewusstsein dank der weiterreichenden kosmischen Kraft; je eingeengter die In­di­vi­dua­li­tät, um so beschränkter und dumpfer ist das Bewusstsein naturgemäss. Wahrscheinlich ist, schwach oder stark, allen Gebilden ein Bewusstsein eigen;

das Bewusstsein tritt ein, wenn sich das individuelle Macht­ge­füge verschiebt: in Lust, wenn die oberste Aktide siegt und die Persönlichkeit sich festigt, in Unlust, wenn sie sich lockert. Aus den drei Urformen des Bewusstseins (Indi­vi­dua­li­tät, Lust und Unlust) entstehen in Wechselwirkung von Innen­welt und Aussenwelt (durch Abschwächung und synthetische Durchdringung) die Grundformen von Raum, Zeit, Materie, sowie sämtliche Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen –; nicht eine gleichgültige Zugabe ist die Freude, sondern sie ist das innerste Ziel für den Menschen. Die wahre Menschenwürde ist: mit möglichster Freude am Leben aufbauend zu wirken. Wo der Mensch freudlos schafft, ist er kosmisch im Nieder­gange.

Zum dritten lehrt die Natur:

der Mensch will nichts als in Freude sich erhalten und ausbreiten. Erst wo das nicht möglich ist, wird er zum Kampf getrieben. An sich ist es dem Menschen, wie den Aktiden, Elektronen, Atomen, Weltkörpern, wie den Zellen und Tieren, natürlich: sich in Gemeinschaft zusammenzufinden. Nur darf ihn diese nicht durch gewaltsame Unterdrückung zur Nega­ti­vi­tät treiben. Nur darf nicht durch übermässige Vermehrung Not gezüchtet werden und durch Vererbung von Krankheit der Mensch von vornherein zum eignen und allgemeinen Unglück geboren werden –; die Staatsgewalt, die den Menschen bän­di­gen zu müssen glaubt, irrt, weil erst sie durch Zwang den Men­schen widerspänstig macht.

Der persönliche, freudvolle Mensch ist eine aufbauende Macht, der entpersönlichte, leidende ein zerstörendes Gift: das lehren Natur und Geschichte. Das Leben ist Persönlichkeit – oder nichts.

 

Anhang

Wir sind die Rätsel dieser Erden
Und nicht die fern umeisten Pole,
Nicht Abenteuern dient dem Wohle.
Und soll dem Menschen Hilfe werden,
Erforscht das Herz und die Beschwerden!
Schafft Licht und Luft und Heiterkeit
Und schafft dem Menschen seine Zeit!

Elisàr von Kupffer: Auferstehung – irdische Gedichte

1) Vergleiche Gustave Le Bon: L’Evolution de la Matière, der das Wort: «energie inter­ato­mi­que» geschaffen hat.

 

Gustave Le Bon (1841–1931), Begründer der Massen­psycho­lo­gie. Seine Wirkung auf die Nachwelt, wissen­schaf­tlich auf Sigmund Freud und Max Weber, politisch ins­be­son­dere auf den Nationalsozialismus und seine Prota­go­nis­ten, war gross. Seine Gedanken sind teils stark zeit­ge­bunden und massiv durch persönliche Erfahrungen be­ein­flusst. Sie werden bis heute von der Sozialpsychologie diskutiert. Generell fällt bei der Lektüre von Le Bons Hauptwerk «Psychologie der Massen» auf, wie extrem negativ er Massen und ihr Verhalten bewertet. Häufig schimmert regelrecht Verachtung durch, und seine Argu­men­ta­tion ist die des elitären konservativen französischen Bildungsbürgers, der ein wenig auf die Plebs und die sie beherrschenden sozialistischen Vorstellungen herabsieht und kulturpessimistisch beklagt, dass Massen, die er für vorwiegend zerstörerisch hält, nun das bestimmende Element der Politik sein werden und nicht mehr Aris­to­kra­ten und andere Eliten – eine Tatsache, die er im Ein­lei­tungs­ka­pi­tel Das Zeitalter der Massen ausdrücklich bedauert.

Die Pschologie der Massen, PDF

Auch mit modernen politischen und Gesellschafts­stru­ktu­ren kann er wenig anfangen, zumal Le Bon der Meinung ist, dass Gesetze und Institutionen auf das Verhalten von Massen wenig Einfluss haben. Le Bon stellt vor allem dar, wie politische Meinungen, Ideologien und Glaubenslehren bei den Massen Eingang und Verbreitung finden, wie man Massen beeinflussen kann, wie die dazu notwendigen Führer entstehen, welche Eigenschaften sie haben müs­sen, wie sie wirken und untergehen und wo die Grenzen dieser Beeinflussbarkeit liegen. Immer wieder betont er den geringen Einfluss von Vernunft, Unterricht und Erziehung sowie die Anfälligkeit der Massen für Schlag­wor­te, grosse Gesten und geschickte Täuschungen.

Eine ähnliche Denkweise hat wohl auch Eduard von Mayer vertreten.

 

Le Bon betätigte sich auch auf dem Gebiet der Physik; 1896 beobachtete er eine neue Strahlung, die er «Schwarz­licht» nannte. Damit meinte er aber nicht das Gleiche, wie die UV-Strahlung bei der Wood-Lampe. Seine Theorie von der Natur der Materie veröffentlichte er in seinem Hauptwerk «L ’Evolution de la Matière», in dem auch seine Theorie des Himmelsäthers dargelegt wird. Ein Anhänger dieser Theorie war Henri Poincaré. Die Physik-Wissenschaft nach 1900 lehnte die Idee des Äthers ab und entwickelte anstatt dessen die Theorie der Quantemechanik und der allgemeine Relativitätstheorie.

Eduard von Mayer vertrat mit seiner Haltungstheorie seine eigene interessante, philosophische und wissen­schaftliche Vision, die in vielem den Theorien Le Bons entsprechen, sie sind Ausdruck seiner Zeit. Viele der damals noch offenen Fragen haben in den folgenden Jahren eine wissenschaftliche Erklärung gefunden.

Siehe auch Kapitel 30

2) In diesem individuellen Aufstieg und Neubeginn der Kraft liegt auch die Lösung des Problems der Willensfreiheit. Bisher war die Frage ganz falsch gestellt und für wie gegen konnte nie eine Überzeugung wirklich begründet werden. Gewiss, die einzelne Handlung und Empfindung des Menschen ist streng bestimmt, aber sein ganzes Wesen ist von innen heraus ein neuer Einschlag, ein neuer Anfang, ein neues Ziel.

Vergleiche auch das Kapitel Die individuelle Naturanschaung.

Eduard von Mayer war ein äusserst analytischer Denker und Philosoph. Dies zeigt sich auch darin, dass er sich hier mit einem – (wie?) – nicht scheute, darauf hinzuweisen, dass er bei der Niederschrift dieses Buches (vor 1906) teilweise keine Erklärung für das Werden der Welt hatte. Diese damals offenen Weltfragen wurden inzwischen teilweise gelöst.

a) Die allgemeine Relativitätstheorie (1916) von Albert Einstein, das Atommodell (1913) von Niels Bohr und anderen, die Quantenphysik (1900) von Max Planck, die Theorie der Quantenmechanik (1925-1936) von Werner Heisenberg und anderen, die Theorie des Urknalls (1927) von Georges Lemaître, geben uns heute eine Vorstellung von der Entstehenung des Kosmos, der Sterne und Planeten.

b) Die Theorie der Chemischen Evolution und das Miller-Urey-Experiment (1953) geben uns heute eine Vorstellung, wie die Nukleinsäuren, die Bausteine des Lebens, entstanden sein könnten.

c) Die Evolutionstheorie, insbesondere das Buch von Charles Darwin The Origin of Spieces (1857) gibt eine gute Erklärung, diese ist allerdings insofern zu relativieren, dass die Evolution nicht linear, sondern infolge veränderter klimatischer Bedingungen und gewaltiger Naturkatastrophen in Schüben erfolgte, wie beispielsweise der Einschlag eines Kometen (seit 1980 bekannt). Das Aussterben der Saurier ist daraus abzuleiten, wie auch die nachfolgende rasche Bildung von neuen Arten. Die Theorie der Biodiversitäts Hot-Spots (1988).

d) Über diese Frage ist man sich auch heute nicht einig. Eduard von Mayer gibt aber gute Antworten in seinem Buch. Für ihn sind der Eros, die Technik und die Freude am Schönen die wesentlichen Merkmale der Mensch­werdung.

Im biologischen Sinn ist der Schimpanse der nächste Ver­wandte des Menschen, das zeigen die Vergleiche der DNA-Sequenzen (seit 1995). Die Chromosomen­theorie der Vererbung wurde 1943 bewiesen.

Vom Affen unterscheidet sich der Mensch durch den aufrechten Gang, die Sprache, den Daumen, die nackte Haut, die Herstellung von Waffen und Werk­zeugen und der Nutzbarbachung des Feuers. Das war schon um 1900 jedermann klar. Entstanden sind diese Unterschiede wahr­scheinlich in Ostafrika, als der Regenwald (Lebens­um­feld der Affen) infolge klimatischer Ver­än­de­run­gen zur Savanne wurde. In den kleinen Gruppen der frühen Menschheit war die Zeugung unter Geschwistern und nahen Verwandten üblich. Bei der Teilung der Zellen entstehen Fehler in der DNA, welche durch die Doppelhelix der DNA neutralisiert werden. Unter Verwandten funktioniert das nicht mehr, es entstehen Mutationen oder «Missbildungen». Diese können in einer sich veränderten Umwelt von Vorteil sein. Durch sexuelle Kontakte mit anderen Gruppen nach einer Zeit der Separation, endeten diese Veränderungen nicht in einer genetischen Sack­gasse, sondern wurden Teil des Men­schen. Die Blutgruppen (erstmals beschrieben 1900) und der Rhesusfaktor (bekannt seit 1930) sind die grössten biologischen menschlichen Unterschiede. In der Welt sind diese unterschiedlich verteilt, doch alle Blut­gruppen kommen überall vor. Separation und Ver­mi­schung sind die Ursache der Menschwerdung, wie das Eduard von Mayer trefflich in Lebensgesetze der Kultur, Teil 4, schildert.

3) Vergleiche Multatuli: «Max Havelaar»; ebenso die Geschichte aller Kolonialskandale und Anhang III.

4) Sinnesänderung – es ist die «Κατανοια» Christi, die Luther alttestamentlich-paulinisch-mit­tel­al­terlich falsch mit Busse ( = Strafe) übersetzt hat. Die Gotteskindschaft ist das letzte und höchste Wort der Religion – das unerschütterliche Bewusstsein, dass, was in einem selbst – gestaltet und gestaltend, freudvoll und freudebringend – lebt, ein persönlicher Funke und We­sens­teil Gottes ist; und dass Sünde (d. i. Gott­ent­frem­dung) nur in Zerstörung, Hass und Lüge, den antikosmisch trüben, besteht. Wenn Christus auch persönlich auf dem Boden des Alleingottestumes stand, so hat er doch in seinem herzlich-kindlichen Verhältnis zu Gott als seinem Vater, gerade die Wiedergeburt des Polytheismus an­ge­bahnt. Vergleiche das Evangelium, Johannes 10, 33–36. Der Monotheismus, die nie zu beweisende Aus­schliess­lich­keit des einen Gottes, muss bekämpft werden, aber – so unglaublich das auch dem modernen kasernierten Gehirne dünken mag – nur um den Glauben an unendlich viele persönliche Götter wieder zu bringen. Ethisch hat dem, wie gesagt, Christus das Tor geöffnet, physikalisch-logisch beweisen lässt sich diese Anschauung – für die bei Goethe zahllose Belege sind – gerade wieder heute.

Vergleiche auch «Die Märchen der Naturwissenschaft».

Gerade aus der naturwissenschaftlichen Tatsache der Evolution lassen sich die zwingendsten Beweise für das reale Dasein von «Göttern» erbringen, von persönlichen, unendlich bewussten, überaus machtvollen Wesen, die trotz raumerfüllender harmonischer Gestalt doch in dem Sinne immateriell, «verklärt», sind, dass sie dem Stoff­wechsel nicht mehr unterliegen und ebensowenig dem Kraftverluste, den wir als «Schwerkraft» wahrnehmen. Sie können also den Weltraum durcheilen und ihre kosmische Kraft da betätigen, wo eine Persönlichkeit für sie reif ist, ohne schon die absolute Herrschaft ihrer selbst erlangt zu haben. Das ist der Sinn der «Gnade», die in allem reli­gi­ösen Erleben so tiefe Bedeutung hat. So starr die Dogmen sind, aus lebendigen Quellen sind sie entsprungen. Diese heisst es befreien, um der Lebensfreude zu dienen.

5) Nur ein Punkt sei erwähnt: dass sich, logisch, der Monotheismus auf den Atheismus weiter hin­aus­führen lässt und die atheistische Naturwissen­schaft umgekehrt auf den Schöpfungsglauben zurück – ein Circulus vitiosus der beiden Schwesterformen unserer antipersönlichen Naturanschauung. Und andererseits schliessen sich die beiden Hauptlehren der Natur­wis­sen­schaft, Energetik und Evolution, gegenseitig aus.

Vergleiche «Die Märchen der Natur­wis­sen­schaft», Nr. 2 der Sammlung «Lebenswerte».

6) Vergleiche «Die Märchen der Naturwissenschaft», Nr. 2 der Sammlung «Lebenswerte» und von Gustave Le Bon: L’Evolution de la Matiere, Seite 249 ff. In diesem Buche fand ich zu meiner grössten und begreiflichen Freude von einem ex­pe­ri­men­tie­ren­den Physiker dieselbe Anschauung ausgesprochen und bewiesen, zu der ich unabhängig gereift war – durch Vertiefung in die schon längst bekannten allgemeinen Tatsachen der Physik und Chemie. Nur dass Le Bon wohl die Unbeständigkeit der Materie und Elemente nachweist und anerkennt, aber sich noch nicht zur Einsicht der Individualität als des Urphänomens (mit Goethe ge­spro­chen) durchgedacht hat. Er steht noch ganz im Banne der Energetik, auch wenn er den bisher gültigen Satz: «Nichts wird geschaffen, nichts geht zugrunde» so umwandelt: «Rien ne se cree, tout se perd». In Wirklichkeit müsste es heissen: «Nichts geht zugrunde, alles wirkt schöpferisch – Nihil perditur, omne creat». Sonst wäre es mit dem Weltprozess schon seit Ewigkeiten vorbei – oder nie dazu gekommen. Es sei denn man steht auf dem Standpunkte von Genesis I.

7) Ich brauche hier noch den schiefen, aber üblichen Ausdruck: Elektron. Ich nenne diese Urwesen «Aktiden». Im Sinne des lateinischen «Actus» ist der tätige Urvorgang am nächsten bezeichnet. Aktide ist ein individuelles Wesen, dessen Dasein Tat ist.

In meinem (im Manuskript vollendeten) Werke: «Eros der Weltenbildner» wird die mathematische Gesetzmässigkeit und Wahr­schein­lich­keits­rech­nung tabellarisch ver­an­schau­licht sein, nach der sich die Aktiden auseinander entwickeln und schöpferisch sind – die wahren Quellen aller Evolution, die Erhalter und Neubeleber alles Geschehens.

8) An den unorganischen Körpern zeigt sich der Aktidenwechsel als «Kathodenstrahlung» also die α-, β und γ-Strahlen.

9) Vergleiche «Priesterin Mutter», Nr, 5 der Sammlung «Lebenswerte».

10) Vergleiche «Lebensgesetze der Kultur», Seite 22 ff.

11) Generatio aequivoca in utero heterogeneo – wie Schopenhauer es nannte. Vergleiche De Vries über die «Mutatio».

12) Vergleiche Kapitel VII.