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Lebensgesetze der Kultur – Zweiter Teil – Die Werte der Kultur: Unsere Zeit

XXII. Der Geist der Moderne

Die Zerrüttung unsres Lebens

Lauter Wechsel auf eine ungewisse Zukunft sind das Gut­haben unsrer Gesittung, wo es nicht gar verfallene Werte sind, die sie mit so tönendem Selbstlob gebucht hat. Denn wenn das Gemeinleben eine vorwärtsweisende Kraft sein soll, eine Er­höh­ung der men­schli­chen Natur, ein Kulturwert also, dann muss es eben auch nach dem Urbilde des Lebens, dem men­schli­chen Leibe, auf innigste Verschmelzung und Zu­sam­men­ge­hörig­keit aller selbständigen Zellen, der Menschen, hinstreben, oder aber es wird zur Behinderung, zur Lähmung, zur Er­nied­rig­ung des Menschentums, zum Kulturfeinde. Und das ist unsre Gesittung als Ganzes: was in ihr lebt und strebt, hat seine Kraft sei es noch aus dem Erbschatze der Vergangenheit, sei es aus der dämmernden Zukunft, und das Leben der Ge­gen­wart ist nur der Kampf dieser entgegengesetzten Mächte, und nicht einmal ein Ringen um gegenseitige höhere Gestaltung, sondern ein Vernichtungskrieg schlechthin.

Unsre Moderne ist das Ergebnis einer langen Blut­zer­setz­ung, einer stetigen Verschiebung des innern sozialen Schwer­punkts oder richtiger: der Entstehung zahlloser kleinerer Schwerpunkte, die in ihrem Umkreis gewiss noch eine Ver­ei­nig­ung erzeugen, aber gerade dadurch die ihnen nächst­lie­gen­den Mächte von den andern, ferneren und dennoch wesentlich zugehörigen loslösen und trennen. Das könnte so noch wie ein Fortschritt scheinen: denn das Heil liegt bloss in den kleinen Gemeinbildungen, die allein organisch sein und bleiben kön­nen. Aber nur sind diese Einzelbildungen unsrer Zeit nicht von einer Innenmacht geschaffen, die alle Seiten des Lebens um­fasst, wie wirkliche politische Gemeinden mit Gemeindebesitz und Gemeindeleben es wären, sondern einseitige Er­werbs­bün­de, Genossenschaften enger Interessen, wie alle Ringe, Kar­tel­le, Truste und Verbände: heute vielleicht wirklich un­ent­behr­lich, aber jedenfalls stellen sie kein organisches Gemeinleben dar und von ihnen kann eine Förderung nur in der Zersetzung und weiteren inneren Gegnerschaft aller gegen alle erwartet werden. Wenn sie ein kulturelles Verdienst haben, so wird es wohl nur das sein, unsre morsche Gesittung völlig zu sprengen, so dass es Luft und Licht für eine neue Kultur werden kann, … wenn es zu einer solchen kommen wird.

Das Gemeinleben hat natürlich äusserlich in erster Linie für die Leibesbedürfnisse des Menschen zu sorgen, aber da der Leib ein Ganzes ist, so müssen die einzelnen Glieder in ihren verschiedenen Bedürfnissen einander Rechnung tragen und so auch die einzelnen Zweige des Wirtschaftslebens. Aber heute haben Grossgewerbe und Landwirtschaft gerade entgegen­ge­setz­te Ziele, Unternehmer und Arbeiter, Regierende und Regierte passen alle nicht zusammen. Weil durch die Rasse­zer­setz­ung der halben Blutmischung und durch das Ausbleiben neuer Rassebildungen aus blutzüchtender gründlicher Blut­misch­ung das lebendige Gemeingefühl abhanden gekommen ist und der Staat seinen nun für notwendig erachteten äusseren Gemeinzwang durch wirtschaftliche Freiheit des einzelnen gut zu machen geglaubt hat, so ist der einzelne, weil sein Leben bloss Erwerbsleben zu sein hat, auf enge, einseitige, klein­per­sön­liche Erwerbsinteressen gestellt, die ihn gegen die andern und von ihnen wegtreiben. Die lebendigen Mächte sind zer­fal­len und Zersplitterung, Mangel an Gemeinsinn, eng­her­zig-kleinliche Selbstsucht sind daher der echte Ausdruck unsrer Moderne: selbst der sich überall regende nationale Gedanke kann sich noch nicht ganz aus diesem Geleise des Handels­geis­tes befreien, für den die Menschen nur statistische Daten sind, auch die kaum sich befreienden Völker wollen um äusserer Grösse willen fremde Stämme entrechten.

Das Gemeinleben als solches ist heute unorganisch, wider­spruchs- und gegensatzesvoll, zerfahren und ziellos; und ein getreues Spiegelbild im kleinen ist das Leben des Einzelnen. Früher besass das Einzelleben im Gemeinleben ein grosses natürliches, ihm voll entsprechendes Ziel: denn aus den bluts­ver­wand­ten Einzelwillen setzte sich ja organisch der Ge­mein­wil­le zusammen. Heute ist der einzelne auf sich gestellt; einmal durch unsre Weltanschauung des Erwerbes, die ihn für sich selbst sorgen heisst und ihm alle Mitlebenden als Nebenbuhler erscheinen lässt, sodann aber durch die geringe Einheitlichkeit des Gemeinlebens, das, weit davon entfernt, all seinen na­tür­lichen Kräften entgegenzukommen, sich ihm hartnäckig und gewaltsam entgegenstellt, sobald er wenigstens in sich selbst zur Einheitlichkeit und Übereinstimmung aller Lebenstriebe strebt. Von aussen also nicht nur nicht in seinem lebendigen Empfinden gestärkt, sondern vielmehr noch behindert, über­dies in die Tretmühle eines Erwerbsberufes eingezwängt, der seine ganze innere Tätigkeit in äusserlicher Arbeit aufzehrt, fühlt der Mensch je länger, je mehr seine innere Einheitlichkeit schwinden und wird zerfahren, haltlos und ungesund, wie unsre Zeit.

Der gesunde Leib betätigt alle Glieder entsprechend dem wahren Werte ihrer Triebe, und da kommt jedes soweit zur Geltung, als es ein Recht daran hat, und wird in seiner Tä­tig­keit abgelöst, sobald der Gesamtzustand des Leibes einer andern Betätigung zustrebt: so mässigen sich gegenseitig alle Glieder, weil sie immer alle zusammenwirken und bloss die äussere Leitung reihum geht. Sobald aber, sei es durch innere Krankheitszustände, sei es durch äusseren Zwang, die ein­heit­liche Gesamtwirkung, das Gemeinleben des Leibes be­ein­träch­tigt wird, und entweder ein einzelnes Glied ganz willkürlich zur ununterbrochnen Arbeit genötigt wird oder doch das mäs­si­gen­de Eingreifen der andern unmöglich gemacht wird: da zerfällt die Einheitlichkeit, da hört das echte Leben auf. Dann arbeitet eben das eine Glied solange es muss und kann, bis zur Er­schöpf­ung; und ist es erschöpft, dann stürzt sich ein andres Glied mit der Gewaltsamkeit seiner unnatürlich auf­ge­spei­cher­ten und zurückgehaltenen Kräfte in sein Recht an Betätigung und ruht nun; ebenfalls nicht mehr von den andern mit­be­stim­mt, seinerseits nicht, bis es sich voll verausgabt, also erschöpft hat; und dann kommt die Reihe der krampfhaften, un­ge­bän­dig­ten, masslosen Auslösung und Erschöpfung an ein drittes und viertes. Diese Erschöpfung schwächt und zerrüttet den Leib, diese gewaltsam vereinzelte Tätigkeit befriedigt je länger, je weniger und zwingt den Menschen nach Ersatz um Lust und Freude zu suchen, die dann auch nur in äusserlicher, will­kür­li­cher, ungebändigter, massloser Weise wirkt, also nur zu neuer Erschöpfung, Unbefriedigung, ja Ekel fuhrt.

Und so ist der Mensch unsrer modernen Zeit eben durch die Zerrüttung des Gemeinlebens selbst zur Zerrüttung ge­bracht worden: abwechselnd toben sich seine Muskeln, sein Gehirn, seine Sinnlichkeit aus, statt einander mit ihrer Tä­tig­keit fort und fort zu durchdringen, zu mässigen, zu adeln und so an der Freude des Menschen mitzuarbeiten. Gleich masslos sind wir in der mechanischen, wie in der geistigen Arbeit, in Sport oder sonst einem Genuss des Leibes oder Geistes. Arbeits­sucht, Wissenssucht, Genusssucht, äusserlich gleich gewaltsam, wie innerlich unfruchtbar: das ist das Zeichen unsrer Zeit, mit mancherlei Änderung das Merkmal jeder absterbenden Zeit, jeder blutzersetzten Kultur, wie etwa des Alexandrinertums oder der römischen Kaiserherrschaft.

 

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