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Fürsten und Künstler

Einleitung

Die Kunst geht nach Brot – dieses dürre Wort ist eine gan­ze Geschichte der Kunst, der Künstler und des Mäzenatentums. Der Mäzen ist der Arbeitgeber der Kunst, das Mäzenatentum umfasst den ganzen Arbeitsmarkt der Künstler; es ist nur eine der Seiten des Gemeinlebens, aber es steht in ihrer Chronik so viel vom inneren Leben der Menschheit berichtet: es ist die Kunst, unter dem Gesichtspunkte des Gemeinlebens betrachtet und zugleich das Gemeinleben, aus dem Empfinden der Kunst beurteilt. Das Mäzenatentum: das ist nicht etwa bloss die Fra­ge, welche Honorare ein Meister von einem Mäzen erhalten hat, sondern weit mehr — worin die Gunst besteht, die einem Künstler zuteil wird, was für eine Förderung dadurch der Kunst wird, und endlich, welche Wege die Kulturentfaltung aussen und innen nimmt, wenn diese oder jene Kunstrichtung durch das nachfragende Interesse des Publikums zum Siege gelangt.

Im Kunstwerke treffen sich ja zwei selbständige Lebens­ströme: der Schaffenstrieb des Künstlers und das Lustbegehren des Publikums. Der Künstler hat durch sein Schaffen die Form hingestellt, in der er selbst zum Gleichgewicht mit der Welt gelangt ist. An dieser Form sucht nun das Publikum seinerseits ins seelische Gleichgewicht zu kommen, aus dem Missbehagen zur Freude, aus Verworrenheit, Erschöpfung, Qual zu Schön­heit, Ebenmass, Einheitlichkeit. Natürlich muss da die Störung des Gleichgewichtes bei beiden Teilen sich entsprechen; das, woran der Künstler gelitten oder sich gefreut hat, muss auch in der Seele des dämmern, der das Kunstwerk empfangen soll: dann kann die schöpferische Selbstbefreiung des Künstlers auch zur Erlösung der bangenden Mitmenschen beitragen. So — im Bringen der Freude, in der Festigung des Lebens — kann sie wahrhaft und im höchsten Sinne schöpferisch-gottähnlich werden. Das ist ja der tiefste Daseinszweck der Kunst. Aber wie selten fallen ihre Samen auf fruchtbaren Boden, wie selten fin­den ihre Werke das liebevolle, offenherzige, warme Ver­ständ­nis, wie fehlt dem Publikum meistens das Vermögen, nach dem göttlichen Geschenk der Freude auch nur zu greifen! Wie arm und dürr in langer Entbehrung geworden, wie fremd und kalt steht das Pub­li­kum dem ursprünglich lebendigen Aufflug der Seele gegenüber und lässt den Künstler mit allen Schätzen seines Innenlebens einsam hungern. Und doch will das Pub­li­kum Erheiterung und Verschönerung seines Daseins und wen­det sich darum an die Kunst; nur verlangt es, dass die Kunst ihm mundgerecht gemacht werde und zieht wie be­greif­lich das vor, was ihm unmittelbar zusagt. Nicht Kunstinteresse über­haupt ist das Wesen des Mäzenatentums, sondern Be­vor­zu­gung und dann auch Unterstützung bestimmter Kunstarten, eben solcher, die jedem nahestehen — aus innerem Bedürfnis oder äusserer Erwägung. Die Brauchbarkeit einer Kunst zu be­stimm­ten Zwecken des Innen- oder Aussenlebens bestimmt auch ihren Anteil an den Segnungen des Mäzenatentums.

Das Mäzenatentum ist recht eigentlich das Bindeglied zwi­schen dem Gemeinleben und der Kunst, diesem Freileben unabhängiger Persönlichkeiten; das Mäzenatentum zeigt je­wei­lig durch die Gunst, die es erweist, was für innere Störungen des sozialen Seelenlebens da sind und nach Ausgleich streben: den soll die Kunst mit ihrer Herzenssprache bewerkstelligen. Das Mä­ze­na­ten­tum will also die Kunst, soweit und sofern sie geeignet ist, dem sozialen Leben dienstbar machen; das Mä­ze­na­ten­tum eröffnet somit der Kunst teilweise ein Feld frucht­ba­ren Wirkens; das Mä­ze­na­ten­tum gibt dann auch dem Künstler, dem brauchbaren Künstler seinen Anteil an den Gütern des Gemeinlebens, an dessen Krankenlager er gerufen wurde. So wird im Mä­ze­na­ten­tum die Kunst zu einem Wertmesser der sozialen Gesundheit und auch der sozialen Vernunft: aber freilich ist auch hier der Quacksalber mehr begehrt und be­lohnt, als der Heiland. Je nach seiner sozialen Brauchbarkeit, seiner sozialen Willigkeit, seiner Anpassungsfähigkeit findet also der Künstler sein Brot; ist der Kunst aber, ist der Kultur damit gedient?

Dass der Künstler essen muss, ist banal – natürlich; dass er sich mit seiner Tätigkeit den Lebensunterhalt erwirbt, ist recht und billig. Aber dass seine Leistungen ihm gar keine Sicherheit der Lebensmittel gewähren, dass seine aufgewandte Kraft nur ganz gelegentlich verwertet werden kann, dass er die Ursprünglichkeit seines Schaffens unter solche zahlende Ar­beits­gelegenheiten zu demütigen hat: das ist der springende Punkt der Mäzenatenfrage. Dass die Kunst nach Brot gehen muss, dass sie dem Brote nachlaufen muss, das ist eine ge­fähr­li­che Tatsache. Sie muss dann eben die Richtung ein­schla­gen, die der Brotspender genommen hat — auch wenn ihre innere Sendung sie ganz woanders hinwiese; sie muss überhaupt fol­gen und nachtreten, wo ihr wahres Wesen ist, selbst Wegweiser und Fackel zu sein, ja geradezu das Eingangstor des aller­letz­ten Weltzieles.

Doch wird das Mäzenatentum — die gewinnbringende För­de­rung des Publikums — durch diesen Missstand zu einer Prü­fung, Sichtung, Läuterung der Kunst. Versucherisch tritt es an den Künstler heran, bietet ihm alle Macht der Erde an, wenn er bereit ist, niederzufallen und anzubeten. Der es tut, hat seine Seele verkauft, hatte aber vielleicht gar keine Seele zu ver­kau­fen, hatte vermutlich gar keinen göttlichen Funken un­beirr­ter Schöpferkraft in sich, hatte wahrscheinlich nur einen breiten Knechtssinn, der alle seine Begabung im Dienste der Gegen­wart aufzehrt. Bleibt aber der Künstler seiner Natur treu, so ist erstens Schmalhans Küchenmeister, und auch die grosse Wir­kung lässt auf sich warten: scheinbar ein vergebliches Streben und in Wahrheit eine erneute Versuchung, dem Mammon zuzuschwören, eine verschärfte Prüfung auf den kulturellen, ethischen Wert des Künstlers. Natürlich gehen nun so viele Leben auf den Lauf und viele Persönlichkeiten erliegen einem allzu schweren Kreuze, viele Schöpfungen der Kunst kommen um, viele Schätze bleiben ungewertet. Aber das Leben weiss doch aus jedem Gifte ein Heilmittel zu bereiten, und die Einbusse, die der Kunst zunächst wird, wenn sie sich ver­stos­sen sieht, kommt in der Länge der Zeit doch wieder für die Mensch­heit ein.

Es ist ja naturnotwendig. Die schöpferischen Per­sön­lich­keiten, die ja ganz zuerst Selbstschöpfer ihres eigenen Wesens sind, physisch wie ethisch,1 haben den trägen, zähen Fluss des Gemeinlebens weit überholt.

Lange Geschlechter haben dahinzugehen und zur Menge anzuwachsen, bis ihre Massenkraft der wuchtigen Einzelkraft des einsamen Schöpfers das Gleichgewicht halten kann — dann hat das Gemeinleben ihn erreicht. Und dann wird er lebendig, dann verwirklichen sich seine Ideen, dann wird unmittelbare Form des Lebens der vielen, was einstens der Eine aus seiner Empfindung heraus für sich selbst gestaltet hat. Und einmal so bis in die geringsten Zellen des sozialen Organismus gesickert, verlieren sich die Ideen, die Lebensformen nur schwer: sie sind der unbewusste Kitt aller Einzelleben geworden, sie sind das soziale Gefüge selbst, unverlierbar, wenn auch veränderbar. Aber eben jede Veränderung muss mit diesem Vorhandenen rechnen, jede neue Idee kann nur dann auch recht bekommen, wenn sie die erb-alten mit übernimmt, sie durch sich, sich durch sie zu höherer Einheit emporkämpft. Die Langsamkeit der ersten Wirkung kann so zum Unterpfande des Fortschritts überhaupt werden. Fortschritt? Vielleicht sind alle Ideen ei­nan­der gleich wert, weil alle einmal Ausdrucksformen echten Erlebens gewesen sind; aber erst die Verbindung der ele­men­ta­ren Mächte schafft Höheres, Reicheres, Fruchtbareres. Darum ist solche Verbindung der Gegensätze zu Harmonie das Wahr­zei­chen schöpferischen Könnens; darum ist die Aufgabe der Schöpferkraft nicht die Nachäffung der Natur­un­voll­kom­men­hei­ten, sondern der Ausgleich der zerstiebenden Gegensätze, die Überwindung des natürlichen Chaos.

* * *

Dass das Gemeinleben der Kunst nicht mit mechanischer Pas­si­vi­tät, blind empfangend, gegenübersteht, sondern sich im Mä­ze­na­ten­tume eines individuell-lebendigen Organes bedient; — dass das Mäzenatentum in individuellem und doch zeit­his­to­risch bedingtem Geschmack für den Augenblick nur das Zeit­ge­mässe wählt und das Bedeutendere zurückstellt; — dass die Kunst so auf Herz und Nieren geprüft wird und durch schein­ba­re Unterjochung zur Grösse ihrer Aufgabe gestählt wird: — das ist also nur eine Form des Lebens überhaupt und seiner letzten Ziele, ist nur eine Äusserung des Strebens nach dem Kosmos, des Strebens, das alle Einzelmächte des Daseins zu festen Gemeinschaften verknüpfen will. Die höhere In­di­vi­dua­li­tät kommt dabei oft zu kurz, weil und so solange sie nicht ihren vollen Überschuss der Kräfte auf die minderen Mitglieder des Lebens überzuleiten vermag, sie emporhebend, sie bildend— Seele einer freien Körperschaft. An wem die Schuld liegt? — an niemandem, an beiden Teilen! An niemandem: denn es quillt aus dem Urgesetz der Natur, der Ungleichheit, die zu­nächst alle Gegensätze, alle Unbeständigkeit, das Leiden erzeugt, aber demnächst auch die volle Fülle des Lebens, den Reichtum der Formen, die Freude atmende Welt. Und es liegt an beiden: denn die höhere Individualität, da sie nicht die höchste ist, vergisst auch oft, dass ihres Wesens Wahrheit das Schaffen überhaupt ist, also das Ordnen der chaotischen, richtungsloseren, geringeren Individualitäten und damit die Bildung der grossen Einheitlichkeit — nicht diese oder jene Form der Schöpferkraft, nicht Gebäude, Bildwerke, Gemälde, Tonwerke, Gedichte, Gedanken, sondern das Leben. Nur zu leicht verliebt und verliert sich der Künstler an seine tech­nisch-persönliche Spezialität, seiner menschlichen Un­voll­kom­men­heit den Zoll entrichtend. Doch diese Unvollkommenheit, dieses Unverständnis für das grosse Weltziel ist ja bei dem Publikum, bei der Menge nichtschöpferischer, rich­tungs­be­dürf­ti­ger, ärmerer Individualitäten noch grösser, und darum sträuben sich diese erst recht gegen die grosse ethisch-kos­mi­sche Sendung der Kunst. Sie wollen nicht von den Künstlern in irgend etwas verändert werden, sie suchen gar nicht eine gros­se Zukunft in den Werken der Schöpferkraft, sondern nur den kleinen Augenblick.

Jedoch der Augenblick ist nicht etwas Leeres, er ist viel­mehr die Welt in ihrer jeweiligen Entwicklungsform und, enger genommen, die Stufe irdischer, sozialer, menschheitlicher Ent­fal­tung, die eben möglich ist. Wenn das Mäzenatentum denn aus den Augenblicksbedürfnissen heraus wählt, so nimmt es sich diejenige Kunstart, deren Formen der soeben herr­schen­den Tendenz entsprechen, und begünstigt solche Künstler, die aus innerer Verwandtschaft mit dem Strome des Augenblickes, doch ihm überlegen, soeben sozial von Wert sind. Ihre Kunst­wer­ke, die Formen, in denen sie das kosmische Ziel ahnen, schauen und vorbilden, sind der Zeit gemäss, weil die Zeit ihnen gemäss geworden ist, weil das ganze Gemeinleben all­mäh­lich für die Gestaltung reif geworden ist, die einstens schon den ersten Schöpfern dieser Formen gemäss gewesen.

Die Zeit will die Werke, an die sie herangewachsen ist und lehnt die andern ab, ja, sieht die andern überhaupt nicht, die ein weiteres, fernes Wegziel bedeuten. Sie kann in den Künst­lern solcher vorgreifender Lebensformen nur Störenfriede sehen, weil es ihr, weil es der Mehrheit der jeweils lebenden Menschen gar nicht um ausbauende Entwicklung zu tun sein kann, sondern nur um behagliche Erhaltung des gegebenen, erreichten Zustandes, in dem sie es

 

so herrlich weit gebracht.

Goethe

Darum kann das Mäzenatentum auch wesentlich nur für solche Künstler Verständnis, Verwertung, Lohn und Brot haben, die ebenfalls im erreichten Zustande wurzeln und gleichfalls an die Formen gerade herangewachsen sind, in denen ihr lebhafteres Empfindungsleben der Menge zum Vorbild sich ausdrücken und beruhigen wird. Das Mäzenatentum muss, sozial­phy­si­ka­lisch, die Meister überkommener Formen, die geschickten Beherrscher erlernter Kunst, die klugen Techniker der Künste, die Talente, heranziehen und fördern. Der Künstler, der auf dem Boden des bestehenden sozialen Gefüges steht, der von den geltenden Werten lebt, dem reicht das Mäzenatentum dankbar-hilfreich die Hand. Das Genie aber, das eine neue Welt in sich trägt, das eine neue Weltordnung fühlt und schafft, das die abgegriffenen Werte des Lebens umwertet, ist wesentlich vom Tische des Mäzenatentums ausgeschlossen, der arme Lazarus vom Gastmahl des reichen Mannes. Es begnügt sich und spricht:

 

Dass ich mir selbst gelebt, mir selbst allein,

Und das Geschaffene mich selbst erfreute,

Dass mich kein Beifall machte gross und klein,

Dass mich kein Elend, keine Träne reute.2

Elisàr von Kupffer

Doch wenn das Gemeinleben nur das gemeinsame Leben der einzelnen Menschen ist, so ist auch das Mäzenatentum in Wahr­heit nur die Fülle der Mäzene — Menschen von in­di­vi­duel­lem Fühlen, indivi­duel­lem Wert. Wenn das Mäzenatentum als sozialbiologische Erscheinung nur zu den Talenten in der Künstlerschaft greift, so sind die meisten Mäzene eben auch nur Talente von Men­schen, die das ihnen entsprechende Talent im Künstler begreifen und werten: kluge, machtvolle Men­schen, unentbehrlich und verdient um die Mensch­heits­ge­schich­te. Es gibt aber auch zuweilen Genies von Menschen, nicht eigentlich schöpferisch tätig, doch freie selbstherrliche Naturen —, und sie fühlen im Genie des Künstlers die neue Weltordnung heraus und suchen dann verehrend die Person des Künstlers von dem schweren, aufreibenden Kleinkampfe des Daseins zu entlasten. Nur Mäzene ersten Ranges, seltene Erscheinungen, können die Schöpfer ersten Ranges fördern; jeder Mäzen hat eben als Mensch seinen Platz auf der inneren sozialen Stufenleiter, höher oder niedrig, und er kann nur demjenigen Künstler die Hand reichen, der auf entsprechender Innenhöhe der Schöpferkraft steht. Das Gemeinleben kann einem Künstler also nur in einem ebenbürtigen Vertreter nahen, und kein Vertreter des Gemeinlebens kann über seine Stellung hinaus eine Mission erfüllen. Selbst wenn ein Mäzen einen Künstler fördern will, kann er es nur so weit, als er an ihn heranreicht; was über ihn emporragt, sieht er nicht, nützt er nicht, ja er lähmt es eher noch. Und da die Mäzene ersten Ranges so selten sind, läuft es geschichtlich doch wieder darauf hinaus, dass die wahren Wegweiser und Baumeister der Mensch­heit, die ethischen Genies, keine Unterstützung finden, höchstens noch im allzu raschen Fluge gehemmt werden.

Und das alles gibt dem Mäzenatentum in jeder Form sei­nen Stempel.

I. Kapitel

Das Mäzenatentum der Freundschaft

Ich singe wie der Vogel singt,

Der in den Zweigen wohnet,

Das Lied, das aus der Kehle dringt,

Ist Lohn der reichlich lohnet.

Goethe

Das ist die Urstimmung aller echten Kunst, alles echten Schaf­fens. Nicht nur der Dichter und der Musiker sind Lyriker in ihres Wesens Grunde, auch der Maler und Bildhauer können nur da Wahres und Grosses leisten, wo sie eigenes Erleben in der Formensprache des Pinsels oder Meissels niederschreiben. Auch der Architekt und sogar jene verkörperte angebliche Ob­jek­ti­vi­tät, der Philosoph, sind nur da schöpferisch, weisen nur dann dem tastenden Leben Wege, wenn und wo sie aus der Tiefe ihres eigenen Leidens, Suchens und Findens schöpfen. Der grosse Mensch erlebt in sich die Form seines Wesens, in ihm findet der kosmische Gedanke —, die Welt nach Über­win­dung des Chaos, die Welt als Kosmos — eine frühe Ver­wirk­li­chung, ihm geht im eigenen Fühlen eine höhere Weltordnung auf: und damit für die ganze Mensch­heit.

 

Lebt heut in mir die schöne Welt auf Erden,

So kann sie morgen, morgen — Menschheit werden.3

Elisàr von Kupffer

Das Ideal, das Jenseits, das tausendjährige Reich Gottes, nach dem die Menschen alle streben, ist ja nicht eigentlich […]

II. Kapitel

Die Dichtkunst und das Mäzenatentum

Das Mäzenatentum ist ein doppeltes Verhältnis: des fein­sin­nigen Mäzens zum Gemeinleben und zum Künstler; wichtig und entscheidend ist vor allem letzteres.

Das Verhältnis des Mäzens zum Künstler ist nichts ohne das Verhältnis des Künstlers zum Mäzen. Auch der willigste, machtvollste Mäzen kann einen Künstler nicht wahrhaft för­dern, wenn dieser über sich selbst und seine Aufgabe nicht im klaren ist, oder wenn seine Werke mit ihren Formen nicht so zwingend von ihrer Offenbarung reden. Jenes ist eine Frage der künstlerischen Bedeutung des einzelnen Meisters, dieses mehr die Frage der Kunstart. Baukunst, Bildkunst, Tonkunst, Dichtkunst — es ist eine aufsteigende Linie, nicht an Kunst­wert, der bei allen gleich ist, sondern an ethischer Wucht. Die Formen der Baukunst, die ja dem ganzen sozialen Leben un­mit­tel­bar zum Rahmen dienen und es fügen und meistern, sind doch scheinbar belanglos: so wenig bewusst, so in Wahr­heit organisch tief sind sie; eine Änderung ihrer Formen verrät den wenigsten eine neue Epoche der Menschheit. Die Bildkunst — Malerei und Skulptur — spricht so ausdrücklich zum Menschen und preist in ihren höchsten Werken den schönen nackten Leib als die letzte Vorstufe des Erdenzieles; gerade dadurch weckt sie in den beschränkten Sinnen unharmonischer Geister nur Hass […]

III. Kapitel

Die Mäzene und die bildende Kunst

Weil das Bewusstsein des Lebens der eigentliche Rohstoff seiner Werke ist, weil er mit klarstem Bewusstsein das Leben überschaut — des­wegen ist der geniale Dichter dem Gemein­le­ben ethisch so überlegen und dem Monarchen ebenbürtig, deswegen hält sich hier das Mäzenatentum mehr in der reifen Freiheit gedankentiefen Gemütslebens: das Gemüt ist hier das Organ des Schaffens wie des Empfangens. Aber was wäre das Gemüt ohne die weitgeöffneten Tore der Aussenwelt, die Sin­ne?! Durch diese flutet das Dasein in den Menschen hinein, und derjenige ist ohne wahres Leben, zu dem die Kunst der Sinnenwelt nicht mit lauten Zungen redet. Doch das Mä­ze­na­ten­tum, das Maler und Bildhauer gefördert hat, ist ein anderes, als das dem Dichter zuteil werden konnte. Nicht dass es sozial geringer wäre, aber psychologisch trübend wirkt doch manches mit, was den Einfluss des Mäzenatentums hier weniger ur­sprüng­lich und selbstlos erscheinen lässt: jedoch ist dieser Mangel nur ein Nebenschössling der künstlerischen Wurzel, die hier zutage drängt.

Die Freude an der sinnlichen Schönheit, an den Farben und Farbenklängen, an den Leibesformen und Bewegungen ist undenkbar ohne den Wunsch nach ihrer Gegenwart. Ein Ge­dicht kann in der Erinnerung mit voller Wucht erwachen, es kann «par coeur» hergesagt werden; aber die Erinnerung ist schwach […]

IV. Kapitel

Die Sammlermäzene

Die bildende Kunst der Renaissance und mit ihr wir alle schulden den Mäzenen des XV. und XVI. Jahrhunderts auf­richtigen Dank. Die Mäzene selbst nahmen sich aber ihren Dank schon bei Lebzeiten; fanden die Werke ihrer Gunst an heiliger Stätte Aufstellung, dann brachte ihnen das zu allem geistlichen Nutzen noch den Vorteil, als fromm, reich und kunstsinnig bekannt zu werden. Sonst aber blieben die Werke wohl in ihren eigenen Gemächern, in ihren Palästen und Villen: so liess Pandolfo Petrucci seinen Palast in Siena von Luca Signorelli ausmalen und Alexander VI. seine Gemächer von Pinturicchio, so malten Paolo Uccello und Andrea del Castagno in den Villen Bartolini und Pandolfini bei Florenz, so verewigte Mantegna seine Gonzaga in der «Camera degli Sposi» des Mantuanischen Schlosses, und Giulio Romano be­rei­tete dem Olymp einen Empfang im Palazzo del Te, so schmückte Paolo Veronese die Villa Giacomelli mit den fest­lichen Werken seines Pinsels. Zunächst hatten die Mäzene daran unmittelbare, stete Freude, aber sie hatten auch den Glanz, und die Gäste konnten es draussen jedem, der hören wollte, erzählen, wie prächtig der Palazzo innen ausgestattet war. Aber als ob in der Kunst jeder Gedanke an die Welt ausser der eigenen Empfindung ein Gift wäre, hat das Mäzenatentum in diesem Bestreben nach dem Glanz des Kunstsinnes die Kunst selbst geschädigt, die Künstler missbraucht und Kunst­wer­ke hervorgerufen, die bei aller Grösse den ersten und letz­ten Zweck verfehlen: zwanglos, rein zur Freude zu erheben. Der bunte Prunk hatte Gutes getan, als er die irdische Hei­ter­keit auf die Altäre trug, aber es wurde bös, als er nun die schöp­fe­risch­sten Geister Anstreicher zu spielen zwang.

Der echte Kunstsinn allerdings bewahrte auch hier vor dem Falschen: Donna Giovanna Piacenza, die geistesfreie Äbtissin von San Paolo in Parma, hiess Correggio ihren intim-zierlichen Speisesaal ausmalen, und es ist nun eine wirkliche Freude, dem Getümmel lustiger Knaben in der grünen Laube zuzuschauen, die der junge Meister in das Gewölbe gezaubert. In der Farnesina sind vom «Amor und Psyche»-Zyklus al­len­falls noch die Zwickelbilder zu geniessen, also künstlerisch — die Deckenbilder aber sind eine Verschwendung, die sich der päpstliche Bankier Agostino Chigi wohl leisten konnte, der­sel­be, der die goldenen Becher und Schalen in den Tiber warf, wenn der Papst bei ihm gespeist hatte. Freilich gingen sie nicht verloren, denn er hatte vorsorglich Netze in den Fluss versenkt, freilich war auch der Schatz von Raffaels Können nicht ganz umsonst. Aber dafür hat das Mäzenatentum eigentlich selten Sinn gehabt, dass es eine Sünde ist, das schaffende Genie zu Arbeiten heranzuziehen, die innerlich zweckwidrig sind oder für den eingestandenen Zweck leeren Prunkes tausendmal zu gut. Wenn das Kunstwerk sich erst in der Freude des Ge­nies­sens wahrhaft vollendet, so können die Deckengemälde we­sent­lich nie zum Kunstwerk kommen: sie schweben wie arme See­len des Fegefeuers unerlöst in der steilen dunkelnden Höhe, und selbst der beste Wille, sie zu geniessen und durch Genuss zum Leben zu erwecken, wird an den Nackenschmerzen zu­schan­den, die den Betrachter peinigen […]

V. Kapitel

Das Gemeinleben im Mäzenatentum

Wieviel Gutes und Schlechtes das Mäzenatentum auch hat, es ist, wie es sein muss, weil es ja aus dem Ganzen des Gemein­lebens stammt. Schon dass sich dieses nicht überhaupt gegen al­le höhere Kunst sträubt, ist ein Glück: denn je höher ein Kunst­ge­nuss ist, um so persönlicher ist er, um so mehr ge­wöhnt er an persönliches Leben, um so mehr verpersönlicht er die Menschen, entmasst er die Masse — eine Erziehung, die nur einem schlechten Gemeinleben zum Abbruche dient, einem grossgedachten jedoch zur Stärkung. Aber wo gibt es heute das? Die hellenischen, italischen und deutschen Kleinstaaten, aus denen unsere geistige Kultur fast restlos stammt, sind unserer Zeit mit ihren grosschaotischen Übergangseffekten zum Gespött, in unserer Zeit lebt ein Geist, der nicht nur kuns­twidrig, sondern auch kunstfeindlich ist. Dennoch ist auch bei uns das Gemeinleben schliesslich nur eine physikalisch-orga­ni­sche Mittellinie der einzelnen, persönlichen Mächte; auch heute wirken viele Persönlichkeiten im stillen einer besseren Zukunft vor, und diese wollen sich die Kunst nicht rauben lassen: sie sind es, die mehr oder minder unbewusst den kos­mischen Gedanken der Kunst — die Kunst als Wegzeichen zum Erdenziele — nicht versinken lassen und ihr die öffentliche Achtung festhalten, die ihr sonst längst entzogen wäre. Aus solchen über den Durchschnitt persönlichen Menschen […]

VI. Kapitel

Das Mäzenatentum der Masse

Unter allen Gütern der Kultur, allen Erzeugnissen des Men­schenwerkes ist Kunst das unentbehrlichste:4 für das Gan­ze der Kultur, weil sie mehr als Staat, Wissenschaft und Tech­nik Kultur wert hat, mehr als diese zu weiterer Entfaltung des Menschentums anspornt; und für die Menschen selbst, weil das Leben des einzelnen ohne Kunst noch einmal so arm wäre, denn ohne Kunst kann kein Mensch leben. Kunst in ein­fach­ster, ja rohester Form — gewiss; doch der ärmere Sinn findet an schwachen Andeutungen von Kunst dieselbe Befriedigung, die reife Kunstwerke dem entwickelten gewähren. Es ist bei­de­mal ein geistiger Hunger nach Freude, ein biologischer Lust­hunger, der sich Erfüllung schafft und sucht, der erste und ewige Erzeuger aller Kunst, der wahre Mäzen. Die lebhafte Sinnenfreude braucht der letzte der Menschen noch, und weiss sie in den bunten Federn seiner Jagdbeute zu finden oder in der grellen Tünche einer verfallenden Herberge, in der Run­dung seines Trinkhornes oder in der Wölbung einer irdenen Schüssel, im Jodler oder im Gassenhauer: das Leben des Pro­letariers will und kann so wenig der Kunst entbehren, als das unstete Dasein des Wilden es je entbehrt hat. Erst «mit dem letzten Menschen» soll der «letzte Dichter» das Erden­haus verlassen […]

Nachwort

Die Kunst als Wertmesser der Kultur

Die Geschichte des Mäzenatentums, selbst in knappen Zü­gen, zeigt in dem Auf und Ab der Lebensschicksale, von denen sie berichtet, das tiefe Fluten der Menschheitsentwicklung an. Nichts ist zufällig, alles entspringt aus Zusammenhängen und wirkt zu neuer Gemeinschaft, aber nicht alles ist gleich macht­voll, um das Innerste des Menschen zu bewegen, nicht gleich fähig, von diesem Innersten Wucht und Nachhall zu em­pfan­gen. Kulturgeschichte redet jede Entwicklung jedes Brauches, jedes Gegenstandes — aber nichts redet so eindringlich von den grossen Zielen der Menschheit, von ihren Wünschen, Wegen, Siegen, Niederlagen, Krankheiten, wie die Kulturgeschichte der Kunst. Vor allen andern Schöpfungen des Menschen ist ein Wertmesser der Kultur — die Kunst.

Wenn wirklich alles Leben nur abwärts strömte, wie die moderne Naturwissenschaft das phantasiert,5 die Mensch­heits­däm­me­rung müsste längst eingetreten sein — und doch glüht in jedem neuen Menschen, lebhaft oder schwach, der erste Funke einer zukünftigen Sonne! Wenn alles persönliche Leben bloss ein winziger Bruchteil der Summe aller übrigen Ereig­nis­se wäre — wie könnte je ein Mensch, unzufrieden mit dem Überkommenen, nach Neuem verlangen, streben und sich da­für opfern?! So aber fühlt ein jeder das Recht und auch die Pflicht, die Errungenschaften der früheren Geschlechter sich selbst anzupassen und anpassend sie zu verändern. Diese per­sönliche Umänderung der Kultur ist allemal die frische, trei­ben­de Spitze der Kultur — und es ist einzig eine Frage der Überlegenheit, ob diese Neuerung mit einer Zerstörung oder einer neuen Gestaltung endet. Ja, Kultur hat keinen andern Sinn und Wert, als dass immerdar wieder zu einem Keim er­klärt wird, was schon überreife Frucht schien. So nur schrei­tet das Leben fort, greift das Leben um sich, bleibt erhalten, was des Lebens wert ist, und wächst der Reichtum des Lebens an. Eine Kultur, die das persönliche Leben zu einem Kostgänger erniedrigt, der mit jedem Abhub zufrieden sein müsse, ist zur Entartung, Verarmung, Schrumpfung verdammt; und sie könn­te doch wachsen, schwellen, blühen, wenn sie jeden per­sön­li­chen Aufstieg als Stufe ihres Aufstieges betrachtete.

Nichts ist zufällig: aber sehr vieles ist für das Leben be­lang­lo­ser Staub. Nur dass der Staub auch ein Dämon ist, der verschüttet, ein Flugsand, der fruchtbares Land begräbt, wenn er nicht durch Bepflanzen «festgemacht» wird. Wer aber den tödlichen, belanglosen Zufall des Alltags fest und unschädlich, ja segensreich macht, das ist wiederum nur das per­sön­li­che Leben; die Persönlichkeit ist es, die kraft ihrer Tätigkeit zu eignem Ziele den Zufall in eine Gelegenheit verwandelt, in eine Gelegenheit, sich selbst zu gestalten und mit den fröhlichen Gestalten der eignen Welt die Wüsten zu bevölkern. Klug und gesund ist die Kultur, die sich am per­sön­li­chen Leben auf erbaut; töricht und krank ist die Scheinkultur, die das per­sön­li­che Leben auszujäten und auszuroden trachtet — sozialer Raubbau. Da wird das Leben zu trostlosem Gefängnis, die bun­ten Bilder der Freude werden von nützlichem Grau über­tüncht, Marmorleiber wandern in den Kalkofen, und wenn ein Men­schen­da­sein dahin ist, dann bleibt nur ein Zeugnis von so viel Lebensfülle übrig — ein Totenschein im Staatsarchiv. Hier heisst es in der Tat: «Vom Staube bist du genommen, zu Staube sollst du werden!»

Es ist nichts, was so den Wert — oder Un­wert — einer Kul­tur kennzeichnet, wie der Wert, den sie dem persönlichen Fühlen zubilligt. Und da das persönliche Fühlen fast nur in den Werken der Kunst weiterlebt, sind es die Kunstwerke, die zu Richtern der Kultur berufen sind. Das einzelne Kunstwerk ist ja überdies von seinem Schöpfer nicht nur dem Leben ab­ge­run­gen, dem persönlichen Streben und Leiden, sondern es ist ebenso der Zeit und den sozialen Verhältnissen abgetrotzt, es ist allemal ein Grenzstein der persönlichen Geltung und Duldung. Zeiten und Kulturen üben ein passives Mä­ze­na­ten­tum aus. Was für Kunst nun eine Zeit und Kultur duldet, was sie in und an der Kunst duldet, oder was sie mit Misstrauen verfolgt und abweist — das ist ihr wahrer Wertmesser.

* * *

Was sucht eine Zeit in der Kunst? — eine Zeit, das ist der Durch­schnitt der Menschen, deren Übereinstimmung ihnen das Übergewicht in allen sozialen Fragen sichert. Was bedeutet diesen Menschen die Kunst? Sie kann ein Gottesdienst sein, aber auch eine Wissenschaft, ein Spiel, aber auch eine Pro­phe­tie — je nach dem Zustande des sozialen Organismus. Die Zeit sucht nicht immer das, was sie braucht, um lebendig weiter zu wachsen, denn die Zeit kann von einer Unvernunft sein, die überraschen müsste, wüssten wir nicht, dass alles was da lebt, seine Lebensrichtung — aufwärts oder abwärts — zu behaupten sucht: das ist ja der Grund, warum Zeiten, Kulturen und Völ­ker, einmal in Abstieg geraten, unaufhaltbar absterben. Ist ein­mal das persönliche Leben ausgeschaltet, dann wird es im­mer mehr zurückgedrängt, und dann verfällt das öffentliche. Die geistige Nahrung, die zur Gesundheit führen könnte, erweckt nur Widerwillen. Denn wer nimmt Nahrung zu sich, leibliche wie geistige? — immer der einzelne Mensch. Und ist dem ein­zel­nen Menschen die persönliche Lebenskraft ge­nom­men, dann wird er unfähig, die Kräfte und Säfte zu verwerten, die ihm gut täten; und wenn er die Welt gewönne, sein Leben hätte keinen Sinn und keinen Halt. Ist er aber erst so weit, so sucht er auch gar nicht mehr nach einem inneren Ziel des Lebens. Und so lässt sich als Merkmal setzen:

 

eine Kultur ist um so ungesunder, je weniger sie in ihrer Kunst dem persönlichen Leben zum Aufschwung dienen will.

 

Dem persönlichen Leben zum Aufschwung: damit ist nicht die Verherrlichung jeder Schrulle gemeint, sondern die Recht­fer­tigung alles dessen, was den Menschen aufwärts und vorwärts tragen kann und will. Und davon reden und zeugen soll die Kunst, nicht in lehrhafter Tendenz, sondern in der un­mit­tel­baren Logik der Empfindungen, die aus Rhythmen, dich­te­ri­schen Bildern, Charakteren, Farben, Gestalten, Gebäuden, Tönen von selbst den grossen Schluss der Lebensweisheit er­zwin­gen: Freude in Harmonie. Sie kann es: denn sie hat es gekonnt.

So fänden die beiden notwendigen Kräfte alles Lebens ihre richtige soziale Rolle: die Entfaltung hat im Individuum zu liegen, aus dem sie quillt, die Erhaltung wird von selbst durch das Gemeinleben bewirkt. Aber das Gemeinleben kann eben gesund oder krank sein, kindlich-unreif oder alternd. Was wir Stoffwechsel, Wachstum, Verfall des Organismus nennen, das wirkt auch im sozialen Leben in seiner Weise weiter. Wie im einzelnen Leben, lassen sich auch im Leben eines Volkes, im Dasein einer Kultur Kindheit, Jugend, Alter und Greisentum unterscheiden — oder doch Analogien dazu. Und dann zeigt es sich, dass jedem solchen sozialbiologischen Zustande sein Kunstideal entspricht; aus ihrem jeweiligen Verhältnisse zur Kunst können wir ablesen, ob eine Kultur kindlich, jugendlich, erwachsen oder greisenhaft ist.

Die Kindheit ist im per­sön­li­chen Leben die Zeit lebhaften Wachstumes, aber doch eines Wachstumes, dessen Grenze vor­gezeichnet ist: in dem not­wen­di­gen Gleichgewichte der An­la­gen, Glieder und Aufgaben, deren Keim erblich gelegt ist. Ist dieses Gleichgewicht erreicht, ist der Mensch «erwachsen», dann hat das äussere Wachstum ein Ende. Aber dann zeigt es sich auch, wie viel «Jugend» ein Mensch besitzt. Manche Menschen gehen aus der Kindheit gleich ins Alter über — und so auch die meisten Kulturen. Sie haben keine Jugend — keine werbende und zeugende Kraft über die ererbte hinaus, sie haben nichts aus eigner Kraft zum Leben hinzuzufügen, sie sind bei­nah wirklich nur das Fazit ihres Milieus, sie sind bei­nah wirklich ohne Seele und Persönlichkeit. Jugend aber ist inneres Wachstum, Jugend heisst: die Grenzpfähle des Lebens immer weiter hinausrücken. Wer wahrhaft jung ist, der bleibt es, und stürbe er mit 83 Jahren, wie Goethe, der wohl zeitweise alterte, doch zu immer neuer Pubertät erwachte — wie er es selbst zu Eckermann ausgedrückt hat. Alt sein heisst aber: an der gewordenen Lebensform festhalten und alle Tätigkeit nur an die äussere Festigung des Gewordnen setzen. Das Leben steht aber nicht still; nicht vorwärtsgehen, heisst Zu­rück­blei­ben und das Leben nicht weiten wollen, heisst es schwinden sehen. Und darum schliesst sich an das Alter das Greisentum, der Verfall der Kräfte und Anlagen, die Auflösung der er­worb­nen Gestaltung.

Im Sozialen ist die Kindheit einer Kultur da zu suchen, wo noch zu allererst das soziale Gleichgewicht gesucht wird, wo die Beziehungen der Menschen noch nicht Stetigkeit gefunden haben, wo die Kräfte oftmals noch widereinander stehen, wo noch Unsicherheit der öffentlichen Institutionen herrscht wie Unsicherheit der persönlichen Wirkungskreise — und wo doch der Wunsch nach endlich fruchtbarer Betätigung lebendig ist, nach dem Ineinandergreifen der Wirkungen, nach ge­mein­sa­mem Leben. Diese reine Kindheit der Kulturen ist in der Regel von nicht allzu langer Dauer, weil sich unter all den ver­gäng­li­chen Bildungen dennoch einige kraftvollere finden werden, die sich zu Mittelpunkten der sozialen Ordnung setzen. Nur in Italien, wo nach der Zerbröckelung des Römerreiches eine neue Kultur begann, dauerte die Kindheit 900 Jahre, weil nach den Westgoten die Ostgoten, nach den Ostgoten die Longobarden, nach der langobardischen Herrschaft der Einfluss der kai­ser­li­chen Machthaber – Karolinger, Sachsen, Franken, Hohen­stau­fen – die Entwicklung stören, abbrechen und neu einsetzen kamen — so viel neue Wellen, die in die alten Kreise hi­nein­schlu­gen und dazu dienten, fast jede soziale Macht wieder zu spalten und zu zerbröckeln. Deswegen erscheinen und ver­schwin­den nacheinander so viele Grafschaften, Herzogtümer, Königreiche, und ausser der Kirche sind es nur die Städte, die langsam zu Sicherheit und Macht anwuchsen, weil jede Partei sie umwerben und verhätscheln musste.

Hingegen ist eine Kultur erwachsen und alt, wenn das Sammelbecken aller persönlichen Tätigkeiten, das Gemein­le­ben sich genügend in Macht gesetzt hat, um die persönlichen Tätigkeiten nach seinem Belieben zu lenken, zu beschränken. Den neuen Kräften neuer Persönlichkeiten Spielraum zu ge­wäh­ren, neuen Bedürfnissen neuer Zeiten entgegenzukommen — das wird ihr je länger, je mehr unmöglich; ihre sozialen Organe sind verknöchert, in Routine eingefahren; ihre Men­schen selbst wissen es nur allzu früh, wie sich in soziale Geltung zu setzen — man beobachte nur die amerikanischen Knaben, die alt geborenen «Geschäftsleute». Glücklich noch, wenn persönliche Kräfte sich dem Bestehenden zum Trotz eigne Macht und Wirkungskreise schaffen, bis sie sich Geltung erzwingen. Dieser teilweisen Kindheit nicht zu widerstreben, ist auch für eine alte Kultur das einzige Mittel der Erhaltung. Nur wenn die neugeborenen Kräfte von vornherein nicht einmal mehr das Vertrauen zu sich selbst haben, sondern alles von den schon bestehenden Organisationen erwarten und der Organisation der Organisationen — dem Staate — dann hebt für die Kultur, der Erneuerung beraubt, das Greisentum an. Menschen werden greisenhaft und Völker werden sozialistisch — es ist derselbe Vorgang. Und zwar bleibt es sich ganz gleich, welche äussere politische Form gerade herrscht — Byzanz bleibt das denkwürdigste Beispiel eines automatischen So­zia­lis­mus wie Ägypten das eines priesterlichen.

Kindheit, Alter, Greisentum der Kultur … Wo ist aber die Jugend? Sind das nicht junge Völker, die Revolutionen erleben und Eroberungen ausführen? Man redet oft von Russland als einem jungen Staate, weil es noch kein Parlament hat, und vergisst ganz, dass 1862 schon das tausendjährige Fest des russischen Staates gefeiert worden ist; man nennt die Japaner ein junges Volk, weil sie sich der europäischen Technik und Politik erst seit 40 Jahren zugewandt haben; die Franzosen reden von sich selbst mit Bedauern als einem gealterten Volke — und vor 1789 wären sie noch Kinder gewesen. Sind sie in 100 Jahren gealtert und zählte das Jahrtausend früherer Ge­schich­te gar nichts? Ich meine: technische Neuerungen mitmachen, heisst männliche Lebensklugheit, wenn diese Technik Kraft­er­spar­nis verspricht; eine Volksvertretung genehmigen, wie der Mikado getan, ist auch nur die kluge Manneseinsicht, wie ver­wickelt das öffentliche Leben geworden — da können die Behörden nicht mehr alles leisten; erobern und kolonisieren — es ist äusseres Wachstum, das sich ein Feld der Tätigkeit sucht. Doch inneres Wachstum, Jugend ist all das nicht. Jugend ist Entfaltung, Entfaltung ist nur im einzelnen Menschen, Jugend ist mithin nur in der Persönlichkeit, die aus der Fülle eignen Seelenreichtumes die Welt gestalten will. Völker sind kindlich, gereift, greisenhaft — jugendlich sind nur die Persönlichkeiten. Und will man durchaus von Jugend in einem Volke reden, so ist davon so viel vorhanden, als die Persönlichkeiten in ihm Spielraum haben, Neues zu offenbaren.

Und nun ist zu beachten: die Kunst der sozialen Kindheit ist die Kunst als religiöser Dienst, die Kunst des sozialen Alters ist die Kunst als Nachahmung, die des sozialen Greisentums — Spiel. Die Kunst aber der Jugend ist die persönliche Kunst als Prophetie, als Offenbarung neuer Lebenshorizonte.

 

Das Weltgeheimnis ist nirgendwo; es ist nicht hier und nicht dorten,

Es schaukelt sich wie ein unschuldiges Kind in des Sängers blühenden Worten.6

Karl Immermann

* * *

Die Kunst der sozialen Kindheit ist religiöser Dienst, ist Reli­gion als fromme Übung, nur wenig als Gesinnung. Um die über­sinnlichen Mächte sich willfährig zu machen, legt der Mensch sich aufs Zaubern und bedient sich als zauberkräftigen Mittels der Kunstformen, die er vorfindet. In ganz primitiven Zeiten erfindet er sie wohl auch selbst; in der geschichtlichen Regel aber benutzt und vernutzt er, was von fremdem hoch­per­sön­li­chen Empfinden geschaffen war, nun zu seinen Zwecken: tiefgefühlte Lieder werden ihm zu Gebetsformeln, die Gestalten der bildenden Künste werden Fetische. Im orthodoxen Russ­land, wo in jedes Zimmer ein Heiligenbild gehört, drehen ge­wis­sen­hafte Einbrecher das Bild gegen die Wand, um nicht von ihm beobachtet zu werden. Besonders das Mittelalter ist voll von Zeugnissen, wie rücksichtslose Energie und ge­wis­sen­lose Verschlagenheit mit der Frömmigkeit Hand in Hand gehen — einer Frömmigkeit, die zwar barbarisch ist, aber doch echt, denn sonst hätten die trutzigen Kämpen doch wahrlich nicht ihr sauer geraubtes Land und Geld an Kirchen und Klöster, zu Kapellen und Bildern vermacht. Selbst Richard III., wie Sha­kes­peare ihn schildert, war vielleicht kein Heuchler, und Ludwig XI. ist von Walter Scott meisterhaft in seiner religiösen Barbarei gezeichnet.

Die Meinung ist ja allerdings landläufig — besonders bei einem modern-skeptisch-nordischen Publikum — all die Göt­ter- und Heiligengeschichten wären doch wohl von den «Gläu­bi­gen» nicht recht geglaubt worden: schon der unmodern offenherzige Lebens- und Liebeswandel bewiese, dass sie doch wohl nicht die sonst selbstverständliche Strafe des Himmels gefürchtet hätten. Erstens war die Strafe nicht gerade immer nach heutigen Paragraphen zu erwarten, Strafe überhaupt haben die Leute aber schon gefürchtet, das beweisen gerade die Opfer, die gebracht wurden. Das Praktisch-Geschäftsmässige, z. B. die Ablasstarife, zeigen klar, wie erdenwirklich die ganze Überwelt war. Nur begreifen solche Naturen und Zeiten die Gottheiten nach dem eignen Charakter — als gewalttätige We­sen, die in fortwährendem Streite um die Welt begriffen sind; und man konnte ja nie wissen, welche himmlische Partei siegen würde, welcher zu folgen es sich lohnte. Solche Naturen und Zeiten sind noch wirklich unfähig, die höhere Ordnung des Weltalls zu erkennen — die auf harmonische Bildung abzielt; sie sehen nur die niedere Ordnung, die noch allzu viel von Un­ord­nung an sich hat; sie sind nicht reif für die Hilfe der höhe­ren Gottheiten, sondern sind noch Spielball der Dämonen. Ihre Kunst dient nicht dem Kultus, sie ist Kultus und damit ein Bekenntnis zu den aussermenschlichen Mächten; ein plumpes Bekenntnis, gewiss — aber doch ein echtes Zeugnis der Men­schen­seele, die ihre eigene Bestätigung im Glauben an die Allgültigkeit persönlichen Lebens findet: denn das ist Religion.

Die Kunst sozialer Kindheit ist gottesdienstlich, weil solche Kultur durch die derbe Selbständigkeit der Personen gekennzeichnet ist, die — in andern Zeiten und Verhältnissen wohldressierte Staatsbürger — nun noch selbst ihr Leben dransetzen müssen und mit unberechenbaren Naturgewalten ringen. So erhält sich ein religiös ursprüngliches Bewusstsein und die Durchdringung des Alltagslebens mit religiösen Bräu­chen und Bildern. Das Landleben, z. B., mit der grossen Unsicherheit von Wetter und Seuchen bewahrt die Menschen in mancher Hinsicht als kindlich — die religiösen Formeln, Feiern und Gestalten leben in der Landbevölkerung endlos nach. Es ist ein primitiver, natürlicher Konservativismus — kein politischer, sondern ein physikalischer Zustand der Ste­tig­keit, zuverlässig wie der Jahreskreislauf der Landarbeiten und doch so unpolizeilich unmittelbar, wie die Schwankungen der Natur. Ägypten, das durch die priesterstaatliche Be­vor­mun­dung eigentlich dem Absterben zustreben musste, erhielt sich in einem Mittelzustand von Kindheit und Greisentum vor allem, weil es ein Ackerbauland war; und so erhielt sich auch die ägyptische Kunst immerdar als gottesdienstliche. An­de­rer­seits war das staatliche Wesen dank der dichten Bevölkerung des fruchtbaren Niltales früh mächtig und daher stammt der frühe, reife — und auf die Dauer doch ganz unfruchtbare — Realismus der ägyptischen Kunst, die protokollarische, «ob­jek­tive» Nachbildung der Wirklichkeit. Religiöser Realismus, der in der endlosen Wiederholung schliesslich nur ein kon­ven­tio­nel­les Spiel werden muss — da ist Kindheit, Alter und Grei­sen­tum, der ganze Ägyptizismus, gegeben.

Ich sehe im «Realismus» die Wirkung einer macht­süch­ti­gen Staatlichkeit. Nur! — das Verlangen nach Rea­lismen, aber sie bekommt nichts zu greifen; sie fühlt sich als Mittelpunkt, aber der Radius ihres Könnens soll keinen eignen Kreis runden dürfen — reicht er doch weiter als die erprobten Schranken. So wird die Behinderung naher Selbstverwirklichung zur Sehn­sucht eines unendlich Weiten; die äusserlichen Grenzen, die dem Leben gezogen werden, stacheln es ins Grenzenlose auf. Das Leben verliert Mass und Halt durch äussere Massnahmen und Stützen; das Leben, das nach Nummern und Winkelstäben gebucht worden, wird der quellenden Kraft zum Rätsel. Da erwacht der wissenschaftliche Sinn, der hinter jede Er­schei­nung ein Fragezeichen setzt. Mit Nietzsche gespöttelt, küm­mert der Mensch — der überhaupt noch für etwas ausser sei­nem Erwerbsberufe Sinn und Zeit hat — sich nun nicht so sehr um die Überwelt, wie um die «Hinterwelt». Der Mensch fühlt nicht mehr in jedem Dinge eine waltende, gestaltende Macht, sondern entdeckt hinter jeder Erscheinung ihre Ursache, die als Erscheinung wieder ihre Ursache haben muss; da reisst ihn bald am Narrenseile der «Kausalität» seine eigne entwurzelte Persönlichkeit in die unendliche Ermüdung und Erschöpfung fort. So viel zur sozialbiologischen Entstehungsgeschichte des erschütterten Gleichgewichts — des «Wahrheitsdranges», der durchaus nicht Ursprünglichkeit und Gesundheit des Geistes bedeutet, sondern bestenfalls ein Streben nach Genesung, das dazu noch allzu oft sich selbst vereitelt.

Und nun befasst sich dieser «Wahrheitsdrang» mit Kunst. Von Gottesdienst kann natürlich bald nicht viel mehr übrig bleiben; in solchen sozialen Zuständen kommt es ja auch mehr auf bürgerliche Fügsamkeit und technische Brauchbarkeit an, als auf persönlich-ursprüngliches Empfinden, und der sittsame Lebenswandel ist die hier wahre Frömmigkeit: die «Moral» — der kategorische Imperativ der Verameisung. Nur soweit es sozial wünschenswert ist, Autorität zu predigen, wird das alt­hergebrachte Kirchengehen von Wert sein und die Unter­wür­fig­keit unter amtlich gebilligte Anschauungen: die Dogmen. Der Gottesdienst wird zur Erinnerungsfeier, zum Symbol. Da aber dem Menschen noch an Kunst und Pracht gelegen ist, so wird der Wahrheitsdrang die Nachahmung der Natur zum Inhalt aller Kunst ausrufen, den «Realismus» — obschon dieser nur als Ausgangspunkt einen ächten Wert besitzt. Dass die Kunst niemals wirkliche Nachahmung der Natur ist — braucht das noch bewiesen zu werden? Sie soll aber Nachahmung sein, Nachahmung «der» Natur, der patentamtlich eingetragnen und polizeilich beglaubigten. Dieses Soll ist es, worum es sich han­delt und worin der kulturgeschichtliche Wert auch solcher Halb­kunst beruht. Halbkunst ist sie, weil sie halbe Wis­sen­schaft sein will; wie viel Können wird da vertan, weil ihm der Mut zum Aufschwung geraubt worden — und wo soll der ohne Phantasie herkommen? Aber die Phantasie, die über alle Mau­ern fliegt, was soll die in einem wohlgeordneten Gemeinwesen? Nur um Urkunden ist es solcher gealtert-emsigen Gesittung zu tun; für Behörden, für Gelehrte, für das Publikum hat jede Sache so viel Wert, als sie urkundlich belegt, verbrieft und besiegelt werden kann. Deswegen sollen auch die Kunstwerke nur Kataloge von «documents humains» sein — warzengetreue Gliederpuppen, Dichtungen mit Heimatschein. Urkundlichkeit dient den Kunstwerken als Entschuldigung — so werden sie als «beinah wissenschaftliche Arbeiten» in die allgemeine Mühle der Nützlichkeit eingefügt. Die Kunst als Wissenschaft, als Magd der Wissenschaft, als Objekt der Wissenschaft — nur nicht als Vorspiel und Zuversicht aller Erdenhoffnung: das will der «Dokumentarismus» als Kunstideal, einer sozial ge­sät­tig­ten — und doch so unbefriedigten — gealterten Kultur. Er will Totenmasken des Daseins.

Eine Kultur kann aber nicht bloss altern, sondern auch greisenhaft werden — wenn ihre Träger schliesslich die Kraft und Lust verlieren, auch nur zur Er­hal­tung des Bestehenden sich dranzusetzen; es genügt ihnen, dass die Institutionen da sind — wie gut oder schlecht sie wären — und wenn sie satt sind, wollen sie sich zerstreuen. Es ist nicht das lebensheitre «Pflücke die Rose» — sondern das hektisch-müde: «Apres nous le deluge». Welche Form dieses Greisentum annimmt, hängt davon ab, was für eine soziale Schicht die Kultur trägt, ja dar­stellt. Vor der französischen Revolution war die weite Bau­ern­be­völ­ke­rung noch sozial kindlich, die Stadtbevölkerung war gerade dabei, erwachsen zu werden, die «Gesellschaft» aber, in direkter Annäherung zum Hofe, war die Kultur Frankreichs und war greisenhaft. Hier war das Greisentum zierlich und aristokratisch, weil die Kultur von einer an Zahl geringen und daher exklusiven Schicht bedingt war. Als die Ostgoten sich zum Adel Italiens gemacht hatten, da waren sie Kinder und die Rokokogreise waren da die guten Bourgeois der römischen Munizipien, gar nicht feudal, sondern behäbig und sparsam — und doch war auch damals die Kunst nur noch ein Spiel, und das ganze Leben nicht wert, ernst genommen zu werden. Wer am Niedergange einer Kultur schuld ist, ist schwer zu sagen — aber vor den Rokokoperioden gehen die Barockperioden her, deren Merkmal starke, absolutistische Herrschergewalt ist, eine Staatsgewalt, die in gealterter Kultur wurzelnd, diese Al­te­rung stetig vermehrt. Die Barockkunst zeigt allemal in Prunk und Pracht etwas von jenen Spielen, mit denen die römischen Imperatoren ihre Untertanen an die Gnade des Staates zu ge­wöh­nen wussten: an ein humanes Sklaventum.

Auch in unsrer Zeit mischen sich die verschiednen so­zia­len Phasen und ihre Träger; sie ist noch kraftvoll, aber die Zeichen der Greisenhaftigkeit mehren sich. Wie die bit­ter­erns­ten Kämpfer ums Dasein ihre Urkunden-Kunst wollen und haben — die neuste ist die Gorkis — so kommt in der Vor­herr­schaft der Musik jeder Art, besonders deutlich aber in dem sezessionistischen Stile, der Spieltrieb unsrer Moderne zum Ausdruck. Denn wirklich, nach des Tages aufreibender Arbeit, was kann man vom Abend mehr verlangen, als Zerstreuung? Der Fabrikarbeiter geht Feiertags zur Musik, die sogenannten «besseren» Stände finden allabendlich beim «Lustigen Ehe­man­ne» Bierbaums, im Überbrettl, im Varietee, in den Possen die Verwirklichung ihres Kunstideales: L’ art pour l’ amu­se­ment. Auch in der bildenden Kunst suchen die kritischen Leiter mehr und mehr nicht die Naturtreue, sondern das virtuose Spiel mit der Technik. Das Kunstgewerbe ist in erfreulichem Aufstieg. Das beweist einerseits wachsenden Wohlstand, aber es zeigt auch, wie der Kunstsinn sich mehr und mehr eben nur dem Zierspiel zuwendet und wenig für die grossen Akzente übrig hat. Wir nähern uns der Kunst des bellamysch-so­zia­lis­ti­schen Staates, wo jeder ein «petit bourgeois» mit dem Huhne in stilisiertem Topfe sein wird.

Unsre Zeit übt lächelnde Duldung für jede künstlerische Manier; und gerade darum ist sie eine undankbare für die grossen künstlerischen Persönlichkeiten. Gewiss: im Anfänge, wenn sie auf der Suche nach eignen Zielen und Wegen sind, erscheinen sie absonderlich. Da können sie wohl in Mode kom­men, Spielzeug der Geselligkeit werden, aber die Mode wird ihnen untreu, wenn sie beharrlich des eignen Weges ziehen. Der Rokokoheld in gepuderter Perücke und mit ge­schmink­ten Wangen, der sein eigner Enkel oder Grossvater sein könnte, hat kein Verständnis für die Wangenröte frischer Begeisterung und die Locken ungezwungener Jugend. Ein Beispiel ist: Gus­ta­ve Moreau’s und seines Werkes Schicksal.

 

* * *

Gewiss, die Dekadenten von Paris, die sich in ihrem «The Ceylan» der Rue Caumartin versammeln, schwärmen von den Juwelen der Salome, wie Moreau sie gemalt hat, und zitieren mit Emphase Jean Lorrainsche Verse, die mit den Worten «Sünde» und «Wollust» Fangball spielen. Aber wie weltenweit steht von ihrer pessimistischen Näschigkeit die kraftvolle Persönlichkeit Moreaus, den Elisàr von Kupffer mit Recht den «Traumwandler einer neuen Welt» genannt hat.

 

Traumwandelnd das gelobte Land zu schauen

War dir vergönnt — ein erstes Morgengrauen.

Elisàr von Kupffer, Florentine XXXIX

Es gibt Pariser, die von Kunst faseln und wenn sie «unter uns» bemerkt haben, Tizian habe doch nur «Leder» gemalt, dann erzählen, sie hätten nie das Musee Moreau gesehen. Die we­ni­gen Bilder im Luxembourg geben aber einen ganz un­voll­stän­di­gen Eindruck. Nein, in dem hinterlassenen Museum seiner Werke muss man die Tausende von Zeichnungen und die Hun­der­te von Gemälden gesehen und wieder gesehen haben — und jugendreif sein: um dann zu begreifen, welch ein König des Geistes, welch ein Ebenbürtiger der grossen Re­nais­san­ce­meis­ter hier sein Werk in Einsamkeit gelebt hat, unbekümmert da­rum, dass die Banausen der Kritik ihn als «literarisch» abtaten.

Gustave Moreau ist nicht nur ein gewissenhafter Könner, wie seine Studien und sorgfältigen Entwürfe beweisen; — er ist nicht nur ein Farbenzauberer und voll Wärme des Fleisches; er ist mehr: ein Offenbarer neuer Lebenshorizonte. Gewiss, der neue Horizont liegt noch umdämmert, aber schon in der Ah­nung grösserer Wirklichkeit zeigt sich das wahre Künstlertum, die wahre Jugend. Worum die Renaissance in ihren besten Geis­tern gerungen, von Piero della Francesca und Mantegna an bis Leonardo und Michelangelo, bis Giorgione und Tizian, So­do­ma, Rafael und Correggio; — was dann durch die Stumpfheit der Menschen unerfüllt blieb: der Wunsch, Olympia und Gol­gat­ha zu vereinen, Freude und Opferkraft in heiliger Einheit kommen zu sehen — das erwacht wieder in Moreau. Da ist der christusähnliche Prometheus, da ist die Verkündigung der Leda, da ist des Ganymedes Himmelfahrt — da ist die le­bens­schwan­ge­re Phantasie, die oft — in der Tat — nicht Mass zu halten weiss, weil sie sich nicht genugtun kann und fürchtet, ungesagt zu lassen, was ihr im Herzen dämmert.

Und wie Moreau sind die Grossen der Kunst — die Dichter und Bildner vor allem — zu allen Zeiten gewesen: Offenbarer, jugendliche Paladine — nicht der unsinnlichen Überwelt noch der nüchternen Hinterwelt, sondern einer sonnig – greifbar – verklärten Zukunftswelt, die Neubeleber alles echten Glaubens, Mystiker und Plastiker zugleich. Sie leben zu allen Zeiten und haben in keiner Zeit ihr Heim. Einmal nur hat es geschienen, als sollte die Zukunft Gegenwart werden und die Jugend ein Volk: in Hellas, wo die Kunst nicht das Leben besteuerte, zer­glie­der­te, verniedlichte, sondern seine Heilung war — ein Sak­ra­ment. Hellas ist dahingegangen, wie das Morgenglühen des Montblanc; aber noch ist der Tag nicht Tag geworden, die graue Dämmerung der Arbeitsfrone lastet auf der unfrohen Menschheit. Und doch brechen durch die Wolkenschleier hie und da Strahlen der Sonne, Himmelsboten, Trostbringer, Freu­den­spender, Funken der ewigen Lebenskraft — die grossen schöpferischen Persönlichkeiten, ohne die es nie eine Kultur gegeben hätte. Diese Persönlichkeiten in ihrem Schaffen und Wirken nicht unterstützen und schützen, ist Barbarei, der sich auch noch alle «Rechtsstaaten» schuldig machen. Deswegen ist praktisch für den Künstler nichts Günstigeres zu hoffen, als die schützende Macht eines Fürsten; ist er dazu zu stolz, dann mag er auf Wirkung verzichten, vom Ungeziefer der Schikanen ge­plagt —, oder er muss sich den schlimmsten Tyrannen ver­fron­den, der Masse, und damit seine Jugendlichkeit, die Jugend der Kultur verkaufen.

So zeigt es sich wiederum, welche unverlierbare Kul­tur­auf­gabe den Monarchen auch in dem sozialentwickeltsten Staate bleibt: die Jugend der Kultur in den Künstlern zu hegen — nicht weil der Wert des Lebens in abstrakter Geistigkeit läge, durchaus nicht, sondern weil er in tätiger Lebensgestaltung beruht. Und gerade aus den Werken der grossen Künstler erschallt der Weckruf freudentätiger Lebensfülle.

1)Vergleiche hierzu meine Bücher: «Technik und Kultur», Kapitel 7 und 32. Kulturprobleme der Gegenwart 11,3, herausgegeben von Leo Berg, Hüpeden & Merzyn, Berlin 1906;
und
Die Märchen der Naturwissenschaft, Lebenswerte, Heft 2, Hermann Costenoble, Jena 1907. Desgleichen was Goethe zu Eckermann sagte: Gespräche III, 165, Reclam. retour

2)Aus Auferstehung – irdische Gedichte, von Elisàr von Kupffer, Verlag Kreisende Ringe (Max Spohr), Leipzig, 2. Auflage, 1903. retour

3)Aus An Edens Pforten — aus Edens Reich, Sufische Gedichte, von Elisàr von Kupffer,  E. Piersons Verlag, Dresden 1907. retour

4)Vergleiche Elisàr von Kupffer, Heiland Kunst, Lebenswerte, Heft 3, Jena, Hermann Constenoble, 1907. retour

5)Vergleiche «Die Märchen der Naturwissenschaft» von Eduard von Mayer retour

6)Aus «Merlin» – Eine Mythe, von Karl Immermann, Drama in drei Akten, 1832.retour

Fürsten und Künstler, zur Soziologie der Kunst, 1907.

Gräfin Ersilia Lovatelli
Prinzessin Caetani

Dem erlauchten Mitgliede der

Accademia dei Lincei

Der tiefen Forscherin des Altertumes
Der liebenswürdigen Mäzenatin
des geistigen Austausches

Das Buch ist der Contessa Ersilia Lovatelli gewidmet. Caetani-Lovatelli galt als hervorragende Wissenschaftlerin. Sie verfasste mehrere Bücher und viele Artikel zur römi­schen Antike und konnte dabei auf ihre grosse Material­kennt­nis und ihre Sprachkenntnisse des Lateinischen, Altgriechischen und Sanskrit zurückgreifen.

Das Buch PDF (Auszug) wurde herausgegeben von Cornelius Gurlitt.

Die vier hier angefügten Bilder sind Wiedergaben aus dem Buch.

König Ludwig II. von Bayern

Der Mäzen, Förderer der Kunst und leidenschaftlicher Schlossbauherr, Ludwig II.

Grossherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach

Der Förderer der Künste, Philosopie und Patron der als Weimarer Klassik bekannt gewordenen Epoche Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach.

Das Grabmahl von Lorenzo de Medici in der Medici-Kapelle der Chiesa di San Lorenzo, Florenz.
Die achitektonische Konzeption und die Statuen sind von Michelangelo

Der Förderer der schönen Künste, Lorenzo de Medici, die Medici-Kapelle und die Basilica di San Lorenzo in Florenz.

Propyläen München

Die Propyläen auf dem Münchner Königsplatz