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Die Zukunft der Natur, Teil 1

Das Widergeschick des Lebens

Verbrecher: das ist in tieferem Sinne, wer ausser der Hun­ger­ver­fassung steht, des Gemeinfriedens verlustig – der Mörder, der Dieb, der Gewaltiger; aber so auch der Genius.

Dunkel hat es die Menschheit immer gefühlt: so schaurig ihrem gesitteten, hungergeregelten Lebensbehagen der Ord­nungs­brecher auch ist –, dennoch pulste in seinem Willen das Leben ursprünglicher, echter als sonst in den bürgerlich braven Biederleuten. Doch was in der Regel dieses bürgerliche Em­pfin­den in nicht fähig zu sichten war –, warum der eine Ge­set­zes­brecher wirklich nur Abschaum der Menschheitsgärung ist –, der andre hin­ge­gen eine prickelnde Blume des Edelweines. Doch ahnender Geist legte dies in den hohen Totenklagen der Menschheit nieder.

In Sage und Dichtung schaut die Seele der Menschheit hinaus über das Chaos, dem Chaos das im Hungerwahn jede befreiende Ord­nung zu härterem Zwange vernutzt, Gottes­ho­heit zu Göt­zen­tum, Helden zu Räubern, Burg und Tempel zu Kerkern, Freudengeschmeide zu Ketten werden lässt –, wo die niedere Ordnung das Werden der höheren aufhält, die Ord­nung sich selbst zer­fleischt, sich selbst zum Galgen schleppt. Der Menschheit eigne Be­stim­mung: sterbend zu werden, Er­stor­be­nes hinter sich zu lassen, und jeweils im Namen der Lebens­zu­kunft der ganzen Vergangenheit Trotz zu bieten, scheinbar erliegend Sieger zu sein –, dies eigne Schicksal verehrt die Menschheit im tiefen Schauer der Trauerspiele; dies ist der wahre Sinn alles Tra­gi­schen. Bare Bösewichte sind gar nicht tragisch –, darum haben die Dichter, wählten sie solche als Bösewichte verschriene Gestalten, ihnen immer ein hohes Ziel­empfinden untergelegt und die Schre­ckens­ta­ten als dumpfes Chaosverhängnis der Willens­ver­wir­rung edler Geister ge­schil­dert.

Tragisch ist es, dass dem Leben erst in höheren Wehen die Bahn gebrochen werden muss mit der Zerbrechung bestehen­den Lebens –, dass Leben nur durch Zerstörung andern Lebens erhalten, der Hunger nur durch den Tod von anderem Leben beglichen wird –, dass neues Recht nur mit Unrecht wider gel­ten­des eingesetzt werden kann; das ist das bitter waltende Erbunrecht.70a Und da das geltende Recht kraft seiner Hun­ger­reg­lung den Meisten als göttliche Ordnung erscheint, als solche verehrt wird, muss als widergöttlich gerade ein solcher Wille gelten, der höherer, göttlich näherer Ordnung zur Geltung ver­helfen will.

Als ärgstes Verhängnis kommt dazu, dass so der Got­tes­bote als Gotteslästerer erscheint, der Befreier der Mensch­lich­keit fast als Feind des Menschengeschlechtes gehasst wird.

Die zweifache Reihe des Lebens –, in Einzelkräften und Eigenbünden hinaufsteigend, in Massenkräften hinabsinkend –, zeigt sich auch hierin, dass Wenigen die Chaosüberwindung, die Lebensverjüngung das Höchste ist, der grossen Mehrheit aber die Chaoserhaltung, und danach gestaltet sich auch ihr Got­tes­bild. Sie wollen einzig in Masse beharren, wollen Be­har­rungs­ordnung, fühlen sich eins mit dem All und seinen Ge­set­zen treu, wenn das Le­ben innerlich regungslos, äusserlich fro­nend dahinströmt –, dann sind sie «Natur». Die andern fühlen, weil eine höhere Ordnung in ihrer ahnenden Sehnsucht spricht, den währenden Rohzustand des Daseins. Sie kämpfen dawider und müssen in jedem erreichten Zustand, sobald er einzig Hungernatur ge­wor­den, wieder den Urfeind des höheren Lebens bekämpfen: einstens in Untier und Dickicht, jetzt in Philistern und Un­rechts­gesetzen.

Der uneigne Gesetzeswahn der Massengläubigen kann nicht grosszügiger widerlegt werden, als durch die Tat solcher Gestalten, die angeblich Unmögliches doch verwirklichen und durch Bruch der Hungerordnung Lebensordnung stiften. Nach dem All-Eins-Glauben hätte nicht mal ein betrunkner Irren­häus­ler zu träumen vermocht, was dennoch der klarste Men­schen­wille geschaut und geleistet hat.

Die Tragik ist an sich eine Widerlegung des Ein­heits­glau­bens, da sie Widersprüche und Gegensätze von Wesenstiefe bekennt; wer jemals den Schauer des Tragischen fühlte, sah den Wesenszwiespalt des Daseins, bekannte sich allem Ge­hirn­ge­rede zum Trotz zur «dualistischen» Lebenseinsicht.

Und auch wer über das Leben lachte, sei es in Grimm oder harmloser Heiterkeit, hat darin sein «dualistisches» Lebens­ge­fühl entlastet, im Anblick des Widerspruches der Strebungen. Komik wie Tragik wären unmöglich, hätte der Glaube des All-Einerlei-Monismus recht; die Träne wie das Gelächter, wie auch das Lächeln bekennen das grosse Drama des Daseins, dessen Träger die Eigenwesen sind. Nur wer empfindungslos in blindem Gleichmut das Leben durchschritt, niemals litt und niemals sich freute, niemals empört und niemals begeistert war, niemals Enttäuschung noch Hoffnung gefühlt, nicht Tren­nung noch Wiedersehen kannte, weder Wahl noch Wille be­tä­tigt –, nur der ist wahrhaft Monist.

* * *

In drei grossen Mythengestalten hat sich die Ahnung dieses zweierlei Massstabes niedergelegt:

In Prometheus, diesem Feuer- und Lichtbringer, der die Men­schen endlich selbständig und unabhängig von der Göt­zen­laune machen wollte –, der wahrhaft im Men­schen die eigne Kraft der klugen Zielbesinnung er­weck­te und so die Men­schen durch tätige Lebensgestaltung Genossen der göttlichen Werk­ord­nung werden hiess; nach Götzenwahn war es ein nie genug zu strafender Hochverrat.

In Don Juan, der die urgewaltige Auflehnung gegen die staatlich-familienhafte, hungernützliche Liebeseinengung darstellt.

In Faust, der die Grenzen des Wissens ins Unermessne erweitern will und – um des Lichtes willen – den Fins­ter­mäch­ten verfällt.

In diesen Gestalten haben Denker und Dichter das Sinn­bild der eigenen Menschheitsgesichte gesucht. Für Aischylos war Pro­me­theus nicht mehr der einstens vom hörigen Acker­glau­ben gebrandmarkte Feuerhandwerker, bloss als diebischer Got­tes­be­trüger geschildert – er sprach mit Prometheus’ Munde und Willen das Ende der Zwangsgötzen aus. Für Goethe war Faust nicht mehr der gierige Magier –, nein! er sah und schil­derte in Faustens Wahrheitsstreben die willenstätige Kraft, die zu Gott empor führt.

Freilich, in Don Juan hat noch niemand über den baren selbstischen Wüstling hinausblickend, die Liebesfreude als läuterndes Feuer, als mildtätige Seelengabe gepriesen, die aller Wirrung zum Trotz den Menschen zur höchsten Heiligkeit weist: dem Eros als Seelenführer. Dies ist kein Zufall, denn die mächtigste aller Schranken erichtete der Hungergeist im lie­bes­widrigen Sittenwahn: dieser ist, wo der Götzenglaube ge­fal­len, das eigent­liche Bollwerk des glaubenslosen Gemeinzwangs der Masse. In dieser geistigen Festung wird noch das letzte Be­frei­ungs­rin­gen der Eigenwesenheit auszufechten sein.

Als Nebengestalt des Erdenverhängnisses tritt Ahasver auf, der «ewige Jude». Doch dieser verdammte Wanderer ist in Wahrheit mehr als das Sinnbild bloss des jüdischen Volkes –, er ist das Verhängnisbild des Hungerwahnes selbst, der hun­ger­be­tro­ge­nen Menschheit, deren barster Ausdruck allerdings der mammonistische Zustand ist. Irdische Schätze zu­sam­men­raf­fend und so auf Lebenserfüllung hoffend, wird die Erfüllung von Macht­gier immer weiter in die Welt hinausgetrieben, ruhe­los umhergejagt, ertragsbeladen durchs Dasein keuchend, im­mer fremder und ferner der Lebensfülle; ein andrer Midas, der mitten im Golde verhungert.

Auch diese Erscheinung fand noch nicht ihren wahren Dichter: denn unerkannt ist bisher das Wesen des Hun­ger­wah­nes geblieben, ja mehr als je bemüht sich der Massenwahn im Weihgewande des Rassetums die Hungerstillungsfron als hei­li­ges Blutgesetz zu verkünden, sobald nur die letzte Spur des Eigenwillens dadurch erlöscht.

Prometheus, Don Juan, Faust sind nicht umsonst so ge­wal­tige Wahrzeichen leuchtender Lebensahnung; sie sind zugleich die Bannerführer der drei tiefsten Willensreihen, die allezeit gegen den Hungergeist drängten –, sie sind die Drei­form der Willensdreieinigkeit, die der blossen Daseins­er­hal­tung entgegengesetzt die Daseinsentfaltung bedeutet: Ge­stal­tungs­kraft, Liebesfreude und Seherwille.

Aus dieser dreigegliederten Eigenmacht stammt ja in Wahr­heit jeder Antrieb, den wir als Hunger, Todesabwehr und Wissensdrang kennen. Freilich vergisst das auf Hungerreglung gestellte Leben den eigentlich wirklichen Sinn seiner Triebe, und wähnt das Beste zu leisten, sobald alle Gestaltungskraft einzig zur baren Gewerkfron anhält, und was da­rü­ber hi­naus­geht verpönt –, wenn es die Liebessehnsucht einzig in barer Erzeugung von neuen Ersatzarbeitern gestattet, und was da­rü­ber hinausstrebt verfolgt –, wenn es den Klarheitswillen des Geistes einzig als Pfadfinder des Brotes bewertet, und was darüber hinausgeht verspottet. Der nur auf Hungerreglung gerichtete Forschungsgeist wird zum schlimmsten Lehrer der Lüge –, die nur nach Hungerordnung geregelte Liebeslust wird zum schlimmsten Züchter der Fron –, der nur auf Hunger­be­frie­di­gung eingestellte Gestaltungsdrang wird zum schlimms­ten Enteigner.

So hat der Hunger wirklich den Willen verraten, ge­blen­det, gefesselt und will ihn durch Lüge des Geistes, Lüge des Herzens, Lüge des Schaffens völlig vernichten.

Aber dem Hungerwahne zur Widerlegung, zur Hemmung und zum Trotz –, dem Lebenswillen zur Selbstbestätigung, zu Mehrung und zum Trost erhebt sich immer wieder in jeder Willensreihe, so sehr sie vernutzt und verfront ward, die innere Kraft aufs Höchste lenkend.

Das Handwerk, geboren aus tiefer Gestaltungsahnung, den fertig gegebnen Naturzustand zauberisch meisternd und um­ord­nend, freilich dann zu blossem Werkzeug der Hunger­reg­lung entwertet, liess «technisch» wiederum die Kunst ent­ste­hen;71 der Liebeswille, auf höchste Doppelbeschwingung ge­richtet und dann auf blosse Arbeiterzucht beschränkt, über­gibt einem jeden der neuen Wesen dennoch den göttlichen Flam­men­keim, der in eigner Herrlichkeit aufglüht, aufblüht, ehe die Jugendhöhe zum Hungerwirrwarr sich senkt. Der Klar­heits­drang, der in Sehnsucht das echte Lebensgefüge zu schauen sucht, und dann mit oberflächlichem Wirrwarrkrame bloss ab­ge­speist und erschöpft wird –, bricht sich dennoch in Lebens­nö­ten durch und blickt hinaus in die Übernatur, im Glauben die göttliche Welt erfassend, wo sich in Liebesordnung die freien Gestaltungen regen. Glaube, Liebe und Schönheit be­käm­pfen immer wieder den All-Einswahn der enteigneten Massenmenschheit –, der dreieinige Gottesgeist der den teuf­lisch-finstern Ungeist des Chaos besiegt.

Darum auch der blinde, geifernde Hass des Massen­stumpf­sinns gegen Glauben, Liebe und Schönheit – gegen die drei­einige Hoffnung des Gottesreiches.

Was Schönheitsfreude in Schwäche oder in Selbstsucht manchmal an helfender Tatkraft versäumt –, was Liebe in Übererregung oftmals an Herzenstreue vermisst –, was Glau­be in starkem Eifer an Wahrheitsduldung gefrevelt: das nützt der Hungergeist scheel und schadenfroh gegen diese Regungen aus, weiss seine Hörigen leicht vergessen zu machen, dass die Chaos­ver­feh­lun­gen in seinem Geist – Zwang, Zerstörung und Lüge – hundert­tau­send­mal ärger sind; ja! dass dieser Geist mit seinem geheimen Gifte die Kräfte des Lichtes zersetzte, ins Frongefüge des Broterwerbes und in Geld- und Machtgier hin­ein­stiess. Was die Hörigen verfehlen, ist chaosbedingter Wi­der­spruch zum eigensten Wesen – was er, der Hunger wesens­ge­treu bewirkt, ist schlimmer als das was sie verfehlen, denn an jedem Tage vernichtet, vergeudet das Nahrungsbedürfnis ungezählte Lebewesen und Lebenskräfte in ewigem Erb­un­recht,72 mehr als die schlimmsten Verfehlungen aus Sinnes­drang, Glaubenseifer oder Prunksucht. Doch aller Ir­run­gen un­ge­ach­tet mehrt die Lebenskräfte, der vom Hungerwahne so tiefstens ver­ab­scheute Glaubens-, Liebes- und Schöpferwille, und steigert des Lebe­we­sens in­ne­ren Wert.

Durch Formeneinklang den freudigen Tatenwillen zu muti­ger Zuversicht göttlicher Über-Lebensordnung zu reifen lassen, zu rüstiger Mitarbeit zu spornen, zu stetig reicherem Austausch zu führen – das ist der Sinn, der Ursprung, das Ziel der Kunst. Durch Schönheit die Liebe zum Glau­ben, durch Liebe den Glau­ben zur Schönheit, durch Glau­ben die Schönheit zu Liebe ver­tiefend zu weiten: das ist Kunst. Das Antlitz höheren Da­seins zu offenbaren in Schönheit, die Empfindung höheren Lebens zu offenbaren in Liebesfreude, die Willensgewissheit zu offenbaren höherer Tatkraft –, das war das Streben all der Künstler, die den Möglichkeiten des Daseins treulich nach­spü­rend, suchend, erfindend, des Lebens Sinn in Formen ent­hüll­ten und aussprachen.73 Das Leben wider die äussere Unbill schützend, und dann das Notdurftobdach zur Helden-, Feier- und Gottesstätte heiligend, schufen die Bau­künst­ler ihre Ge­bäu­de. Das Leben mit farbigem Zauber gegen Gespenster um­klei­dend, Totengespenster durch Nachbildungen bannend und dann in Farbe und Linie die Gottbestimmtheit mensch­li­chen Leibes bekennend, schufen die Bildner ihre Werke. Der Ein­klangs­jubel, der Missklangschmerz, der einstens in Hilfe­rufen ge­zit­tert, zeug­en vom Sinnesziele des Lebens, ström­ten ein in die Seele des Tonkünstlers und in sein Opus. Als tiefste Er­hel­ler des Erden­wirr­warrs, als höchste Seher der Daseins­zu­kunft in ewiger Gottes­klä­rung, als beauftragte Glaubensbildner, erzählten und deuteten die alten Dämonen­ge­bete die Dichter in ihren Epen.

Das Schaffen des grossen Künstlers, die Liebessehnsucht des schlichtesten Herzens, der Glaubenstrost des einfachsten wie des erhabensten Geistes, zeugen gleicherweise gegen den eigenwidrigen Wahn der massenfrommen, hungerhörigen All-Einsgläubigen, den Frongewalten des Hungers und des Wirr­warrs: zeugen dawider mit Sorgen, Tränen und Mut.

Leidensträger des Menschenverhängnisses säumen die Bahn der Lebensentwicklung, stille Helden in langer Reihe vor dem Siege gefallen: und neben, zwischen ihnen andre, die gar im Unehrwinkel des Menschenrichthofs verscharrt sind.

Sie ziehen uns aufwärts durch das Wirrwarr der Mensch­heits­er­in­ne­rung, diese Märtyrer der Mensch­heits­er­lö­sung.

* * *

Es reihen sich neben den grossen Märtyrergestalten geringere Opfer an, Opfer des Götzenwahnes, Sittenwahnes, Dunkel­wah­nes, Hungerwahnes – als bleibendes Mahnmahl des Mensch­heits­kampfes wider die Menschheitserstarrung.

Da ist Orestes, der – racheverpflichtet – als Sühner des einen Unrechts nur neues Unrecht und neue Rache­ver­pflich­tung erzeugt. Der Widerstreit der Gemeinverpflichtungen weist hier deutlich drauf hin, wie das Recht –, das gewiss in der Ab­leh­nung der blossen Machtgewalt ein über das Chaos hin­aus­bli­cken­der Zustand ist –, dennoch noch im Chaos und seinen Nöten wurzelt und immer wieder durch die Nöte gefälscht wird, in Hungerwahn, Rachewahn, Blutwahn verstrickt. Das Unrecht des Rechtes ist hier für immer bezeugt, genau wie im Zwei­kampf­zwang ehemals und Zweikampfverbot heutiger Zeiten.

Zwar hat Aischylos in seiner Dichtung die Schuld in die Selbstrache verlegt, und als Überwindung solcher den Volks­ge­richts­hof verherrlicht –, in Wahrheit war durchaus nicht hit­zi­ger Blutdurst der Trieb des Orestes, vielmehr der götzen­fürch­tige Wahn, der nicht mit dem Blute versöhnte Geist des Vaters werde zum Rachegespenst. Die Blutversöhnung schien un­er­läss­lich. Doch auch Apollon selbst wurde der Sage nach blut­schul­dig, als er den chaoserzeugten Drachen, die Schlange Python tötete.

So umfassend, selbst den Göttern nicht minder geltend, war der tiefe Grundgedanke der Heiligkeit alles Lebens. Als fürchterliches ehernes Zeichen des Chaos wurde das Ge­gen­teil daraus, verlangte doch die Sühne des Blutvergiessens nur neues Blut, zum grausigsten Rachewahn werdend, dessen schliesslich grösste Rachetat das Christusopfer wurde, wie es die Kirche begreift.

Dass nicht im Gemeingerichte die wirkliche Wahrung der Rechtsordnung besteht, bezeugt neben Konradin von Schwa­ben, Charles I. von England und Louis XVI. von Frankreich das Verhängnis des Michael Kohl­haas, der vom Gericht dem Rechte zum Trotz abgewiesen wurde, und in tiefem Gefühle des Rech­tes als Riesenverbrecher endete; und ähnlich ergeht es man­chem verblendeten Anarchist, wie ihn – romantisch – Schiller in Karl Moor gezeichnet.

Denn wirklich lebt im Rechtsgedanken erhabnes Fühlen: die Ahnung solcher Lebensordnung, die jedem Eigenstreben inmitten aller Andern freies Wirkungsgebiet zusichert, ohne Rücksicht auf Leibesstärke, Reichtum, Sippenverbindung und Macht –, vorausgesetzt dass der Mansch seinerseits, sich zu solcher Lebensordnung bekennend, der Andern Lebensgebiete achtet. Von dieser Ahnung des Allrechtes ist die irdische Rechts­ord­nung nur ein ärmliches Zerrbild, in stumpfer Hun­ger­be­rech­nung abergläubisch verbrämter Zwang. Da der Rechts­gedanke nimmer den wahren Grund der Zwistigkeiten beseitigen kann – den Hunger – sucht er sich einen Schein­grund im Eigenstreben; und dieses widersinnig bedrückend, mehrt er erst recht die Keime des Chaos, die Lebenskeime ertötend. Und dennoch sogar als solches Zerrbild umwittert den Rechtswillen noch die Ahnung höheren Lichtes, oft den blutigen Bruch mit dem geltenden Unrecht erzeugend, das eben bisher ein Aufpasser und kein Erzieher gewesen, ein­ge­bunden im starren Wahn der Erhaltung und Rache.

* * *

Den Wahn, als stärksten Förderer der Tragik, des Un­recht­rech­tes und Rechtsunrechts, erkannte bereits hellenischer Geist, der sonst geneigt war in der Überhebung, der «Hybris» die wah­re Sünde zu sehn. Aber selbst im Übermute ist es ja eben der Wahn, der den Menschen betört die Reifegrenzen der Kräf­te und die echten Schranken des Lebens zu übersehen.

Tantalos ist vom Wahne, die Götter zu überlisten, ver­blen­det und stürzt, sein ganzes Geschlecht ins Verderben reissend – Laios, vom Wahne betört, trotzt der göttlichen Warnung und zeugt geschlechterlanges Verhängnis. Aus Wahn wird Über­mut, Übermut zeugt in Verwirrung erneuten Wahn, und so bricht die Kette des Unrechts und Elends nimmermehr ab. Ja, den Über­mut zu brechen, senden die «Götter» selber den Wahn, um das Mass voll zu machen und durch den unvermeidlichen Rück­schlag den Menschen gänzlich zu beugen – so stürzen Pentheus und Phaidra, laut gotteslästerndem Götzenwahn.74

Doch sind die «Götter» besser daran? Ist Zeus nicht gleich­falls der Klarheit bar? Prometheus sagt ihm voraus: Er selber werde den Nachfolger zeugen, der seiner Herrschaft das Ende bringt. Und Balder stirbt, weil der blinde Hödur im Spie­le Pfeile verschiesst. Unberechenbar waltet eben sogar über den «Göttern» das Schicksal, der Zwang zu Wahn und Über­mut, Hass, Neid und Begehren; mächtiger als die Men­schen, doch elende Hörige vor dem Verhängnis sind auch die Götter, wie sie der tief vom Hungerchaoszwange gebeugte Mensch er­blickte. Selber zu Unrecht gezwungen, erzwingen sie des Men­schen Unrecht, um ihn bestrafend, den Schein ihrer Hoheit zu zeigen – ein überirdisches Jammergeschlecht.

Hieran ermessen zeigt sich auch die ganze Bedeutung des Glaubens an Jahwe, der über das ganze Chaos emporgerückt in wesentlich andrer Würde und Heiligkeit dasteht, als all die an­de­ren Götter. Es war, aus Verzweiflung geboren, ein un­er­mess­li­cher heller Blick des Geistes, dieser eine Gott, dem freilich die Not des Wirr­warrs nur die halbe Ahnung gestattete, fast nur die Verneinung des früheren Glaubens forderte, für den Gottheit eben einzig Natur­macht höheren Grades war. Doch freilich fehlte dem von der Allmacht Gottes niedergedrückten Empfinden der Juden die Einsicht ins strebende Eigenwesen und der es segnenden Gotteshilfe. So blieb das heilige Wesen Gottes halb in Dunkelheiten verhüllt und halb erschien es als Quelle alles Geschehens, dem gegenüber jeder Eigenwille nur frevler Trotz ist, in ewigen Strafen zu büssen.

Wahrlich, wer angesichts dessen zum ersten Male die Göt­ter – von Zeus bis Jahwe – leugnete, war trotz allem Irrtum ein grossgesinntes Herz.

Den grossen Jahwegedanken konnte erst Christi Vater­bot­schaft wirklich mit Leben erfüllen. Doch diese ewig-frohe Bot­schaft kann erst wahrhaft wirken, wo die Klare Kunde der Ei­gen­wesenheit aufging, in deren Lichte auch das tiefste Schauen hellenischen Geistes neue Heilkraft gewinnt: in der Heiligung aller Schönheit. In ihr, und nicht in den Göttersagen, ist das höchste Seelenahnen Hellas gegeben, die Göttersagen trüb­ten das keimende Licht der Seele, wie die Bibelbuchstaben den Glauben getrübt haben.

* * *

Ohne die klaristische Einsicht der Eigenwesenheit und ihrer göttlichen Sendung bleibt der dumpfe Trotz die letzte Stärke des Willens.

Und dennoch bekennt sogar dieser trotzige Irrblick den alles durchsetzenden, nur von Wahrheitsblinden und Wil­lens­stum­pfen zu leugnenden Widerspruch zwischen schein-gött­lich-hungergötzisch geeichter Gemeinordnung, die bis zur un­be­weg­ten Starrheit der Allnaturgesetze anschwillt –, und schein­un­möglichen, scheingefährlichen Ei­gen­trie­ben, dem befreienden Streben.

Der Widerspruch ist da: scheint der Lebensboden ohne jene Gemeinordnung zu wanken, so stockt ohne diese Eigen­triebe der Lebensstrom überhaupt.

Eine Doppelnotwendigkeit zeigt sich: die Wahrung des allgemeinen Bestandes und Zustandes zu erhalten und zugleich die Wil­lens­tätigkeit jedes Einzelnen zu ermöglichen –, ohne Schaden des Lebens ist die eine Notwendigkeit so wenig wie die andere zu beseitigen. Dennoch sind sie leider in un­ver­meid­li­chem Widerstreit unvereinbar anei­nan­der gekettet – am schlimmsten wo heute der Eigenwille den Schein eines Eigen­da­seins in Arbeitsfron zugewiesen erhielt, also scheinbar vollbefriedigt der Allgemeinheit eingefügt ist. Ja, in Erhaltung und Stillstandskreislauf – nicht in Entfaltung und Aufstieg!

So stellt sich das götzen- und menschenumspannende Widergeschick des Lebens dar, das im kühlen Lichte der Den­ker­for­schung als Rätselfrage der Willensfreiheit, auch längst nach der Sa­gen­zeit, peinigend unser Dasein bestimmt –, und im düstern Lichte der Rechtsprechung als Frage der Zu- oder Unzu­rech­nungs­fä­hig­keit über Ehre, Freiheit und Leben dessen entscheidet, der gegen das Hoheitsrecht der Gesamtheit im Hoheitsrecht seiner Eigenkraft aufsteht.

Alle bisherige Weltanschauung, dem Hungergeiste ent­stam­mend, hat keine Antwort darauf und kann nicht einmal die Antwortlosigkeit, kaum die Frage zugeben, sondern sucht mit All-Eins-Gerede die Frager abzuspeisen, die eigne Wider­sinn­ig­keit zuzudecken.

Paulus

Irrgänge des Geistes

Das individualistische Weltbild: Die Welt als Trotz

Prometheus bingt das Feuer zur Menschheit,
Gemälde von Heinrich Friedrich Füger, 1817

Prometheus (griechisch für der Voraus­den­kende, der Vorbedenker) ist als Feuerbringer und Lehrmeister der Urheber der menschlichen Zivilisation. Einer Variante des Mythos zufolge hat er die ersten Menschen aus Lehm gestaltet und mit ihren Eigenschaften ausgestattet. Dabei kam es allerdings zu Fehlern, deren Folgen Unzu­läng­lich­kei­ten sind, unter denen die Menschheit seither leidet. Für diese Mängel wird auch der am Schöpfungswerk beteiligte Bruder des Prometheus, der unkluge «Nachherbedenker» Epimetheus, verantwortlich gemacht. Er liess sich gegen den Rat seines voraussichtigen Bruders auf die von Zeus ent­sand­te Verführerin Pandora ein, die ihre Büchse öffnete, die Büchse der Pandorra.

Ahasver, der «ewige Jude»,
Gemälde von Ferdinand Hodler, 1910
Midas verwandelt seine Tochter versehentlich in Gold,
Gemälde von Walter Crane, 1893

Ahasver und Midas, zwei allegorische Figuren (Sagengestalten), welche menschliche Überheblichkeit, Masslossigkeit und Gier aufzeigen.

Orestes wird von den Rachegöttinen verfolgt,
Gemälde von William-Adolphe Bouguereau, 1862
Apollon tötet Phython, Gemälde von Rubens, 1637, Museo del Prado, Madrid

Orestes ist in der griechischen Mythologie der Sohn des Agamemnon und der Klytaimnestra. Seine Schwestern sind Iphigenie, Chrysothemis und Elektra.

Agamemnon zog in den Trojanischen Krieg und war 10 Jahre abwesend. Klytaimnestra heiratete Aigisthos, ohne eine Wiederkehr des Gatten zu erwarten. Als Aga­mem­non heimkehrte, ermordeten sie ihn als Vergeltung für die Opferung Iphigenies im Trojanischen Krieg. Aigis­thos wollte auch Orestes töten. Dessen Amme rettete ihn, indem sie Aigisthos, als er die Herausgabe des Orestes forderte, ihren eigenen Sohn übergab und er so den Falschen tötete. Elektra bat Orestes, als dieser zum Mann wurde, die Ermordung des Vaters zu rächen. So befragte Orestes acht Jahre nach der Bluttat das Orakel von Delphi, das ihm zur Rache riet. Er tötete Aigisthos und seine Mutter Klytaimnestra. Die Erinnyen (Rache­göt­tin­nen) seiner Mutter schlugen Orestes mit Wahnsinn und verfolgten ihn. Schliesslich kam er nach Athen, wo seine Tat auf dem Areopag verhandelt wurde. Zwei Rechts­güter standen sich gegenüber: Der Schutz der Mutter vor Versehrtheit und die Forderung nach Gattentreue und Mordbestrafung. Bisher war zugunsten der Mutter ent­schie­den worden. Orestes Tat veränderte die Rechts­sprech­ung. Um die Ermordung des Vaters durch Klytaim­nest­ra zu rächen, hatte er seine Mutter im Sinne des Orakels von Delphi, im Sinne Apollons getötet. Im Prozess plädierte Athene, die Göttin der Stadt, zu seinen Gunsten. Ihre Stimme gab den Ausschlag – Orestes wurde freigesprochen.

Die komplizierten und gegenseitigen Rache­ver­pflich­tun­gen der Familie des Agamemnon ist in vielen Dramen und Opern dargestellt worden.

 

Apollon ist der Gott des Lichts, der Heilung, des Früh­lings, der sittlichen Reinheit und Mässigung sowie der Weis­sa­gung und der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs. Das Orakel in Delphi, die bedeutendste Orakelstätte der Antike, war ihm geweiht.

Die erste Tat im Leben des in Delos, auf der schwim­men­den Insel, geborenen Apollon war die Tötung der Schlange Python, die auf Geheiss von Hera seine Mutter Leto verfolgte. Da diese Schlange mit den aussergewöhnlichen prophetischen Kräfte eine Tochter der Gaia gewesen war, musste er sich zur Sühne nach Tarrha auf Kreta begeben und dort sich einer Rei­ni­gungs­ze­re­monie unterwerfen.

Tantalos im ewigen Tartaros, Gemälde von Gioacchino Assereto, um 1640, Auckland Art Gallery

Tantalos war ein mächtiger und unermesslich reicher König, Sohn des Zeus und der Pluto. Tantalos wurde an die Tafel der Götter zum Essen geladen, stahl jedoch Nektar und Ambrosia, was seine Gast­ge­ber erzürnte. Als die Götter zu einem Gastmahl des Königs kamen, versuchte er, ihre Allwissenheit auf die Probe zu stellen: Er tötete Pelops, seinen jüngsten Sohn, und liess ihn den Göttern als Mahl servieren. Zwar verzehrte Demeter einen Teil seiner Schulter, doch die anderen Götter bemerkten die Greueltat sofort. Sie warfen die Fleischstücke des Pelops in einen Kessel, und Klotho zog ihn in bekannter Schönheit wieder heraus. Der ver­zehrte Schulterknochen wurde von den Göttern durch einen aus Elfenbein ersetzt. Die Götter verstiessen Tan­ta­los in den Tartaros und peinigten ihn dort mit ewigen Qualen, den sprichwörtlich gewordenen «Tantalos­qua­len». Früchte und Wasser sind ihm greifbar nah, bleiben aber unerreichbar. Zu Hunger und Durst gesellte sich die ständige Angst um sein Leben, da über Tantalos Haupt ein mächtiger Felsbrocken schwebte, der jeden Moment her­ab­stürzen und ihn erschlagen konnte. Die Götter ver­fluch­ten ihn und seine Nachkommen, die Tantaliden. Jeder seiner Nachfahren werde ein Familienmitglied töten und weitere Schuld auf sich laden. Eine lange Kette von Gewalt und Verbrechen wurde damit ausgelöst, die erst mit dem letzten der Tantaliden ihr Ende fand: mit Orestes, der seine Mutter Klytaimnestra ermordete und so ihren Mord an ihrem Gatten Agamemnon, seinem Vater, rächte. Orestes selbst erfuhr sein Schicksal durch einen Schlangenbiss.

 

Laios war König von Theben, der Ehemann von Iokaste und der Vater von Ödipus.

 

Pentheus war ebenfalls König von Theben. Als Dionysos nach Theben kam und die Frauen zu seinen Ehren auf dem Kithairon ein bacchantisches Fest feierten, versuchte Pentheus, es zu verhindern und Dionysos gefangenzunehmen. Dieser überredete den verblendeten Pentheus, er solle als Frau verkleidet die im Gebirge schwärmenden Mänaden belauschen. Als er dort auf den Wipfel eines Baumes stieg, wurde er jedoch entdeckt und von seiner eigenen Mutter und seinen Tan­ten Ino und Autonoë, die ihn für ein wildes Tier hielten, in bacchantischer Wut zerrissen.

 

Phaidra wird von Aphrodite verzaubert, wodurch sie sich in ihren Stiefsohn Hippolytos verliebt. Dieser weist ihre Liebe zurück. Phaidra begeht daraufhin Selbst­mord, hinterlässt vorher jedoch auf einem Täfelchen die falsche Beschuldigung, Hippolytos habe ihr nachgestellt. Als Theseus zurückkehrt und Phaidra tot vorfindet, verflucht er Hippolytos, worauf dieser mit seinem Wagen flieht. Auf Bitten Theseus' sendet Poseidon ein Mee­res­un­geheuer, das die Pferde am Wagen des Hippolytos scheu macht. Hippolytos stürzt vom Wagen, verfängt sich in den Zügeln und wird zu Tode geschleift.