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Die Seele Tizians, zur Psychologie der Renaissance, Kapitel I

Die venezianische Renaissance

Es gibt viel über und um das Leben eines Mannes zu sagen, dessen Namen der Glanz einer tausendjährigen Geschichte um­schwebt. Zwar kein Lykurg noch Cäsar, kein Präger von Grund­werten und Grundformen, nicht in Zeiten schweren Werdens gewaltig vorgreifend, nicht ein ragendes Eingangstor, sondern nur der krönende Abschluss eines stolzen Vielgeschlechterbaues: aber auch so ist Tizian und ist sein Werk die leuchtendste Offenbarung des venezianischen Wesens. Über die Jahrhunderte wegblickend, darf, wer es begriffen, sagen: Tizian ist Venedig, Venedig ist Tizian.

Als Tizian geboren wurde, stand Europa gerade zwischen zweien jener Weltaugenblicke, nach denen sich die Geschichte unsers Erdballes misst. Ein halber Pulsschlag des Kulturlebens war vorbei, das Mittelalter hatte im Aufsteigen seine Höhe erreicht, und nun sollte, endlich! der allmähliche Abstieg be­gin­nen. Vielleicht mehr: die abendländische Gesittung — in Wahrheit nur eine dünne Schlacke, unter der die Frühkulturen so vieler einzelner Rassen im Verschmelzen waren — sah den Trug ihrer voreiligen Gestaltung zergehen, da neue Mächte urplötzlich eingriffen. Der feste Erdkreis um das altvertraute Binnenmeer und die in ihm gültige Weltordnung lösten sich nach und nach auf. Im Norden hob die grosse Erneuerung des Geistes an, der sich endlich der Bevormundung schämte. Im Süden tat ein neuer Zusammenhang mit den fernen Fabel­län­dern des Gewürzes sich auf, Meere und Länder zeigten sich, in denen die Sonne mittags im Norden stand. Der Osten rief wieder einmal derb und nachdrücklich das Recht seiner Da­seins­for­men in die Erinnerung einer engen Welt, die eigen­süch­tig nur sich selbst anzuerkennen beliebte. Im Westen tauchte eine neue Erde aus den Wassern. Die Eroberung Kon­stan­tinopels, die Entdeckungen Amerikas und des Seewegs nach Indien, die protestantische Reformation! Was eine Welt geschienen, war wieder nur erst ein Chaos; Venedig war der Glanzpunkt dieser Welt gewesen, ihr Untergang setzte bei Venedig ein.

Zunächst freilich liess sich dieser bittre Umschwung wie ein reicherer Glanz an. Ja, es schien, Venedig solle seine Sonnenhöhe erst noch erreichen — ein solches Feuerspiel von Männern, Taten, Werken trat in Erscheinung, draussen in den ehrenvollen Verlusten der Türkenkriege, drinnen in den Schöp­fun­gen der Kunst. Aber im sozialen Leben reifen die guten Früchte nur langsam, und gar ein so kluger Staat wie Venedig hatte immer in die Zukunft gebaut; so war denn auch die ge­gen­wärtige Pracht nur ein Erfolg der Vergangenheit, nicht dank, sondern trotz dem neuen Zustande der Schicksals­mächte.

Seinen stolzesten Augenblick hatte Venedig gehabt, als 1205 das oströmische Kaiserreich einen Herrscher von Gnaden der kleinen Inselstadt annehmen musste, der ungefüge Koloss von der Macht lebendiger Selbstzucht; der Doge Enrico Dan­do­lo hatte eine Krone ausschlagen dürfen. Dann schien Venedig, trotz des endlichen Sieges über Genua (1381), nicht mehr so ganz auf die Seeherrschaft bauen zu wollen und legte sich auf das Festland vor Anker. Die festländischen Ero­be­run­gen schie­nen unnütz, kostspielig und gefährlich, aber so gut die sena­to­ri­schen Warnungen vor Zersplitterung der Kräfte gemeint waren: was wäre Venedig nach den Zeiten Mohammeds II. ge­wesen, wenn es nicht ein Drittel der lombardischen Tief­ebe­ne besessen hätte! Eine solche Völkerwelle, die noch zwei Jahr­hun­der­te später Wien gefährden konnte, wäre der vene­zia­ni­schen Kolonien auch dann Herrin geworden, wenn aller Sold der festländischen Truppen mit Zinseszins in einer ver­grös­ser­ten Flotte gesteckt hätte; und Geld fehlte schliesslich auch so nicht in Venedig. Aber ein Naturgesetz bestimmt die Kolonien eben zum Verlust. Keine Kolonie jedoch, weit eher das Mutter­land Venedigs war die «Terra ferma»: von ihren Felsen stamm­te der Sand der Laguneninseln, aus ihren Wäldern flössten ihre Ströme das Holz der Pfähle, auf denen Venedig seine Pracht­gebäude errichtete, aus ihren Städten waren vor und nach Attila die ältesten Ansiedler gekommen, als Erbteil die Gesit­tung des romanisierten Festlandes hin­überrettend. Venedig brachte sich nur ins Gleichgewicht, wenn es — durch An­glie­de­rung von Häfen und Zufahrtsstrassen in Ebene und Gebirge — seinen riesigen Überseehandel auf un­er­schüt­ter­liches Grund­werk stellte. Längst nicht mehr Händler bloss des eignen Salzes und der eignen Fische, sicherte es sich den wenigstens teil­wei­sen Besitz der Naturschätze, die durch seine Hände gingen, um, roh oder veredelt, um diese mit den Gütern des Morgen­landes einzutauschen. Die gewerbefleissigen Städte, wie Brescia (1426) oder Bergamo (1428), brachte es durch Gewalt und Klugheit an sich und behielt sie mit der Weitherzigkeit wahren Machtbewusstseins bei sich. Aus diesen sich selbst verwaltenden Gemeinden zogen dann auf dem Warenwege nach Venedig all die Männer des Festlandes, denen die Markusstadt ihren letzten Glanz verdankte: die Meister der venezianischen Kunst, kaum einer zwischen den Wassergassen geboren, alle aber hier den günstigen Boden ihrer Entfaltung findend.

Als dem Podestà von Cadore Gregorio aus der alten, einst wohl germanischen Familie der Guecelli oder Vecelli, 1477 sein Sohn Tizian geboren wurde, hatte die Ausdehnung der ve­ne­zia­ni­schen Macht ihren Höhepunkt überschritten, aber sie war immer noch gross genug, dass ihr ein Königreich — Zypern — geschenkt werden konnte (1489), wie einstens Pergamon so an Rom gefallen war, und bald sollte ihr die böse Ehre zuteil werden, halb Europa gegen sich in Cambray verbunden zu sehen (1508). Die späteren Heldentaten von Lepanto (1571), Candia (1669) und Morea (1684) lassen die durchgängige Ruhepolitik Venedigs nur um so mehr hervortreten. Es war an die Küstenländer des amerikanischen Ozeans die Reihe ge­kom­men, Weltgeschichte zu machen; im Wettstreit um den Besitz der Ferne hatten nun diese Europa zu entfalten, es dadurch dem Tage heute noch zukünftiger Weltkultur ent­ge­gen­zu­trei­ben, das Mittelalter starrer Beschränkung allmählich und zunächst sehr äusserlich zu überwinden. Venedig hatte seine Aufgabe erfüllt, und was es noch leistete, war: fürstlichen Gästen und dem ganzen Europa ein Festspiel vorzuführen, das unter dem Zauber der Formen die klaffenden Widersprüche des abendländischen Geistes zu übertäuben wusste. Reif vor den andern, bietet Venedig ein lebhafteres Bild, nicht der Zer­rüt­tung, sondern der unbewusst wieder beginnenden Schei­dung noch allzu äusserlich zusammengeschossener Elemente.

All die Feinheit, Reife und Pracht, aber auch den ganzen Widerspruch jener Welt, vereinigt in sich das Werk und die Persönlichkeit Tizians.

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Dreierlei fesselt an einem Kunstwerk: zuerst der Genuss, den es unmittelbar gewährt, sodann bringt es uns der Persön­lich­keit näher, die es geschaffen, und endlich lässt es die Welt erraten, mit oder entgegen das Wirken des Künstlers gegangen ist. Das vertieft wiederum das Bild der Persönlichkeit, bis wir auch beim unbefangenen Wiedergeniessen des Werkes mit den Augen des Künstlers sehen lernen, mit seiner Seele empfinden, nicht mehr Profane, sondern Mysten im Tempel seines Dai­mons. Natürlich muss diese «Daimon-Persönlichkeit» uns was zu offenbaren haben, muss sein Austausch mit der Welt tief, rege und fruchtbar gewesen sein, sonst bleibt auch das tech­nisch vollendete Stück, das mit allen Mitteln sich unsrer Sinne zu bemächtigen weiss, doch nur ein Aussenwerk der Seele.

Nun: Tizian ist ein Souverän der Farbe, Tizian hat uns in den hundert Jahren seines Lebens viel hundert tiefe Blicke in die Welt tun lassen, Tizians Persönlichkeit … da gibt es ein «Aber», jedoch eines, das mit ihm viele der Grössten trifft und seine ganze Zeit; eine gewisse Brüchigkeit der Erscheinung ist unverkennbar, ein gewisser Widerspruch der Lebensziele, die zusammengestimmt werden sollen, aber nie einen klaren Klang ergeben. Das tritt vor allem in der Kunst hervor, nicht bloss aber vor allem in der venezianischen, und gerade durch seine Vorzüge wird Tizian zum Enthüller des Geheimnisses. Schon rein äusserlich zerfällt das Werk Tizians in seine kirchlichen Bilder, in die Bildnisse von Zeitgenossen und in die «Poesien» um seinen eignen Ausdruck anzuwenden. Diese Poesien die Gemälde antik-mythologischen Inhalts — waren wirklich viel­leicht nur Dichtungen, aus den Werken der hellenischen und römischen Schriftsteller entlehnt; aber warum dann die inbrünstige Freude an diesen Triumphen leiblicher Schönheit, die einen Philipp II. mehr für die Tizianische Darstellung der «Antiope» zittern liess als für die gemalten Autodafés an den Wänden seines Palastes. Etwas Echtes und Kraftvolles regt sich denn doch in der Verherrlichung erdenheiteren Sinnes, es ist ein erstes halbes Erwachen — aber noch hat der schwere, dumpfe Schlaf die Übermacht, noch erfüllen angsterregende Träume mit greifbarer Wirklichkeit die Seelen und Sinne.

Auf Torcello, der Nachbarinsel Venedigs, befindet sich im Dome ein grosses Mosaik, das «Jüngste Gericht», in byzan­ti­ni­scher Formensprache von dem schrecklich grossen Tage re­dend, dem das Erdenleben mit jedem Auftauchen eines Kome­ten näherrückte. Dies war der wahre geistige Inhalt der Zeit, das Ziel, an dem sich die besten Herzen und Köpfe zugrunde richteten; dies war die wahre Aufgabe ihrer Kunst, an der sich die frischesten Kräfte abquälten, Märtyrer in ihrer Art und Bahnbrecher: auch hier füllten die ersten Streiter die Gräben. In zähem Kampfe mit der Technik und dann ihrer Herren überwanden die Künstler allmählich den kunstwidrigen Inhalt und führten ihnen selbst unbewusst einen neuen Geist mit herauf. Aber die Brotherren der Kunst sorgten fleissig dafür, dass der junge Phönix nicht davonflöge: die Anlässe, die Orte, die beauftragten Gegenstände der Kunstwerke verknüpften die bildenden Meister immer wieder mit dem anerkannten Zeit­geist – der Masse. Selbst ein Tizian hatte sich ja nicht selten noch an Marterszenen zu machen oder den Pomp geistlicher Ornate zu verewigen; was er da mehr gab, war der Reichtum seines Genies, aber er muss ihn immer dem Stoffe abdingen, abringen, aufzwingen: ein stetes Versteckspiel zwischen Geist und Form.

Die Welt war ein Jammertal, sicher nur das Weltgericht, und es war klug und gut, den ach! so heissgeliebten Mammon, den man im Tode doch lassen musste, wenigstens teilweise schon bei Lebzeiten dranzugeben, um sich eine Fürsprache im Jenseits für den diesseitig lustigen Verbrauch des Übrigen zu sichern. Daneben war es zweifellos verdienstlich, durch Bild und Vorbild die bestehende Ordnung zu festigen; auch liess der Aufwand an kirchlicher Stiftung einen Rückschluss auf das Vermögen des Stifters zu. Gründe und Gründchen wirkten zu­sam­men, um der Kirchenkunst von vornherein den Stempel des Prächtigen zu verleihen. Und das war nun wirklich nicht ver­ge­bens: das Prächtige wurde der Wegweiser zum Schönen. Wenn zuerst der Goldgrund alle Mängel der Darstellung überblenden sollte, so wurde das bald doch zu eintönig, und ein neuer Reiz fand sich, als die Farben der Gewänder das Gold verdrängten; zumal ein leuchtendes Blau, als Grund gesetzt, nahm geradezu im Sprung eine Entwicklung vorweg, weil es die würdige Hei­li­gen­gestalt vor den lieben Erdenhimmel stellte. So lernte der Sinn auch im Düster der Kirche die freien Farben der Aussen­welt hochschätzen, und trat er hinaus, so klang die fromme Weihe in dem bunten Spiel der Landschaft von selbst weiter; jeder Schritt auf dem Wege der Handfertigkeit ward hier ein Schritt zur Natur hinauf.

Damit verschob sich denn auch der Inhalt der Kunst. Die Lieblichkeit des Lebens kam zu ihrem Recht, neben die Pas­sions­ge­schichte traten in steigendem Masse freundliche Le­gen­den, die steifen Bischöfe und Märtyrer verliessen ihre spitz­bo­gi­gen Goldzellen auf den vielflügeligen Altarbildern und fanden sich mit der heiligen Familie in heitrer Gegend traulich zu­sam­men. Das irdische, weltliche Leben ward zum Zeugen, Teil­neh­mer und beinahe schon Gleichberechtigten, wenn die an­be­ten­den Könige in zeitgenössischem Prunk sich zeigen durften und sich Stifter wie Künstler in den Tross mischten. Die herzliche Unbefangenheit, mit der die heiligen Geschichten in die Ge­gend selbst verlegt wurden, wo das Gemälde prangen sollte, hiess den Maler diesen Ort nun auch wirklich deutlich, er­kenn­bar und naturgetreu schildern und ebenso sich in die Züge der Stifter vertiefen: da hatte sein Auge Recht und Pflicht, Land­schaft und Menschenbild zu mustern und den Pinsel zu sorg­fäl­ti­ge­rer Linienführung anzuhalten. Die fromme Innigkeit brach­te der Kunst ihren Segen, der naive Sinn fand sich zur Natur zurück, auch wenn es sich noch unter krause Buchstaben und abgeschmackte Tüfteleien demütigen hiess. Freilich war auch hier der Entwicklungsmöglichkeit eine Grenze gezogen, und ganz liess sich der starre Zeitgeist auch durch die be­ste­chends­ten Formen nicht hinauspaschen. Daher musste es schliesslich zur Spaltung kommen, und die Kunst in ihrer Reife steht geis­tig-ethisch längst nicht so frei über ihren Anfängen wie tech­nisch; billigerweise: sie konnte gar nicht die tiefen Gegensätze zu höherer Einheit erheben, solange sie noch vom Leben der Masse abhängig war, solange noch die gebundeneren Naturen mit ihrer Unselbständigkeit ein Bleigewicht am Fluge der Persönlichkeiten sein dürfen, solange das Mittelalter währen wird. Selbst ein Tizian bleibt hierin seiner Zeit lehenspflichtig.

 

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Tizian, Selbstbildnis, Gemäldegalerie Berlin

Tizian, geboren zwischen 1477 und 1490, gestorben 1576, gilt als der führende Vertreter der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts und einer der Hauptmeister der italienischen Hochrenaissance.

Sein Schaffen fiel in das Goldene Zeitalter der vene­zia­ni­schen Malerei, als die Serenissima ihre wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit erlebte.

Von seinen Zeitgenossen als «die Sonne unter den Sternen» bezeichnet, war Tizian einer der vielseitigsten und mit insgesamt 646 Werken auch produktivsten ita­lie­ni­schen Maler seiner Zeit. Er malte Porträts, Landschaften und mythologische und religiöse Themen. Charak­te­ris­tisch für seine Werke ist sein ausgeprägter Kolorismus, den er sein Leben lang beibehielt.

Gegen Ende seines langen Lebens vollzog er dann einen drastischen Stilbruch, der bereits zum Barock hinführt und den viele Kunsthistoriker als eine Rückkehr zu sich selbst sehen.

Bereits zu Lebzeiten waren Tizians Werke in vielen wichtigen Sammlungen vertreten. Sein Werk war für viele nachfolgende Maler Vorbild.

Torcello, Basilika Santa Maria Assunta mit dem Mosaik «Das Jüngste Gericht», entstanden um 1170