Es ist undankbar und kann spitzfindig scheinen, die Grundlehren der modernen Wissenschaft widerlegen zu wollen. Und dennoch ist diese Widerlegung endlich nötig geworden. Diese Grundlehren sind wie die Katzen, dank denen die Perser die Ägypter überwanden, weil diese nicht gegen die ihnen heiligen Tiere vorzugehen wagten, die in kluger Berechnung vor dem persischen Heere getragen wurden. Solche Popanze sind die modernen Grundlehren, die jede neue Ansicht mit ihrer falschen Autorität totschlagen wollen. Ihr muss zu Leibe gegangen werden. Der Leser, der sich mit mir in dies Unternehmen wagt, wird viel Staub schlucken müssen, besonders im II. Kapitel. Wen die Popanze nicht schrecken, der überschlage dieses Kapitel oder lese es erst zum Schluss. Ich hoffe, dass einstens solche Kapitel und Bücher überflüssig sein werden.
Chemie – und Märchen? Klingt das nicht wie eine Unmöglichkeit? Und doch! Als Lavoisier – der Vater der modernen Chemie – im Wasser den Wasserstoff neuentdeckt hatte, legte er der Pariser Akademie seine Beobachtungen vor. Sie wurden bestritten. Wenn, so führte der Gegner aus, das Wasser wirklich zerlegbar wäre, so gäbe es überhaupt keine Gewissheit mehr. Und schon des Empedokles’ altehrwürdige Lehre von den Vier Elementen schlösse die Möglichkeit aus, das Element Wasser zu zerspalten. Sprach’s und setzte sich.
Wer war dieser Herr, dem die Meinung eines seit 2300 Jahren toten Philosophen mehr Gewissheit bot, als eine frische Tatsache? Kein Irgendwer, kein Bücherwurm, sondern ein angesehener – Naturforscher, der Erfinder eines trefflichen Messapparates, Baumé.
Dieser kleine Vorfall, der sich bei jeder neuen Erkenntnis ähnlich abgespielt hat, zeigt, dass Tatsachen sogar dem Tatsachenforscher wenig gelten, wenn diese Tatsachen neu sind. Sie passen nicht in das alteingebläute System von Erklärungen und werden schlankweg abgelehnt. Wie abhängig von Vorurteilen sind also selbst die «objektiv» beobachtenden Sinne sogar der berufsmässigen Beobachter! In Wahrheit: nicht Auge, nicht Ohr, sondern die ganze Persönlichkeit des Forschers schaut und horcht in die Natur hinein. Nur wenn die Persönlichkeit reich und lebendig ist, kann sie neue Tatsachen, neue Zusammenhänge entdecken. Und dann offenbart sich ihr eine umfassendere Ordnung der Dinge. So entstand in Darwin seine geniale Hypothese.
Hypothesen sind das Wesen der Wissenschaft. Hypothesen sind die Fühlfäden, die der Schmetterling Seele der Wahrheit entgegenreckt. Ohne neue Hypothesen würde die Wissenschaft zu einem Gewerbe — alter Hypothesen. Als Lavoisier und Baumé sich stritten, da prallten nicht etwa verschiedene Tatsachen zusammen. Keine einzige Tatsache läuft irgend einer anderen zuwider. Nein, es gerieten nur eine neue und eine alte Hypothese aneinander. Heute ist die lavoisiersche Hypothese ihrerseits gealtert. Zwar den Chemikern ist sie zum Glaubenssatz geworden. Aber auch Baumé glaubte an Empedokles.
Hypothese – Märchen – Lüge! Kundschafte ich einen unbegangenen Weg aus, so ist's gut, auch wenn es ein Umweg ist. Mache ich diesen Umweg täglich, weil mir der Gang zusagt, so ist's auch ganz nett – für mich. Aber sperre ich alle andern Wege und zwinge alle eiligen Leute, meine Promenade mitzumachen, dann ist's schlecht.
Was die germanischen Weisen einstens von Winter, Frühling, Erde in der Brünnhildesage sangen, das ist heute das Dornröschenmärchen – einstens Anschauung und Glaube, heute ein tiefsinniges Spiel. Auch Spiel, ja nur Spielerei, verworrene Nüchternheit, allzu geistreiche Märchen sind die Grundlehren der modernen Naturwissenschaft.
Baumé regte sich über die Wasserzerspaltung auf. Und doch war von den «Scheidekünstlern», wie die Chemiker hiessen, das «Element» Erde längst in zahllose Gesteine gesondert worden, ohne unterzugehen. Seine Gegnerschaft war wohl auch weniger durch physikalische Gründe veranlasst, als durch einen konservativ-sozialen Instinkt gegen die «Neuerer und Umstürzler!» Lavoisier tat ja im Physikalischen nur, was seine revolutionäre Zeit im Sozialen tat. Die alteingesessenen Kasten hob er auf, da rückte in den Ehrenplatz der vier alten Elemente das Volk der siebzig neuen. Doch Baumé hätte ruhig sein dürfen. Was tat die Revolution? Sie beschleunigte nur das Tempo des Ancien Régime, sie arbeitete ganz wie die absoluten Ludwige an der Verstaatlichung des Menschen. Und Lavoisier? Er hat den Erbfehler der alten Lehre erst recht zu fröhlichem Gedeihen gebracht. Sein «Element» ist erst recht starr und tot.
Die moderne Chemie nennt «Element» einen unzerlegbaren Stoff. Das Wasser ist also kein Element. Die Luft ist nur ein Gemisch. Die Erde besteht aus vielen veränderlichen Stoffen. Nur solange er noch nicht zerlegt wurde, darf ein Körper Element heissen.
Was ist also ein Element nicht? Zerlegbar. Es ist aber sehr wohl verbindbar. Wie es sich mit andern Elementen verbindet, das kennzeichnet jedes einzelne Element. Wie — genauer, in welchem Gewichtsverhältnis. Jedem Elemente ist sein Verbindungsgewicht eigentlich. Diese Feststellung ist Lavoisiers unsterbliches Verdienst. Vor ihm stritten sich die Chemiker, ob z.B. gediegenes Eisen oder Eisenrost einfacher wäre. Der Philosoph Stahl lehrte, Rost plus Phlogiston (Flammstoff) ergäbe als Verbindung das Metall Eisen. Da nahm Lavoisier die Wage. Er wog Quecksilber ab, erhitzte es und wog wieder die veränderte Masse. Sie war schwerer geworden. Etwas musste zum Quecksilber hinzugekommen sein. Dieses Etwas war der Sauerstoff der Luft. Quecksilber hatte sich mit Sauerstoff zu rotem Quecksilberrost, Quecksilberoxyd (oxys = sauer; uksus heisst im Russischen der Essig), verbunden. Und so ergibt Eisen mit Sauerstoff Eisenoxyd und Wasserstoff mit Sauerstoff ergibt das Wasser. Weiter zeigte es sich, dass bei jeder Wiederholung der Sauerstoff in gleichem Masse hinzutrat. Und doch gab es so viel mehr freien Sauerstoff in der Luft. Es musste an der gegebenen Menge des Quecksilbers liegen. Das Quecksilber musste einen begrenzten Sauerstoffappetit haben und vom reichen Vorrat nur gemessen zehren können. Nicht Quecksilber überhaupt und Sauerstoff überhaupt verbanden sich beliebig, sondern beiderseitig bestimmte Mengen. Etwa zwölf Teile Quecksilber binden nur einen Teil Sauerstoff. Ähnliches gilt für alle Elemente. Und so lässt sich geradezu sagen: das Verbindungsgewicht ist das Wesen des Elementes.
Das Verbindungsgewicht ist eine Tatsache. Dank ihm ward der Wirrwarr der Stoffe gesichtet, wurden die Elemente entdeckt, wurden neue Verbindungen hergestellt. Das ist eine Glanzleistung des neunzehnten Jahrhunderts.
Gleichzeitig verwandelte sich das «Verbindungsgewicht». Es nannte sich Atomgewicht. Da begann das erste Märchen der Naturwissenschaft.
Was bedeutet das feste «Verbindungsgewicht?» Es bedeutet, dass das Gewichtsverhältnis gleich schein, so oft auch die plumpe menschliche Hand Elemente scheidet oder verbindet. Das «Atomgewicht» behauptet aber: das Atom eines Elementes wiegt wirklich so und so viel mal mehr, als das Atom eines andern. Jedes Atom eines und desselben Elementes wiege absolut gleich, alle Atome eines und desselben Elementes seien gleich schwer und gross. Atomgewicht heisst: absolute Gleichheit der Atome jedes Elementes.
Aber das ist ein willkürliches Märchen.
Einmal sind die Verbindungsgewichte gar nicht so einfach, in runden Zahlen. Sauerstoff ist 15,88, Schwefel 31,82, Eisen 55,6, Natrium 22,88. Ferner: diese Werte sind nicht das immer gleiche Ergebnis jeder Untersuchung. Sie sind nur der Durchschnitt zahlloser Ergebnisse, die voneinander in den Bruchstellen abweichen. Das sollen unvermeidliche Messfehler sein. Nun gut. Unsere Apparate sind nun einmal plump. Aber daher reichen sie erst recht nicht aus, um die absolute Gleichheit der Atome zu beweisen.
Weiter. Nicht einmal diese Durchschnittszahlen sind irgend genau. Sie haben nicht bloss zwei Bruchstellen, sie können ebensogut unzählige haben. Wie weit reichen denn unsere Messwerkzeuge? Die allerfeinste Wage kann bei 2 kg noch einen Unterschied von 1/10 Milligramm anzeigen. Also ein Zwanzigmillionstel. Aber dem Gelehrten steht oft nur ein Gramm eines Stoffes zur Verfügung. Und 0,000 000 05 g zu wägen, fehlt jede Möglichkeit. Und 0,000 000 05 g ist immer noch viel zu viel für ein Atom, dies ungreifbar Kleinste vom Kleinen. 1000 Quintillionen Atome Wasserstoff konnten in den Raum eines Spielwürfels gehen. (1 mit 33 Nullen dahinter!) Ebensogut könnte man Sonnenstäubchen nach Erdumfängen messen und dann behaupten, sie seien «bewiesenermassen» gleich. Auf den geographischen Karten werden die Städte je nach ihrer Einwohnerzahl verschieden eingezeichnet. Aber nur annähernd nach Zehn- oder Hunderttausenden. Das gleiche Zeichen deckt Orte, die um Tausende von Menschen verschieden sind. Genau so deckt das gleiche Verbindungsgewicht Atome, die um kleine Werte ungleich sein können. Sind etwa Rekruten eines Jahrganges gleich alt – auch an Sekunden? Jede Stunde Geburtsunterschied beträgt 3600 Sekunden, jeder Monat an 3 Millionen. Und doch gelten sie für die Militärbehörden als gleichaltrig. Wären zwei Atome auch bis zur 1000-sten Bruchstelle gleich, in der 1001-sten könnte der Unterschied beginnen. Es gibt keine grösste Zahl und so auch keine kleinste. Jede absolute Bestimmung irgend eines Dinges ist unmöglich. Daher ist es auch wissenschaftlich unmöglich, die Gleichheit der Atome zu behaupten. Wissenschaftlich möglich, ja geboten ist es, ihre Verschiedenheit in Erwägung zu ziehen.
Die Atome eines Elementes könnten individuell so sehr verschieden sein, wie die Kristalle eines Felsens, wie die Ähren eines Feldes, wie die Heringe eines Fanges, die Soldaten eines Armeekorps. Kein Mensch, kein Tier, weder Pflanze, noch Kristall ist dem andern gleich. Und dennoch fassen wir sie in «Arten» zusammen, das Gemeinsame überwiegt zunächst und lässt das Individuelle zurücktreten. Und doch ist dieses da. So könnte auch jedes Atom eines Elementes von allen andern abweichen, unendlich wenig zwar, und so könnten sich die verschiedenen Atome in eine Gesamtheit reihen. Das Element wäre eine zahllose Gruppe gradweiser Individualität, die Elemente glichen den «Arten» des organischen Lebens.1) Sie wären nichts Starres mehr, das Atom nichts Unwirkliches. Reiche Gruppen von Existenzen bauten sich übereinander auf.
Wo bliebe aber das stetige Verbindungsgewicht? Wo es hingehört, in die Praxis. Da zählt das unendlich Kleine nicht. In der Küche tut ein Korn Zucker mehr der Speise nichts, in der chemischen Küche wären die minimalen Verschiedenheiten der Atome belanglos. Das Verhältnis des Kreises zu seinem Durchmesser ist eine unendlich lange Zahl. Jeder Praktiker arbeitet aber ruhig mit dem abgekürzten Werte 3,14159. Das violette Licht hat 667 Billionen Schwingungen in der Sekunde. Aber wenn es nur 666,999999999999 mal schwänge, – das Auge würde doch violett sehen. Der Montblanc ist ein grosser Berg für den kleinen Menschen. Doch auf einem Globus von Manneshöhe Durchmesser wäre er nur eine winzige Schwellung von kaum 2/3 mm. Der Mond ist zerklüfteter als die rauheste Alpengegend, und uns ist er doch ein blankes Spiegelbild der Sonne. Die 350 000 km bis zu uns lassen eben die Unterschiede verschwinden. Die «Fixsterne» verändern mit ungeheurer Schnelle ihren Ort, und doch sind die Sternbilder in der geschichtlichen Zeit unverändert geblieben. Kein Astronom kann mehr an Fixsterne glauben. Und ebensowenig ist ein Forscher noch wissenschaftlich ernst zu nehmen, wenn er die Atome auf seiner Wage gleich nennt.
Die Lehre vom Atomgewicht und den «gleichen» Atomen ist ein plumpes Märchen. Die individuelle Verschiedenheit der Atome ist aber eine grosse Wahrscheinlichkeit.
1) Vgl. hierzu das Buch von Gustave Le Bon: «L’ Evolution de la Matière», Paris 1905 – das ich erst nach Abschluss dieser Arbeit kennen lernte, das aber in vielen kritischen und positiven Punkten ein schöner experimenteller Beweis für meine Anschauungen ist.
Die moderne Physik (Mayer, Carnot, Helmholtz) dreht sich um den Begriff der Energie. Diese Lehre der Energetik ist zum kleineren Teile Tatsache, zum grösseren ein Märchen.
Der bescheidene Zweite Satz spricht von der Umwandlung der Energie: alle Arten der Energie wären nur Formen der einen abströmenden Urkraft. Der aufgeblähte Erste Satz predigt die Erhaltung der Energie — richtiger der Energiemenge: die Summe der einmal vorhandenen Kraft ist unveränderlich gross, es gibt keine Neuentstehung von Kraft.
Unbestreitbar: die Kraft kreist. Sonnenenergie geht in die Pflanzen über. Sonnenenergie in den Pflanzen ernährt die Tiere2), Sonnenenergie im Pflanzenstoff heizt das Wasser. Wasserdampf bewegt die Maschinenkolben. Maschinen erzeugen elektrischen Strom. Die Elektrizität bewegt Wagen und strahlt sonnengleich im Bogenlicht.
Die Kraft lässt sich verfolgen und messen. Sie vergeht nicht.
Nein. Aber sie entwertet sich. Es ist unmöglich, den Strom ganz in Licht umzusetzen – der grösste Teil wird Wärme; ebenso unmöglich, den ganzen Dampfdruck in Bewegung zu verwandeln – der grössere Teil bleibt Wärme. Je dauerhafter eine chemische Verbindung sich einstellt, um so mehr Wärme tritt dabei zutage. Alle Kräfte streben der Wärme zu. Aber nicht umgekehrt. Die Wärme wird nur teilweise wieder zu kreisender Energie und nur, wenn sie sich dabei ausbreiten kann. Sie «arbeitet» nur, wenn sie ihre kühlere Umgebung dabei erwärmen darf. Je mehr ihr diese gleich wird, um so träger wird sie. Der Zweite Energiesatz bucht Tatsachen, wenn er lehrt: eine Veränderung kann eintreten, nur wenn die Stärke der Kraft (ihr «Potential») sinkt, z.B. die Temperate, die elektrische Spannung, der Wasserspiegel. Je geringer die Fallhöhe der Kraft, um so geringer die Wirkung. Ein schmaler Bergbach leistet daher mehr als manch breiter Strom in der Ebene. Alle äusseren Vorgänge sind Abströmen von Kraft. Und selbst die teilweise Krafterhöhung in den Zellen ist, nach der Behauptung der Energetiker, als Ganzes eine Einbusse. Alle Kraft strebt der Ruhe zu, alle vorhandene Kraft endet langsam in dem untätigen Sammelbecken der Wärme. Eine gleichmässig im Weltraum verteilte Wärme wird der Schluss alles Geschehens sein. So die Energetik – die damit behauptet, dass schliesslich die Kraft aufhört Kraft zu sein. Eine sonderbare «Erhaltung» der Energie!
Wann wird dieser Weltschluss eintreten? Vielmehr, warum steht die Weltenuhr, die angeblich nicht wieder aufgezogen werden kann, nicht schon still? Etwa, weil die Summe der Kraft so unendlich ist? Aber die Zeit ist erst recht unendlich! Längst hätte alles geschehen müssen, was nur einmal begonnen. Wäre die Kraft ein für alle Mal unveränderlich gross, so wäre sie längst endgültig abgelaufen; es gäbe überhaupt kein Geschehen mehr. Und doch läuft die Welt. Also muss in der Energielehre ein ungeheurer Fehler stecken.
Nicht logischer stehts mit dem Weltanfang.
Wie heisst es da seit Kant und Laplace? Unsere Planeten haben sich aus der Sonne gebildet. Die Sonne war einst etwa so gross wie heute die Bahn ihres fernsten Planeten. Sie selbst ist aber nur der Planet einer Zentralsonne. Alle Weltkörper stammen schliesslich von einem glühenden Gaswirbel her. Der Weltraum war uranfänglich von einförmiger Materie in gleichem Zustand grenzenlos erfüllt.
Wie kam nun dieses Einerlei dazu, sich zu sondern? In der absoluten Gleichförmigkeit fehlte jede Möglichkeit der geringsten Veränderung. Der absolute Urstoff, von der absoluten Urkraft durchdrungen, musste in absoluter Gleichheit ewig beharren. Nicht einmal eine Abkühlung hätte allmählich die dichte Gaswolke in eine lockere Sternenwolke verwandeln können, denn wohin hätte der Wärmeüberschuss gehen sollen? Es gab ja keinen kühleren Weltraum ausser dem Urnebel, es gab überhaupt keinen Raum ausser dem unendlichen Urnebel. Wenn dieser aber nur einen Teil des Raumes erfüllte, was für eine innere Macht verhinderte denn die Atome in den übrigen Raum auseinanderzustieben, vor all und jeder Sonderung, bei jener grossen Urgleichheit? Es konnte also aus der Gleichheit überhaupt kein Weltlauf beginnen. Und doch läuft die Welt. Also muss in dem Energiemärchen ein ungeheurer Fehler stecken.
In der Einförmigkeit des absoluten Urnebels – wenn er je so existiert hat – muss irgendwo ein erster Unterschied aufgetaucht sein. Irgendwann muss die Kraft angewachsen sein. Und dann begann der Ausgleich, Ringen ähnlich, die ein Stein im Wasser wirft.
Die Tatsachen des Zweiten Energiesatzes erzwingen angesichts der Wirklichkeit die Annahme, dass Kraft neu entstanden ist, dieses vom Ersten Satz verpönte Wunder. Die beiden Sätze heben einander in der Wirklichkeit auf. Diese Märchenlehre hat eine kleine Tatsachenreihe als Weltordnung ausposaunt und die Welt wie eine Maschine betrachtet Diese Übertölpelung des wissenschaftlichen Geistes – wie ist sie möglich geworden?!
Kraft muss immerzu entstehen können. Es genügte nicht, dass das vielleicht nur einmal geschah. Die Wirkung wäre dann längst verrauscht. Auch die Wiederholung der Kraftentstehung in gleicher Weise am gleichen Ort hätte nur völlig gleichmässige Schöpfungswellen ergeben. Die Wirklichkeit zeigt uns aber lauter Störungen und Kreuzungen der Ereignisse. Also: an verschiedenen Orten muss Kraft in verschiedener Stärke angewachsen sein – nicht aus dem Nichts hervorgegangen, wohl aber aus dem entsprungen, was schon da war. Allgemein gesprochen: in jedem Augenblicke muss an jedem Orte die Kraft individuell anwachsen. Die Atome müssen die Quellen der stets neuen Kraft sein, die Atome müssen individuelle Mächte sein.
Die Tatsache des Verbindungsgewichtes liess die Möglichkeit der Atomverschiedenheit zu. Die Tatsache der Kraftentwertung erzwingt die krafterzeugende Atomindividualität als wirklich – trotz dem Märchen von der Energieerhaltung.
Wie steht es überhaupt mit dieser Erhaltung?
Wer hat den Weltvorrat der Energie gemessen? Dieser Bücherrevisor des Weltalls melde sich! Grosse Veränderungen würden uns ja nicht entgehen, aber das stete Quellen der Kraft aus den unendlich kleinen Atomen muss uns verborgen bleiben, wie diese selbst. Ist doch die giftige Wirkung eines einzelnen Bazillus so unmerkbar wie er selbst. Erst in der grossen Summe werden die Atome zu Massen und die Kraftfunken zu einem Storm. Die Weltkörper zeugen davon.
Die Physik misst alle Kraft nach der Arbeit. Die einfachste Arbeit ist, eine Masse fortzubewegen, so und soviel Kilogramm so und soviel Meter weit. Kilogrammometer nennt die Physik ihre Masseinheit. Die Erde, bei ihrem Lauf um die Sonne, leistet eine Arbeit von 200 Quatrillionen Kilogrammometern in der Sekunde, in ihrer Ortsveränderung steckt die entsprechende Menge an Kraft Die Gestirne alle müssten, bei der unendlichen Dauer ihres Laufes, längst den ganzen «unveränderlichen» Kraftvorrat – wie unendlich er auch gewesen wäre – aufgezehrt haben und stille stehn. Sie tun aber der Energetik den Gefallen nicht. Irgendwoher müssen sie stets neue Kraft der Bewegung ziehn. Aus sich selbst oder von aussen oder beiderseits her.
Die Physik sagt: nur von aussen. Die Bewegung stamme aus der Schwerkraft. Die Erde falle wie ein Stein auf die Sonne zu. Und die Sonne? «Fällt» der Zentralsonne zu. Und die Bewegung der allerletzten Zentralsonne, die aus dem Urgasnebel hervorging? Wohin fällt die? Der Urnebel wirbelte durch den Weltraum – den er doch bis zur Unendlichkeit erfüllte! Gut, lassen wir ihn wirbeln. Dann leistet jedenfalls er Arbeit, ohne die Kraftsumme zu verringern – oder ihm quillt neue Kraft zu. Und innerhalb dieses Gaswirbels bewegten sich die Moleküle seit unendlichen Zeiten. Also leisten sie Arbeit, ohne die Kraft aufbrauchen zu müssen. Und Kristallsplitter im Wasser zeigen dieselben unaufhörbaren Molekularschwingungen, ohne niederzusinken. Das müssten sie aber doch, wenn die Schwerkraft ihnen die Bewegung verliehe. Es ist also unwahr, dass alle Kraft der Bewegung von aussen stamme. Und es ist unwahr, dass die Kraft sich unwiderbringlich erschöpfe. Die Energetik hat nur für einen beschränkten Kreis der Krafterscheinungen recht. Angesichts des Atoms wird sie zum baren Märchen.
Was ist das Atom? Dem Namen nach das «Individuum», das «Unteilbare». Dem Begriff nach ein Ruhepunkt für die Phantasie. Wenn sie zu müde geworden ist, die unendliche Teilbarkeit der Materie immer weiter nachzuprüfen, macht sie einfach Halt. Das Atom war bislang kaum mehr als ein bequemer Nullpunkt der Messungen. Höchstens erschien es als Bauziegel der materiellen Welt, als Kern der starren Raumerfüllung.
Allerdings, die Raumerfüllung ist das Kennzeichen der Materie. Weil er einen Raum einnimmt, erscheint uns der Regenbogen als leibhaftes Gebilde, erscheint uns der Trabantenhaufen des Saturn als tester Gürtel. Den fernen Sternen ist unsere reiche Sonnengruppe nur ein einheitlicher Stern. Die Poren einer Eisenröhre verschwinden für unsere Sinne. Also: die Zusammengehörigkeit, auch die scheinbare, erweckt das Bild der Raumerfüllung, der starren Einheit. Das Atom könnte auch trotz der «Unteilbarkeit» nicht einfach sein.
Schon die Spektralforschung widerlegt solche Einfachheit. Das gewöhnliche Lichtspektrum ist ein Regenbogen. Das Spektrum eines glühenden Elementes weist aber unzählige dunkle Linien auf, die Frauenhoferschen. Für jedes Element sind ihre Zahl und Verteilung besondere. Das beweist die innere Eigenheit jedes Elementes. Das hebt aber die Einfachheit des Elementes auf. Wie kann ein absolut Einfaches Teile aufweisen? Ja, wie sind überhaupt siebzig verschiedene absolute Einfachheiten denkbar?!
Also? Das Element muss selbst schon das Ergebnis einer Zusammensetzung sein. Das Atom muss eine erworbene Struktur besitzen, ein inneres, festes Gefüge – wovon?
Von Kraft. Aber nicht von der abströmenden Kraft, wie wir sie im grossen kennen und von der die Energetik redet. Auch nicht von der stockenden, latenten, «gebundenen» Kraft, die mit der Abkühlung verloren geht – die Weltkörper verlieren trotz der Kälte des Weltraumes nicht ihre Bewegung. Es muss unverlierbare, von aussen her ganz unvernichtbare, ganz innerliche und raumlose Kraft sein. Es müssen Kraftpunkte von individueller Wucht sein, die immerzu Kraft abgeben können, ohne sich zu verausgaben; ja, deren Kraftvorrat innerlich immerzu anschwillt und machtvoller wird. Aus solchen individuell tätigen Mächten, Aktiden3), muss das Atom gebildet sein. Das Atom ist der Grenzstein der materiellen und der dynamischen Welt, der erste Übergang der tätig-drängenden Welt zur Welt der Form, ihrer Erfüllung. Materialisation ist die erste Stufe individueller Gestaltung. Aus den Aktiden strahlt ununterbrochen Kraft und ersetzt immerzu neu die alte abgearbeitete. Daher läuft die Welt trotz der Tatsachen des Zweiten Energiesatzes und erst recht dem Ersten Märchensatz zum Trotz.Für die dynamische Anschauung ist das Atom ein Gefüge tätiger Machte. Viererlei kennzeichnet diese Aktiden.
Das heisst nun nicht: die unzweifelhaft aufsteigende Entwicklung der Lebewesen auf die toten Dinge übertragen. Das heisst vielmehr: die organische Entwicklung als höhere Teilstrecke der allgemeinen, tätig-individuellen Weltentwicklung begriffen. Dynamische Anschauung und Entwicklungslehre sind wesenseins. Entwicklungslehre und Energetik aber schliessen sich aus – trotz Haeckel. Hätte die Energetik recht, seine grosse und verdienstvolle Lebensarbeit wäre umsonst. Haeckel glaubt zwar in seinen «Welträtseln» die Energetik zu retten, das «Substanzgesetz», wie er es nennt. Die Entwicklung an einer Stelle des Weltraumes geschehe auf Kosten von Rückbildungen an andern Orten. Aber die Gesamthöhe der Rückbildung müsste dann nach dem Zweiten Satz die Gesamthöhe der Neubildung allemal übertreffen. Von Mal zu Mal müsste die Entwicklung, einer ermattenden Welle gleich, weniger hoch steigen. Also müsste an aller Dinge Anfang eine unendlich hohe Entwicklung gestanden haben, und die Reihe der Entwicklungen müsste jedenfalls in der unendlichen Zeit doch schon ein Ende genommen haben. Es ergibt sich also im wesentlichen selbst mit der Haeckelschen Korrektur eine mühsam aufgehaltene Rückbildung der Welt. Der «energetische» Kosmos ist der verkörperte Sündenfall. Im Sinne der Energetik stehen die Pflanzen tiefer als die Mineralien, weil sie sich aus diesen zusammensetzen, stehen die Tiere tiefer als die Pflanzen, weil sie sich aus Pflanzennahrung erbauen, steht der Mensch tiefer als das Tier, aus dem er sich organisch entwickelte. Nach der Energetik muss jeder Sohn unbedeutender sein als seine Eltern, Raffael weniger bedeuten als Giovanni Santi, Goethe weniger als der Herr Rat plus die Frau Rat. Und wenn die Energetik Recht hat, wenn alle Kraft immer nur abströmt, wie konnte das Leben je vom Affen zu einem Goethe auf steigen? Die Entwicklungslehre will ja aber den Aufstieg predigen. Die Entwicklung beweist gerade, dass im Individuum eine Kraft lebt, die aus den gesunkenen Kräften eine höhere Einheit schaffen kann – eine steigende Macht von wachsender Wirkung. Die Welt keimt immer neu, und deswegen ist sie ewig und deswegen steigt sie auf.
Die Aktiden sind zunächst nicht materiell. Aber die gegenseitige Kraftstrahlung gleicht ihre individuellen Geschwindigkeiten aus und ihre individuellen Bahnen einander an. Da bilden sich Bewegungsgemeinschaften der Aktiden: das sind die Atome, verschieden, weil immer verschiedene Aktiden zusammenkommen, ähnlich, wenn die Zahl der Aktiden und ihre Abstände ähnlich sind. Weil nun die Aktiden sich fort und fort in individuellem Tempo entwickeln, so lösen sich immerzu einige aus dem gegebenen Bunde und sprühen hinaus. Und nur weil neue Aktiden in die bestehende Gemeinschaft eintreten, so schliessen sich die Lücken der Zersetzung, so erneuert sich immer wieder die Materie, trotz des Aktiden- wechsels4), auf dem der höhere Stoffwechsel beruht. Weil ferner jede Aktide fort und fort neue höhere Aktiden erzeugt, so schleudert jeder Körper immerzu dynamische Funken in den Weltraum, annähernd so beschwingt wie das Licht (300 000 km in der Sekunde). Diese Ausstrahlung von Aktiden sind die sog. α-, β-, γ-Strahlen. Aus seinen Aktiden quillt dem Atome die unverlierbare Bewegung, die sich zur Bewegung der Weltkörper entwickelt. Aus seinen Aktiden strahlt das Atom immerzu Kraft ohne sich je zu erschöpfen – nicht bloss das Radium, nicht bloss der elektromagnetische Induktor tut das, sondern jedes Gebilde. Daher steigt, trotz der Schwerkraft, der Saft in den Pflanzen (KapiIlarität). Daher ziehen bewegliche Zellen sich an (Chemotaxis, Tropismen, Erotik). Dringt in das Gefüge des Atoms fremde Kraft, ist aber nicht stark genug, das ganze Gebilde zu be- schleunigen, dann lenkt sie doch für einen Augenblick die Aktiden aus ihrer Bahn. Aber die kehren doch wieder in ihren notwendigen Lauf zurück und stossen die fremde Kraft hinaus. Es ergibt sich eine erste Schwingung – Licht (und vielleicht Elektrizität), das Gebiet der Energetik.
Die Aktiden sind alle ungleich. In jeder Aktidengruppe ist eine die machtvollste. Sie ist das dynamische Zentrum des Atoms, sie bestimmt die Bewegung. Sie strahlt am meisten Kraft auf die geringeren aus, aber sie empfängt auch ihrerseits von ihnen Kraft. Diese Zuschusskraft kann sie verlieren und den Zustand, den sie dieser verdankt, kann sie einbüssen. Das eine Atom kann den Zuschuss an ein anders, trägeres, abgeben, sich selbst dabei verlangsamen und nun dieses umkreisen, wie die schnellere Erde die langsamere Sonne. Diese «Anziehung» der Erde durch die Sonne, des Mondes durch die Erde ist also in Wirklichkeit Entziehung von Kraft. Die Gegenwart verlierbarer, entziehbarer Kraft macht die Körper der sogenannten Schwerkraft untertänig, auch wenn sie sie zeitweise leichter machen kann und aufsteigen lässt. Aber dieser Aufstieg geht wieder verloren, wie auf die Flut die Ebbe folgt, wie der Stein, der mühsam auf den Berg gebracht wurde, beim Falle ins Tal wieder diese in ihn gesteckte fremde Kraft verliert. Jedenfalls hat der Stein durch den Fall, durch die «Anziehung» der Erde keine Kraft gewonnen. Auch die Erde gewinnt keine Kraft durch die «Anziehung» der Sonne, vielmehr gibt sie ihr die eigne quellende, atomare Kraft hin. Die Geheimbewegung der Atome offenbart sich uns in dem Laufe der Weltkörper. Im grossen heisst es Schwerkraft, im kleinen chemische Energie. Die verlierbare allgemeine Zuschusskraft erscheint bei einem stärkeren Grade als Wärme – daher dehnen sich die Körper aus oder ziehen sich zusammen, je nach der Wärme. Daher verbinden sich die Elemente unter Abgabe von Wärme. Und die Wärme ist wiederum das Gebiet der Energetik. Die Energetik gilt – ja! – aber eben nur von der ausgestrahlten, entäusserten Kraft. Von der inneren, quellenden, aufsteigenden Kraft gilt aber die Entwicklungslehre. Nur als solche zwei Richtungen der Aktidentätigkeit lassen sich Entwicklungslehre und Energetik doch in Einklang bringen.
In jedem Atom ist eine Aktide die machtvollste. Sie liegt im Kampfe mit den strömenden Kräften des «Milieu». Ihre Obmacht bestimmt dann die Form des Atoms. Die oberste Aktide einer Atomgruppe bestimmt weiterhin den Zusammenschluss der Atome, ihre kristallinische Form. Materialisation war die erste Stufe der Gestaltung. Kristallisation ist die zweite Stufe individueller Formenbildung. Wachstum und Organisation ist die dritte. Individuelle Macht lebt in jeder Form, im Kristall, in der Zelle, in der Pflanze, in Tier und Mensch. Form ist individuelle Raumerfüllung, Form ist der Einklang der Mächte und Kräfte zu individuellem Bunde. Es gibt nichts Gleiches im Weltraum. Kristalle einer Mutterlauge schiessen verschieden auf, Pflanzen einer Art und desselben Bodens weichen individuell voneinander ab. Es gibt nichts Totes. In jedem Dinge lebt seine gestaltende, zeugende Seele. Nicht das mechanisch unteilbare, «gleiche» Atom von der äusseren, armen Energie Gnaden ist der Kern der Welt – genug dieses fadenscheinigen Märchens! Ewig unzerstückelbare, tätig quellende und gestaltende Individualität ist die physikalische Urtatsache.
2) An diese Einsicht knüpft die neue energetische Ernährungstherapie von Dr. Bircher in Zurich an.
3) Vom Lateinischen: actus – die Tat.
4) Aktidenwechsel ist richtiger als absolute Zersetzung der Materie, wie Le Bon das auffasst, vgl. a.a. O.
Tätige Individualität ist die physikalische Urtatsache. Die Vertreter der Energetik werden diese Anschauung einen Rückfall zum Glauben der Wilden nennen, die jedem Dinge eine Seele beilegen. Oder sie wird „Autosuggestion“ heissen, willkürliche Einbildung. Zwar erkennt die Naturwissenschaft keine Willkür in der Natur an. Zwar lehrt der Determinismus, dass jede Erscheinung ihre zwingende Ursache habe. Jeder Vorgang stammt aus den vorhandenen Kräften – so predigt zum Ersten die Energetik. Nur vor dem Bewusstsein kapituliert der strenge Ursachensinn der Physik. Da gibt es «Willkür», da sind Erscheinungen ohne Notwendigkeit. Näher gesehen, ist es die entthronte Freiheit des Willens, der in der Willkür des Bewusstseins ein verlegener Unterschlupf gewährt wird. Die Autosuggestion ist das «asylum ignorante» der modernen Wissenschaft.
Dabei wird doch das Bewusstsein als Gehirnarbeit anerkannt, und werden die Energievorgänge gemessen, z.B. die Verlangsamung des Denkens im Alkoholzustande. Ja, das Bewusstsein wird gänzlich von Reizwirkungen der Aussenwelt abgeleitet. Die Art una Weise der bewussten Erscheinungen gilt als psychophysisch notwendig. Nur ja nicht der Inhalt dieser Erscheinungen. Die Empfindungen, Vorstellungen, Anschauungen sollen rein willkürlich sein, Wirkungen ohne Ursache. Daher wird das mathematische Bild der parallelen Linien, die sich nie berühren, gebraucht. Man redet vom psychophysischen Parallelismus. Das heisst: glaube nur ja nicht, der Inhalt deines Bewusstseins habe irgend eine Berührung mit der Wirklichkeit. Wenn der äussere Energiestrom versiegt, ja dann hört dein Bewusstsein auf – es ist ja abhängig. Aber wenn du lebendige Mächte rund um dich wirken siehst, so irrst du – dein Bewusstsein ist ja willkürlich.
Der Beweis dieser wissenschaftlichen Lehre sollen die Träume sein, die Halluzinationen, die religiösen Anschauungen.
In der Tat: es gibt Täuschungen des Bewusstseins, Vorstellungen, die sich von der Wirklichkeit entfernen. Je entfernter von ihr, um so leichter ist die Täuschung. Die eignen Bewegungen der Atome sind dem Grade nach zu fern für unsre Sinne, wir sehen sie daher nicht, und noch der Kristall scheint uns starr und unlebendig. Die zarte Individualität der Pflanzen verwischt sich für unser Auge, und wir bilden uns ein, sie hätten keine. Wir können die strahlende Kraft nur teilweise, im Elektroskop, messen, weil unsre Apparate vorwiegend für die strömende eingerichtet sind – wir lassen aber nur die gemessene Kraft gelten. Nicht wahr, meine Herren Energetiker? Und weiter: je mehr eine Empfindung ihre Einzelheit und Selbständigkeit aufgibt, um so mehr büsst sie ihre Naturwüchsigkeit ein. Daher die Beschränktheit der Begriffe, die Unzulänglichkeit aller Regeln und Gesetze, die Unlebendigkeit des abstrakten Denkens. Und noch: je komplizierter eine Anschauung, um so möglicher ihr Irrtum. Je mannigfaltiger ein Vorgang, desto leichter entgeht dem Beobachter eine Einzelheit. Daher die fehlerhaften Zeugenaussagen. Daher umgekehrt: je einfacher eine Anschauung, um so echter. Je ursprünglicher eine Empfindung, um so wirklicher ist sie. Das, was in jeder Empfindung lebt, ist der Wahrheit am nächsten.
Nun: der letzte Kern aller Empfindungen ist gerade die Individualität.
Den entwickelteren Vorstellungen wird ja dieser Anthropomorphismus gerade zum Vorwurf gemacht: der Mensch fühlt sich als Persönlichkeit inmitten einer Welt lebendiger Gebilde. Doch auch schon der einfache Sinnesreiz wird individuell empfunden, wird als Ding an eigenem Ort gefühlt. Das Auge sieht Lichter, das Ohr hört Klänge, der Finger tastet Körper. Schmerz oder Lust, Ruhe oder Kraft – immer ist es ein «Etwas», das leidet, jubelt, ruht und schafft.
Bewusstseinstäuschung! – sagt die Psychophysik. Aber gerade die Bewusstseinstäuschung beweist, dass das Bewusstsein nicht einfach eine Addition der äusseren Reize ist, beweist, dass die Reize auf ein «Etwas» wirken, das sie annimmt oder ablehnt. Je reicher dieses «Etwas» – das ist eben die Persönlichkeit – desto sicherer findet jede Einzelheit Aufnahme und Verknüpfung. Die Welt weitet sich. Aber das eingeengte Bewusstsein geschrumpfter Persönlichkeit sieht eine arme Welt. Und fachmässig-praktische Einengung des Bewusstseins ist gerade, was die Wissenschaft objektive Schulung nennt.
Das Bewusstsein empfindet in erster und letzter Linie Individualität. Und das tut nicht bloss die Einfalt des Empfindens. Nein, auch die dreifach sterilisierte Wissenschaft kommt davon nicht los. Gerade der «Kausalnexus» zerlegt den Fluss des Geschehens in eine Kette individueller Glieder. Gerade der Determinismus sucht hinter jeder Erscheinung ihre «Ursache» – ihren kleinen GottSchöpfer. «Gerade die Energetik misst jedem Geschehen seinen bestimmten Daseinsgrund zu, jeder Kraft ihren angepassten Träger – nenne er sich Atom, Ätherwirbel, Elektron. Nicht einmal die kühle Welt der Zahlen entgeht dem Stempel des Individuellen. Eins, zwei, drei sind unüberbrückbar selbständig. Und schöben sich Milliarden Bruchstellen dazwischen, von Bruchstelle zu Bruchstelle hiesse es doch wieder: eins, zwei, drei, vier – unüberbrückbar selbständig.
So unendlich verschieden sie auch wären, eines ist allen Empfindungen gemeinsam: der unausrottbare Glaube an die Individualität. Dieser Glaube muss im Wesen des Bewusstseins liegen, diese Tatsache muss die Wurzel des Bewusstseins sein.
Im Bewusstsein verknüpft sich alles Einzelne. Das Bewusstsein erbaut Vorstellungen von immer umfassenderer Einheit. Das Wesen des Bewusstseins muss Einigung sein. Der Grad der Einigung und Einheitlichkeit muss über die Kraft und Stetigkeit des Bewusstseins bestimmen. Bewusstsein muss alle die Stufen der Gestaltung begleiten, in denen die materielle Welt emporsteigt. Das Bewusstsein muss gleichzeitig mit der materiellen Welt entstanden sein. Aus derselben Quelle muss das Atom und das Bewusstsein stammen. Aus dem Drange der tätigen Mächte muss mit der Welt der Formen zugleich die Welt der Empfindungen entsprungen sein. Geist und Materie sind Zwillinge. Ihre enge Doppelheit ist der Ausdruck ihrer Einheit.
Die Energetik hat das Bewusstsein als eine besondere Art der Nervenenergie auffassen wollen. Aber welch eine Verschiedenheit zwischen allen andren Leistungen der Energie und dieser, die ihrer selbst bewusst wird! Vor allem jedoch ist es ganz unmöglich, das Bewusstsein aus der äusseren Energie zu erklären. Erklären heisst, das Unklare in klare Einfachheit auflösen, das Unbekannte an Bekanntes anknüpfen. Was ist aber bekannter als das Bewusstsein?! Aus keinem Worte, keinem Begriff, keiner Erklärung können wir das Bewusstsein ausscheiden. Die allereinfachste Kenntnis enthält doch gerade das Bewusstsein der allereinfachsten Tatsache. Das Bewusstsein ist der unausmerzbare Träger jeder Tatsache. Für uns gibt es keinen Sprung über das Bewusstsein hinaus. Für uns ist das Bewusstsein der Urgrund jeder Erklärung, für uns ist es am Anfange alles Geschehens. Und jede Bewusstseinsstörung – Schlaf, Hypnose, Ohnmacht, Wahnsinn, Tod – beweist erst recht, dass die Störung des dynamisch-physiologischen Gleichgewichts das Bewusstsein verändert oder aufhebt.
Das Bewusstsein ist das Ergebnis dynamischer Einheit. Je umfassender die Einheit, um so heller das Bewusstsein. Je geringer, um so dumpfer. Es ist um so höher, je mehr der höheren Gehirnteile zusammen arbeiten. Auch die tieferen Gehirnschichten, auch die einzelnen Gehirnzellen und die Atome in den Zellen haben Bewusstsein, solange sie selbständige Einheiten sind. So- bald aber eine geringere Gruppe in ein höheres Gefüge aufgenommen wird – wie ein Mensch in Reih und Glied einer militärischen Kolonne tritt – hört die Selbständigkeit auf, die eigne Einheit, das eigne Teilbewusstsein erlischt. Es gibt dann nur noch das Gesamtbewusstsein der höheren Einheit, das Unterbewusstsein wird überstrahlt. Do eh auch dann können diese Untergruppen noch arbeiten, vorarbeiten. Es dringt Kraft in sie, gleichzeitig und einheitlich, aber die Zellen können nicht zu ihrer eignen Verknüpfung gelangen, jede einzelne Zelle hat dann ein unendlich schwaches Bewusstsein. Erst wenn die höhere Einheit zerfällt – wie wenn im Militärischen das Kommando «Rührt euch» ergeht – werden die gemeinsam abgestimmten Zellen frei, sich nun zu selbständigen Gruppen zusammenzuschliessen und höhere Empfindung zu werden – die «unbewusste» Empfindung ist eine aufgehobne oder aufgeschobne Empfindung. Wir – die Menschen im Zustande vollen Bewusstseins – können ja gar nicht das zerstückelte Einzelbewusstsein unmittelbar kennen, weil die Zerstücklung jede Verknüpfung, also den Vergleich mit den uns vertrauten Zuständen unmöglich macht. Dass es aber dieses einfachere Bewusstsein gibt, zeigt der verdeckte Mechanismus des geistigen Lebens und vor allem das Traumleben. Dass es auch ein einfachstes geben muss, hinab bis zur ersten Gestaltung des ersten Atoms, ist ein Glaube, ohne den wir auf jede Erklärung, jede Anschauung verzichten müssen. Wie’s beliebt!
Dynamisch begriffen ist alle Materie Bewegungsgemeinschaft. Die Aktiden werden durch Kraftstrahlung zusammengeschlossen. Die Kraftstrahlung wirkt also der Individualität entgegen, und stammt doch aus ihr. Was die eine Aktide der andern tut, muss sie selbst nicht leiden wollen. Die tätige Individualität will sich wachsend betätigen, die andern meistern, selbst sich behaupten. So fliehen sie einander, um selbsteigen zu bleiben. Aber die ausgestrahlte Kraft reckt sich hinüber und tut ihr Werk. Die ausstrahlende Kraft der machtvollsten Individualität bändigt die übrigen Individualitäten in eine Gemeinschaft, in eine Form. Da rettet sich der Tatendrang in die Bewusstheit hinüber. Mit dem ersten geglückten Gefüge des ersten Atomes entstand auch der Geist. Zeugnis derselben inneren Mächte, die sich ringend gestalten, sind die Form und die Empfindung. Bewusstsein ist der in neuer Einheit und Eigenheit triumphierende Tatendrang, eine Neubekräftigung der tätigen Individualität. Ursprungszeugnis des Bewusstseins ist also der Glaube an die Individualität.
Deswegen gipfelt das Bewusstsein in der Freude, wie die Materie in der Schönheit. Freude ist die erfüllte Individualität, Schönheit ist die erfüllte Einheit. Beide sind der erfüllte Tatendrang.
Wenn die Quintessenz des Bewusstseins die Individualität ist, wie hat sie je bestritten werden können? Der Mangel an Persönlichkeitsgefühl, beweist er nicht etwa, dass die Individualität sich entäussern lässt, äusserlich ist?
Nein. Selbstmord ist Zerrüttung des Lebens und doch eine Tat des Lebens, wenn auch des sinkenden. Mangel an Persönlichkeitsgefühl ist nur eine Entartung der Individualität. Der unpersönlichste Herdenmensch weil sich sehr wohl als Person gegenüber andern Menschen. Nur fühlt er sich von ihnen abhängig. Ihre Gemeinschaft gibt seiner schwachen Persönlichkeit den Halt. Die Individualität des unpersönlichen Menschen besteht in seinem sozialen Kreise. Sein Bewusstsein ist sozialisiert. Sein Persönlichkeitsgefühl ist so abgeschwächt, wie sein individuell-dynamischer Wert. Das Bewusstsein kann sich auch zurückbilden.
Dem sozialisierten Bewusstsein unterliegt ein jeder so weit, als er innerlich abhängig ist. Daher spiegelt sich Grad, Wert und Ziel der sozialen Entwicklung in dem Zeitgeiste. Auch die Wissenschaft ist immer Zeitgeist. Nur bleibt diese soziale Bedingtheit den Beteiligten unbewusst. Mit voller Überzeugung wird die sozialisierte Anschauung als absolut ausgegeben. So wirkt sie auch imposanter und verstärkt die Sozialisierung. Die Wissenschaft hat gesprochen, die unfehlbare Kongregation! Der Wilde sah feindliche oder gütige Dämonen in der Natur. Die herrenrechtliche Kultur liess von Dingen, Kräften, Eigenschaften reden. Der moderne Physiker der grossstaatlichen Zwangssozialität spricht von Naturgesetzen, Arbeit und Ökonomie der Energie. Beanspruchte die Energetik, bloss den sozialen Zustand unsrer Zeit zu spiegeln, sie hätte recht in der Leugnung der Individualität, der individuell steigenden Kraft, der lebendigen Atomverschiedenheit. Der Mensch soli ja bloss soziales Atom sein, sein Bewusstsein soli bloss das dienstbare Echo der sozialisierten Anschauungen sein, seine Leistungen bloss um Arbeit. Dieser Geisteszustand, der weniger als jeder andre unbefangen und vorurteilslos ist, beherrscht die ganze Wissenschaft. Besonders die moderne Geschichte des geistigen Schaffens krankt geradezu an diesem Wahn der Unpersönlichkeit «der Entlehnung», der «Nachahmung», des «Milieus». Es ist die Energetik auf das geistige Leben übertragen. Warum wir da nicht, trotz Darwin, seit den Zeiten des ersten Affenmenschen zu völligen Kretins geworden sind, ist völlig unbegreiflich!
Fürwahr, wenn es eine lächerliche Autosuggestion gibt, so ist es der Anspruch der modernen Wissenschaft auf Objektivität und Logik. Die Wissenschaft leistet im Praktischen ja viel Wertvolles. Es wäre unbillig, von ihr auch eine umfassende Theorie zu fordern, eine Weltanschauung. Aber deshalb soll auch sie sich nicht einbilden, sie gegeben zu haben.
Die moderne Wissenschaft ist in ihren Grundlehren ein Märchengespinst. Aber seien wir nachsichtig! Die sozial zerbröckelten Individualitäten können nichts als Bruchstücke der Allgemeinheit begreifen. Daher: je weniger die Individualität zählt, gilt und kann, desto mehr deckt sich ihre Anschauung mit dem heutigen Zustande der Wirklichkeit. Oder richtiger: je mehr die Individualität in der Masse untergeht, um so mehr wird die Wirklichkeit sich dieser Anschauung nähern müssen. Wenn Prokrustes seine Gäste geköpft hätte, passten sie gerade in sein Bett. Vermehrung der Menschenmasse und Vermehrung der ökonomischen Umsatzwerte, Pflicht der Fortpflanzung und Pflicht der Arbeit — das sind daher die Grenzen der modernen Wahrheit. Nur das soll Wahrheit heissen dürfen. Ukas Ihrer Majestät der Natur.
«Für die Natur ist die Art alles: die Art, d.h. die Gesamtheit. Das Individuum hat Interesse und Wert nur als Glied der Gesamtheit … Die Individuen scheinen nur einen Zweck zu haben: die Art zu erhalten, ohne sich um das Individuum zu kümmern. Dieses arbeitet nur für die Art … das Individuum leidet, in der Tat, aber die Art ist gerettet: das ist das Wesentliche …»
So, ins Unendliche gespielt, lautet das Leitmotiv der modernen Biologie.
Wirklich, die Natur sorgt ausgiebigst für die Art. Das Heringsweibchen hat bis 80 000 Eier, die Scholle bis 800 000, die Steinbutte gar 8 000 000! Welches Meer könnte den Fischreichtum fassen, kämen alle neugeborenen Weibchen ihrerseits zum Laichen. Eine Birke von etwa 40 Jahren streut 30 Millionen Samen aus. Welch einen Wald gäbe das in 100 Jahren! Epilobium roseum könnte in 5 Jahren die Erde bedecken. Die Blattlaus ergibt in 10 Geschlechtern 1 Trillion Nachkommen – eine Masse dreimal so schwer als alle Menschen zusammen. Aus der Enkelmasse einer Bakterie liesse sich binnen 9 Tagen eine Brücke zum Monde schlagen, von der Dicke unsrer Erde! In der Tat, die Natur hat der Art eine unendliche Ausbreitungskraft verliehen.
Aber wo ist diese Bakterien-Mondbrücke? Wo sind die Heerscharen der Läuse? Warum wird von Millionen Eicheln nur eine zum Baum? Warum sind die Steinbutten so teuer?
«Ja, Kindchen» – sagt die Grossmutter am Spinnrade – «das ist die Weisheit der Natur. Die Arten sind nicht alle gleich bedroht. Daher müssen sich die Meistbedrohten so stark fortpflanzen. Dann retten sich doch wenigstens einige Junge bis zur Reife.»
Also die Arten sind bedroht. Die Keime können verdorren, ersticken, erfrieren, die Jungen werden aufgefressen. Der einen Art scheint am Dasein der andern soviel zu liegen, wie dem Schlächter am Schlachtvieh. Die Pflanzen neiden sich Luft und Licht, Erde und Wasser. Die Tiere räumen unter den Pflanzen auf und vertilgen einander. Es ist doch gut für die stärkere Art, dass sich die schwächere so vermehrt. Da ist kein Hungertod zu fürchten. Die weise Natur hat allen den Tisch gedeckt.
Wer hat das alles so weise eingerichtet?
«Die» Natur.
Gewiss: die Alge und der Pilz, die sich friedlich zur Flechte vereinigen, können sich der Vorsehung freuen. Auch der Blattlaus wird es nicht unlieb sein, dass ihr die Ameise den klebrigen Saft abzapft. Aber ob ein moderner Biolog, zum Vögelchen verwandelt, die Weisheit des Schlangenmagens bewundern würde, ist doch fraglich. Die Vogel«natur» ist mit der Schlangen«natur» durchaus nicht einverstanden. Und ob die Naturen der ausgestorbenen Arten, hunderttausende an Zahl, so gerne untergegangen sind? Wenn es der Natur nur um «Erhaltung der Art» zu tun ist, warum hat sie auf die Erhaltung dieser Arten verzichtet? «Die» Natur hat also jedenfalls einen so vielspältigen Willen, als es feindliche Arten gibt. Gegen jede Entscheidung des einen Naturwillens lässt sich immer noch an irgend einen andern appellieren. «Die» Natur, die einheitliche, allmächtige, allweise, ist ein Märchen. Es gibt mindestens soviel Naturen, als es Arten gibt. Nicht „die“ Natur kümmert sich also um die Erhaltung der Arten. Höchstens liegt es jeder Art selbst daran, nicht unterzugehen.
Was kennzeichnet die Art? Eigne Gestalt, eigner innerer Bau, eigne Lebensweise. Doch wer hat Gestalt, wenn nicht das Individuum? Das Individuum ist der Träger der Art. Auf das Individuum muss sich die Art verlassen. In den Eigentümlichkeiten des Individuums muss die Möglichkeit der Arterhaltung gegeben sein. Ist es nun die «Art» im Individuum, die zur Vermehrung drängt? Was weiss die Laus von den Gefahren, die ihre «Art» heimsuchen und eine grosse Fruchtbarkeit wünschenswert machen? Dieser Lauseverstand wäre denn doch allzu märchenhaft. Tatsache ist nur ein individuelles Begehren.
Das Individuum will leben. Es will sich inmitten der äusseren Kräfte behaupten und will wachsen. Sein Bestand wird durch den Aktidenwechsel bedroht, der zum Stoffwechsel wird. Die innere Störung des Gleichgewichts äussert sich im Hunger und treibt zur Bewegung, zum Wachstum.
Das dynamische Gefüge verändert sich ja fort und fort. Es bleibt dennoch stetig, wenn die oberste Aktide für jede entwachsene Aktide eine neue einfängt. Und das Gefüge wächst, weil die oberste Aktide wächst und immer mehr geringere Aktiden sich angliedern kann. Unmessbar gering beim Atom und Kristall, wird dieser Vorgang erst bei den Zellen offenbar. In der Zelle muss das Gefüge überaus reich gegliedert sein. Viele und rege Aktiden müssen von einer noch weit bedeutenderen Zentralaktide gebändigt sein. Die werbende, assimilierende Kraft muss sehr hoch sein und doch einen lebhaften Austausch gestatten. Und daher steigert sich sichtbar ihr Gebiet. Sie würde, wenn möglich, die ganze Welt sich zu eigen machen. Das wäre auch Erhaltung der Art, Verewigung einer Lebensform. Der «Art» – dynamisch begriffen – wäre auch mit einer solchen Riesenzelle gedient.
Doch Macht und Entfaltung jeder Aktide sind individuell gemessen. Es melden sich Nebenbuhler, zunächst im Zellkern. Und ist dieser erst zerfallen, dann kann jeder der neuen Zellkerne in den entfernteren Teilen der Zelle zur Obmacht gelangen, soweit seine strahlende Kraft gerade reicht. Es bilden sich Sondergemeinschaften, wie Sonderstaaten sich im Heiligen Römischen Reich bildeten, wenn der Kaiser fern war. Die ganze Zelle teilt sich. Nicht ein Fortpflanzungstrieb, sondern die Gestaltungskraft schon vorhandener individueller Mächte schafft die Vermehrung. Nicht die Art vervielfältigt sich, weil das Individuum keinen Wert habe, sondern weil die Zahl der Aktiden eine von Anbeginn steigende ist, treten immer mehr körperliche Gebilde zutage, sobald sich ihnen die Gelegenheit zur Gestaltung bietet.
Aus dem Kelch des Geisterreiches
Schäumt ihm die Unendlichkeit.
Schiller
Bei den einzelligen, einfachsten Lebewesen ist die Teilung der Zelle und der Beginn neuer Individualität eins. Wo eine kraftvollere Aktide waltet, da ist die Zellteilung nur ein untergeordneter Vorgang.
Die neue Zelle löst sich nicht von der alten. Die Zellen bleiben zusammen. Es sind die mehrzelligen, höheren Arten.
Der einzellige Organismus ist eigentlich unsterblich. Nur mechanisch kann er vernichtet werden. In Ewigkeit könnte eine Zelle die Art vertreten. Bei den mehrzelligen Individuen besitzt die einzelne Zelle nicht solche selbständige Wucht. Sie lebt von der Kraft der obersten Aktide. Ihre allmähliche Abstossung ist ein Absterben. Daher kann auch die Gesamtheit solcher Zellen eher untergehen. Die Lebensform ist hier reicher, beweglicher, gefährdeter. Das Bestehen der Art hängt hier von der Mehrheit an Individuen ab.
Oft genügt eine grobe Spaltung zur Vermehrung. Jeder Arm des Seesternes kann sich zum vollständigen Tier ergänzen. Das Farnkraut kann sich aus Spänen seiner Wurzeln herstellen. Jeder Stengel der Eispflanze bekommt selbständige Wurzeln. Meist ist jedoch die Vermehrung nur durch auserwählte Zellen möglich – Sporen, Eier, Samen. Bei den höheren Arten ist das Regel.
Hier ist von zahllosen Zellen nur eine kleine Gruppe befähigt, neues Leben zu beginnen. Die grosse Menge hat andre Eigenschaften. Sie dienen mannigfach der Erhaltung des hochgegliederten Individuums, ihrer eignen Einheit. Sie suchen Nahrung, sie führen die Verteidigung, sie gestalten die Umwelt günstig um. Also: je höher die Art, je machtvoller die oberste Aktide, je ausgesprochener die Individualität, desto mehr haben die Zellen nur der eignen, individuellen Gemeinschaft zu dienen, ein desto geringeres Ziel des Organismus ist die Vermehrung. Die starke Individualität stützt die «Art» – das ist ihre eigne Lebensform – dynamisch. Die schwache – ja die muss es numerisch tun. Oder richtiger, es geschieht trotz ihr.
So erklärt sich eben die angebliche Vorsorglichkeit der Natur für die bedrohten Arten. Je stärker die Individualitäten einer Art sind, je machtvoller die oberste Aktide des ganzen Gefüges, desto langsamer kommt es zur Zellteilung. Je schwächer die Zentralaktide, desto öfter und vielfältiger teilt sie sich. Die schwache Aktide erlaubt vielen schwachen Aktiden zur Zellbildung zu gelangen. Die Fruchtbarkeit einer Art ist das Anzeichen haltloser Individuen. Sie unterliegen leicht der Unbill der Aussenwelt. Sie erschweren sich gerade in der Masse die Ernährung. Ja, oft treibt gerade ihre Massenhaftigkeit sie der Ausrottung entgegen. Ein Hering allein würde ungestört leben, die Heringszüge fordern ihre Jagd heraus. Also: nicht weil sie bedroht ist, lässt «die» Natur eine «Art» so fruchtbar sein, sondern weil der dynamische Kern solcher Art schwach ist, tritt sie massenhaft auf und geht massenhaft zugrunde. Die Vorsorglichkeit «der» Natur ist ein denkfaules Märchen. Eine Lüge ist es, dass das Individuum nur die Aufgabe der «Arterhaltung» habe.
Dennoch ist es für das Individuum ein hoher Augenblick, diese Entspriessung neuer Individualität. Der dynamische Schwerpunkt des Individuums liegt unbedingt im Erotischen. Die erotische Begeisterung ist aber die höchste Steigerung gerade der Individualität. Bei den höheren Arten ist die Geschlechtszelle verschwindend klein, und gerade bei ihnen wächst der Liebesrausch. Gerade die menschlich höchsten Leistungen der machtvollsten Persönlichkeiten sind vom Eros getragen worden – und doch sind viele kinderlos gewesen: Platon, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Rafael, Friedrich der Grosse, Beethoven, Humboldt, Heine. Die Nachkommenschaft der meisten ist bald erloschen – Alexander der Grosse, Cäsar, Shakespeare, Goethe, Napoleon, Byron. Und wenn Dante auch zehn Kinder gehabt hat, nicht deswegen ist er der Halbgott seiner Heimat.
Also: Erotik und Fortpflanzung, so eng verknüpft, sind doch wesentlich nicht eins. Das beweist schon der sogennante «präpuberale» Geschlechtstrieb, die Liebe vor der Geschlechtsreife. Denn wenn die Liebe nur eine Funktion der Geschlechtszellen und Fortpflanzung wäre, könnte sie dieser nicht zuvoreilen. Aber freilich fördert die Liebe die Geschlechtsreife, wie umgekehrt die Geschlechtsreife die erotische Stimmung steigert.
Die Fortpflanzung ist nur eine Nebenleistung. Die Art, richtiger die neuen Individuen ziehen Vorteil aus der erotisch bedingten Steigerung des alten Individuums. Die Zellen, die unmittelbar dem dynamischen Zentrum unterstehen, empfangen besonders viel Kraft. Vor den andern haben sie daher die Fähigkeit, sich zu selbständigem Leben zu entwickeln. Das gilt von Pflanzen wie Tieren.
Die Pflanzen erbauen sich aus Erdsalzen und Gasen. Sie müssen in die Erde dringen und können sich festsetzen, weil die Gase ihnen zuströmen. Die ganze Pflanze wird unbeweglich, aber ihr dynamischer Schwerpunkt bleibt beweglich, er rückt vor, er wächst empor. Das dynamische Zentrum der Pflanze ist jeweils die Spitze. Das Tier erbaut sich aus fertigem Eiweiss. Es muss auf die Suche danach. Es treibt sich vorwärts. Es prallt mit allerlei Kräften zusammen. In Geschlechtermillionen muss sich seine Stirnseite entwickeln und wuchern. Vor den dynamischen, antreibenden Schwerpunkt legen sich die Organe der Wahrnehmung. Das dynamische Zentrum der Tiere ist am Ende des Rückenmarks. Die höchste Steigerung der pflanzlichen Individualität geht an der Spitze vor sich, die der tierischen geht vom Kreuze aus. Bei der Pflanze verdichtet sich die individuelle Gestaltungskraft zur intensiven Form der Blüte, beim Tiere wächst das individuelle Bewusstsein zum Liebesrausche an. Die intensive individuelle Gestaltungskraft in der Blüte geht auch auf die nächsten Zellen über und erhebt sie zu pflanzlichen Geschlechtszellen. Der intensive individuelle Drang im erotischen Zentrum geht auch auf die ihm unterstehenden Zellen über und erhebt sie zu tierischen Geschlechtszellen.
Nicht weil die «Art» gerettet ist, fühlt sich das Individuum von der Liebe beglückt, sondern weil die Erfüllung der Individualität sich im Liebesgefühl offenbart, vermag da neues Dasein zu entspringen. Nicht weil die «Art» erhalten wird, leuchtet die Blüte, sondern weil sie eine so wunderbare Offenbarung der Gestaltungskraft ist, kann ihrem Einfluss neues individuelles Dasein entspringen. Die individuelle Steigerung ist des Rätsels Lösung. Denn auch eine plötzliche, unerwartete Steigerung der Individualität wirkt so. Eine Bedrohung, z. B., verdichtet die Kräfte, lässt die Individualität anschwellen. So blühten 1832 im algerischen Dorfe Sidi-Ferruch alle Agaven, weil den Winter vorher französische Soldaten sie mit Bajonetthieben verletzt hatten. So wird ein Obstzweig durch eine Kerbe schneller zu Blüte und Frucht getrieben. So empfindet der Heros, der Märtyrer im letzten Augenblicke eine selige Verzückung. So schafft der Künstler gerade aus dem Leide.
Die moderne Märchenbiologie sieht einen Zweck der Blütenkelche in der Anlockung von Insekten. Diese bewirken dann die gekreuzte Befruchtung. Sind nun die Insekten um der Pflanzenbefruchtung willen da? Gewiss: die Unbeweglichkeit der Pflanze macht sie von den Insekten abhängig. Die Pflanzenindividuen können nicht von selbst in Kraftaustausch treten. Den Geschlechtszellen droht allmähliche Erschöpfung. Da helfen glücklich die Insekten dank den Blüten, aus. Aber auch der Wind hilft aus und trägt den Blütenstaub hinüber und herüber. Ist nun der Zweck des Windes, der Zweck der barometrischen Veränderungen, der Zweck der grönländischen Gletscher, die unser Wetter beeinflussen – ist ihr Zweck die Erhaltung einer Pflanzenart? Die Natur wäre da wahrlich unglaublich weitsichtig. Warum ist sie denn voll Unvollkommenheit, Krankheit und Tod? Diese biologische Teleologie ist tausendmal märchenhafter und unlogischer, als der orthodoxeste Schöpfungsglaube.
Der Wind ist längst über die glutflüssige Erde gebraust, ehe es Pflanzenstaub zu tragen gab. Jetzt vermittelt er allerdings den Austausch der Geschlechtszellen. Und dieser Austausch der lebendigen Individuen, ja! der ist von allererstem Wert — für die Individuen. Er ist für die Art nicht absolut notwendig. Die Infusorien können sich teilen und vermehren, ohne jeden Austausch. Aber in der 215-sten Generation stirbt dann schliesslich Stylonichia, in der 660-sten stirbt Leucophrys – wenn ihnen der Austausch mit ihresgleichen unmöglich gemacht wird. Es ist derselbe Grund, warum die einsame erotische Selbstbefriedigung den Menschen mit Selbsterschöpfung bedroht. Der Austausch von Kraft und Saft frischt das Individuum auf, die zeitweilige Vereinigung der Individuen steigert jedes Individuum. Daher wird die Nachkommenschaft nach solcher Vermischung kräftiger. Und gerade mit der Höhe der Art, mit dem Zurücktreten der Geschlechtszellen, wächst das Bedürfnis nach dem Austausch, nach erotischem Verkehr. Er ist eben in erster Linie Steigerung der Individualität, erst in zweiter eine Begünstigung der neuspriessenden Individualitäten, erst in dritter nützt er der Art.
Der dynamisch-erotische Verkehr ist wesentlich älter als die Geschlechtsteilung. Aber wie die erotisch-individuelle Steigerung das Entstehen von Geschlechtszellen ermöglicht, so beeinflusst der erotische Verkehr auch die weitere Sonderung der Geschlechtsorgane. Die Individuen sind ja nie gleich, die Verschmelzung gibt nie den gleichen dynamischen Gewinn, die neuspriessende Individualität kann sehr verschieden vorbeeinflusst werden. Je weniger tief der Kraftaustausch, desto ähnlicher der Stammzelle wird die neue Zelle sich entwickeln. Das führt zuletzt zum weiblich-mütterlichen Wesen, physiologisch wie psychisch die konservative Tendenz. Der tiefere Kraftaustausch begünstigt eine Abweichung, weniger feste aber rege Neubildung – das männlich-reformatorische Wesen. Beides sind einseitige und schliesslich unfruchtbare Tendenzen. Aber in jedem Individuum mischen sie sich ja, und zahllose Zwischenstufen leiten von den dynamischen Polen «Weib» und «Mann» zur hermaphroditischen Harmonie hin. Je einseitiger das Individuum, um so mehr zieht ihn die entgegengesetzte Einseitigkeit an, je näher dem Einklang der Lebensströme, desto mehr bietet dem ausgeglichenen Individuum das ähnlich Ausgeglichene. Wahlverwandtschaft nennt die Chemie dieses Ineinanderstürzen der Atome, mit chemischer Anziehung hat Goethe die Liebe verglichen. Es ist aber mehr als ein Vergleich. Die quellende Kraftstrahlung der Aktiden, Atome, Zellen, Menschen ist die erste aller Tatsachen.
Es ist das Individuum, und immer wieder das Individuum, dessen wurzelhafte Eigenheiten die Entfaltung des Lebens bestimmen. Die «Art» und ihre Wünsche, «die» Natur und ihre Paragraphen sind nur groteske Mosaikbilder, Bewusstseinstäuschungen des Massengefühles. Es gibt soviel Arten, Naturen und Ordnungen, wie Individuen. Ihnen allen gemeinsam ist das Bestreben jedes Einzelnen, von sich aus die Welt zu gestalten.
Die Naturwissenschaft, als Wortführerin des modernen Geistes, hat geglaubt, die Religion überwunden und aus ihrer Hülse den Kern befreit zu haben, die Moral. Die Zeugnisse des Gefühles schienen als Täuschungen abgetan, die Möglichkeit unvergänglicher, innerer Mächte war durch die Atomisierung so gut wie widerlegt, schöpferische Gestaltungskraft erkannte das Gesetz der Energieerhaltung nicht mehr an, aller Schwung und Freudenrausch der Persönlichkeit war nur dazu da, um die Art nicht aussterben zu lassen. Aber nun sind alle Beweise wider die Grundquellen der Religion leeres Gerede. Objektiver, tiefer und wahrer als die gesuchte Nüchternheit der Wissenschaft leuchten die Mythen aus des Menschentumes Jugend zu uns her. Zwar auch in ihnen spiegelt sich oft die soziale Verbildung ihrer Zeit, Priesterschlauheit und blutige Barbarei. Aber näher der Wahrheit und Lebenskraft sind sie doch. Lebendige, gestaltende, unvergängliche Mächte in jedem Gebilde – das ist Wahrheit. Und solche Mächte nennt die Sprache göttliche.
Die Naturwissenschaft, als Theorie, hat unendlich geschadet. Und doch müssen wir der modernen Naturforschung, von Goethe bis Haeckel, dankbar sein. Fast wider ihren Willen hat die Entwicklungslehre einen Ausblick in die tiefsten Welt- und Lebensgeheimnisse eröffnet. Sie hat nachgewiesen, dass auf der Erde ein Streben nach immer höherer Gestaltung waltet, nach immer hellerem Bewusstsein. Sie hat gezeigt, wie von den Kristallen zu den Pflanzen, zu den Tieren, zu dem Menschen ein Aufstieg geht. Dieser Aufstieg ist nicht zu Ende – am Ende aller Aufstiege müssten harmonische Wesen stehn, reich an Formen, reich an Freude, Herr der zerstiebenden kleinen Mächte, enthoben dem ungebändigten Stoffwechsel, eigner Kraft so voll, dass der verlierbare Zuschuss der strömenden Kräfte bedeutungslos geworden sein wird und dass sie der Schwerkraft nicht mehr unterliegen.
Das ist ein Zukunftstraum. Aber was auf unsrer jungen Erde, die noch mitten im Chaos, Versuchen und Werden steckt, ein Traum der Zukunft ist, kann das nicht, ja muss das nicht auf andern, reiferen Welten, irgendwo im Weltenraum, sich schon verwirklicht haben? Gäbe es also vielleicht schon solche vollendete Wesen «verklärten» Leibes? – unveränderlich, unsterblich, ungebunden an den Ort, voll wirkender Kraft, mittels derer sie dort das Leben emporheben, wo es um Aufschwung ringt, wo eine Seele aus dem Chaos hinausstrebt? Wäre das nicht, in Wahrheit, der tiefste religiöse Gedanke der persönlich-göttlichen Gnade?, die den erlösen kann,
der ewig strebend sich bemüht
wenn an ihm
von oben gar die Liebe teilgenommen.
Das einzelne religiöse Erlebnis bleibt immer ein Mysterium, aber im Grossen lässt sich der Gang der Welt ahnen.
Die Individualität ist das einzige physikalisch Greifbare. Die Individualität ist das mindest Hypothetische. Die Individualität ist das Nächste und Gewisseste. Alle Weltanschauung muss von der Individualität ausgehen und zu ihr zurückführen. Die Individualität kann verdeckt, gelähmt, verstümmelt werden. Aber dann leidet, verarmt, versiegt mit der Individualität ihre ganze Umgebung. Das ist die Wurzel unsrer heutigen Übel – denn es gilt ja nur noch der Selbsterhaltungstrieb der Masse, aus ihm quellen, ihm dienen die Märchen der Wissenschaft.
Individualität ist nicht Schrankenlosigkeit, sondern innerlich gemessne Kraft der Entfaltung, nicht Zerstörung, sondern Gestaltung, nicht Absonderung, sondern höherer Einklang, ihr höchstes Ziel ist nicht nicht Feindschaft, sondern Liebe. Durch freudigen, freien Bund der Persönlichkeiten wächst die Menschheit dem Reiche Gottes entgegen. Eros ist der Weltenbildner, aus lebendigen Seelen ordnet er die Welt.
Lebenswerte, Die Märchen der Wissenschaft, PDF
Lebenswerte, Heiland Kunst