Lebensgesetze der Kultur – Erster Teil – Das Wesen der Kultur
Ein Weltentag geht zur Neige.
Die Menschheit ist müde geworden und sehnt sich weg von ihrer Arbeit. Wie vor zweitausend Jahren Theokrit sich in ländliche Unmittelbarkeit zurückdachte, so erhob in unsrer Zeit Rousseau den Ruf: «Zurück zur Natur!», als ob die Kultur nur eine Verirrung wäre; und es sind nicht die schlechtesten Männer, welche eine Umkehr predigen. Als wenn es wirklich ein Vorwärts oder Rückwärts gäbe!
Denn was ist Kultur?
Kultur ist das Werk der Menschenhände; gewiss. Aber diese Menschenhände und das Menschenhirn, das sie lenkt, sind ja selbst nur Werkzeuge der Natur; aus Naturstoffen durch Naturkräfte gebildet und von ihnen abhängig; sie wirken auch nur an der Natur; an den Dingen, welche diese darbietet. Unbeschadet aller seiner Vorzüge ist der Mensch ein Naturwesen, und das Metaphysische teilt er erst recht mit allen Dingen. Die Kultur ist daher auch nur eine Naturerscheinung, und sei es die grossartigste.
Wir dürfen nicht mehr auf dem eng sprachlichen Standpunkte stehen bleiben, demzufolge die Natur nur die Lebewesen umfasst, die geboren werden. Die Natur ist mehr als die grosse Gebärerin. Jedoch ebenso falsch, ja einseitiger und blinder ist die Anschauung, welche der Natur die ganze tote und lebende Welt zuweist, mit der einzigen Ausnahme des Menschen. Aber nein; die Natur begreift die Gesamtheit aller Dinge in sich; und wollen wir uns menschlich beschränken; so sagen wir: aller Dinge auf Erden. Und da wird die Natur zur Mutter Erde.
Nein, der Mensch steht in nicht höherem Grade über der Natur, als der höchste Berg über seinem Gebirge. Der ganze Mensch gehört der Natur an; alles was er tut und kann; tut er im Namen und auf Geheiss der Natur, aufbauend wie sie oder zerstörend wie sie. Es ist genug der Fallgitter, die der Mensch sich vor die eigene Nase wirft, und dann über ungelöste Rätsel zu klagen. Ein Rätsel bleibt die Ewigkeit; ein Rätsel ist die einzelne Erscheinung eben in ihrer gegebenen Einzelheit, aber die Natur braucht kein Rätsel für denjenigen zu sein, der sehen will. Es wird der Tag kommen, da sich das Selbstbewusstsein der Erde erfüllt; da der Mensch mit seinem Empfinden das Innerste der Erde begreift; warum auch nicht? Die Erkenntnis hält ja den Weltenlauf nicht auf und das Ende eines Weltgeschehens wäre sie nie und nimmer: denn die Welt ist Tat und nicht Bewusstsein. Wenn diese Selbsterkenntnis der Erde erreicht sein wird; dann wird nur eines ein Ende haben: nicht die Unwissenheit, wohl aber das Recht auf Unwissenheit.
Ein erster Verzicht auf dieses Menschenrecht der Unwissenheit ist es; die Kultur als Naturmacht zu begreifen, als in der Natur wurzelnd, aus ihr entspringend und wiederum auf sie zurückwirkend, mit nicht geringerem Erfolge; als er jedem Sturmwind und jeder Meeresflut zugestanden wird: denn die Vergänglichkeit des menschlichen Vermögens spricht nicht gegen seine Naturgemässheit, eher dafür.
Kultur ist, wenn wir sprachlich prüfen, die Pflege der Natur: das Bauen an und mit der Natur: so reden wir von Ackerbau für Agrikultur, von Bienenzucht, wo der Franzose von «api culture» spricht. Kultur heisst somit eine pflegliche Behandlung der Natur, eine Förderung gewisser Naturbildungen, eine Unterstützung einiger Naturerscheinungen und daher wohl auch die Beschränkung anderer, die jenen gehegten schädlich werden könnten.
Kultur ist es, wenn der natürliche Lauf eines Gewässers gefestigt oder abgelenkt wird; wenn lockeres Land vor der Raublust des Meeres durch zähes Bollwerk geschützt wird oder neuer fester Boden durch Abdämmung des Wassers gewonnen; wenn ein Weg in die Felswand gesprengt oder in das Waldesdickicht geschnitten wird. Kultur ist es, wenn die Samen der Pflanzen nicht mehr dem launischen Spiel des Windes überlassen werden, der hier und da in der Zerstreuung neue Gebilde hervorruft, sondern wenn sie gesammelt und in Gemeinschaft dem Boden anvertraut werden und nun gemeinsam aufwachsen, eine Saat. Kultur ist es, wenn es den Tieren nicht mehr gestattet wird, sich über weite Strecken hin zu vereinzeln, sondern sie immer wieder zusammengetrieben und zusammengehalten werden.
Kultur ist est aber auch, wenn die toten Gegenstände der Natur, Steine oder Äste, dazu dienen müssen, fremde Zwecke zu erfüllen; wenn sie ihre Schwerkräfte der Muskelkraft anderer Wesen unterzuordnen haben, ob sie nun, durch die Luft sausend, einen Gegner treffen sollen, oder ob es sich zusammenfügen heisst, und ein Ameisenhaufen, ein Vogelnest, ein Biberbau oder eine Menschenhütte entsteht.
Kultur heisst Herrschaft über die Natur, Unterordnung der Natur unter lebendige Kräfte, oder bescheidener, der einen Naturkräfte unter die anderen. Die Kultur gestaltet die Natur um: sie nimmt ihr an einer Stelle, um ihr an der andern zuzufügen; sie prägt der Natur Züge an, die ihr nicht fremd, doch ungewohnt sind; sie bändigt die zerstörenden, verschwenderischen oder gleichgültigen Kräfte unter die aufbauenden, ausnützenden und zielvollen Mächte; sie erneuert die Natur – vielleicht, sie mildert sie – oft, sie steigert ihre Leistungen – nicht doch, aber ihre Erfolge. Und wenn wir die Kultur in ihren höchsten Werken in Betracht ziehen, verdient sie wohl den Namen der menschlich gesteigerten, der vermenschlichten Natur.
Wo wir denn die Natur erhöht finden, wo wir tote oder gleichgültige Dinge in den Kreislauf der höheren Tätigkeit mit einbezogen sehen, da dürfen und müssen wir von Kultur reden. Geschichtlich jedoch ist eine Kultur um so höher, je fruchtbarer und weiter die Regelung ist, die der Natur auferlegt wurde. Und damit tritt ein neuer Gesichtspunkt hervor, der aus dem anfänglichen zwar unmittelbar stammt, dennoch eine neue Richtlinie und einen neuen Massstab abgibt.
Die Kultur schuf neue Zustände in der Natur: das war ihr erstes Lebenszeichen; sie musste aber diese neuen Zustände auch unterhalten, um nicht immer wieder die Arbeit von Anfang an machen zu müssen: sonst hätte sie ja nur geringen Nutzen von der zeitweiligen Erhöhung der Natur gehabt. Doch erschöpft diese Arbeit der Erhaltung längst nicht den Tätigkeitsdrang des Menschen; sie nahm nur einen verhältnismässig geringen Teil seiner Kraft in Anspruch, der grössere Teil seiner Zeit und Lust gehörte neuen Aufgaben, die er sich selbst noch setzen sollte. Und sie kamen ihm aus demselben ihm eingeborenen Kulturtriebe, der ihn richtungslosere Kräfte schöpferisch ausnützen hiess.
Er machte sich neu an die Natur, wie vor Schaffung der vorhandenen Kulturzustände. Diese Kulturzustände bedeuteten ja aber eine Veränderung der Natur; es setzte also seine Arbeit an einer bereicherten Natur ein. Die Kulturzustände sind eben nur umgestaltete Naturzustände, und als Naturerscheinungen tritt ihnen auch der Mensch gegenüber. Sein eignes Werk, sobald es vollendet, scheint ihm nur eine Bildung und Kraft der Natur unter andern, die er gleich den andern willkürlich weiterzubauen, umzuwandeln und zu erhöhen unternimmt.
Daraus ergibt sich denn, dass jeder Mensch als Kulturerzeugnis auf den Schultern seiner Vorarbeiter, seiner Vorfahren, ja der ganzen Vergangenheit steht, und als Kulturerzeuger notwendig über die ererbten Zustände hinausgehen muss. Dadurch werden zum Merkmal aller höheren, stetigen und wahrhaften Kultur die Geschichte und die Entwicklung, diese in die Zukunft weisend, die es schaffen gilt, jene mit der unerschütterlichen Gewalt der Vergangenheit aufragend. Und dies stempelt die Kultur, das Menschenwerk, erst recht zur Naturmacht: denn alle Naturmächte wirken aus der Vergangenheit in die Zukunft, und Gegenwart heisst nur der Kampf der verschiedenen Naturmächte miteinander. Die Kultur ist keine Zufallserscheinung, keine Eintagsfliege, sondern ein Denkmal der Erde; nicht eine flüchtige Welle, die sich hebt und senkt und versinkt, sondern eine Feuerquelle die ihre Funken unverlöschlich in den Weltenraum sprüht; sie ist die Blüte der Erde, und der Wind des Weltenlaufes ergreift alle reifen Samen und trägt sie hinaus in die Unendlichkeit, neuen Entfaltungen und Wandlungen zu.
Wenn das Wesen der Kultur, aus der Natur des Menschen stammend, wenn das Menschenwerk, um einen knappen Ausdruck zu brauchen, erst in den beiden Bedingungen der Geschichte und der Entwicklung zur vollen Verwirklichung gelangt, so treten als Frühstufen in der Wertung alle solche Kulturen zurück, die einen gegebenen Zustand unbegrenzt lange festhalten, ohne ihn zum Ansporn neuer, höherer Zustände werden zu lassen. Das sind die Kulturen der sogenannten Naturvölker, denen innerer wie äusserer Antrieb fehlte, um rastlos an der Natur weiterzubauen; sie begnügen sich mit einem leichterreichten Mindestmasse an Kultur. Und kaum zu reden ist von den Tierbauten und Tierstaaten, die nur das erste Aufdämmern der Kulturmacht bedeuten, doch aber zeigen, wie wurzelhaft die Kultur mit der Natur verbunden ist.
Den Tieren steht der Mensch, den Naturvölkern stehen die Kulturvölker gegenüber, denen äusserer Zwang und innerer Drang die unaufhaltsame Entwicklung zur Lebenspflicht machen. Doch ist auch bei ihnen der Drang der Entwicklung nicht der Sturm der Zerstörung: wie alle aufbauenden Naturmächte geht auch die Kulturentwicklung langsamen Schrittes vor, ja langsamer fast, als die andern alle. Hängt doch im kleinsten Gebilde der Natur alles engstens zusammen, wie viel mehr muss nicht in ihren grossen Schöpfungen jeder Teil den andern tragen, sich einer auf dem andern aufbauen! Und so kann er auch nicht verändert werden, ohne dass das Ganze in Mitleidenschaft gezogen würde und daher mitbestimmen muss. Daher fordert jedwede Umgestaltung eines Teiles, und sei sie noch so dringend, die gleichzeitige Umgestaltung aller andern Teile: ein unverhältnismässig höher Kraftaufwand, der nicht auf einmal bestritten werden kann, sondern nur nach und nach aufzubringen ist. Deshalb geschieht jeweils so unendlich wenig – dafür an zahllosen Punkten – bis das Wenige sich ansammelnd zum Erfolge wird, und das lange Zeit verborgene Wirken an das Licht der Gegenwart tritt.
Zu dieser allgemeinen Hemmung kommt noch das menschliche Bewusstsein, auch eine Naturkraft, oft antreibend, meistens bremsend. Die Geschichte, das verantwortungsreiche Erbe, durch diese Verantwortung eigentlich ein Sporn der Betätigung, wird durch die Last der Gesamtheit eher ein Hemmschuh, meistens zum Segen, oft zum Schaden: denn zu diesem «Bewusstsein der Menschheit» tritt ja das Bewusstsein des einzelnen Menschen, der selbsttätige Spiegel aller seiner Triebe; und Nachahmung wie Gewohnheit, Kleinmut wie religiöse Scheu, widerraten ihm jeden neuen Schritt ins Ungewisse der Zukunft.
So führt die Stetigkeit der Kultur oft zum Stillstande, wenigstens zum zeitweiligen und scheinbaren; aber in ganzen ist sie doch eine förderliche Macht, notwendig wie dem Schiffe der Ballast oder das steuernde Schleppseil dem Luftballon; ja recht eigentlich ist sie das Rückgrat der Kultur und, wenigstens der unbekannten Grösse zukünftiger Gestaltung gegenüber, beruht oft der ganze Inhalt der Kultur in dem Gewordenen, das sich einheitlich durchgesetzt hat.
So wird zu einem neuen äusseren, nicht äusserlichen, Merkmale der Kultur die Einheitlichkeit, die organische Gemeinschaft aller gleichzeitigen und gleichartigen Lebenserscheinungen der Menschen; ja, sie ist es erst, die einer Masse zahlloser Menschen, die mit und nebeneinander leben, den Stempel der Zusammengehörigkeit aufdrückt. Nicht dass die Einheitlichkeit diese Zusammengehörigkeit erschaffen hätte; aber sie verstärkt sie bedeutend und kann dies, weil es vielmehr in letzter Hinsicht diese innere Zusammengehörigkeit ist, der sie ihre Eigenheiten verdankt.
Das ist denn auch das eigentliche Geheimnis aller geschichtlichen Kultur, jeder einzelnen Verwirklichung der Kulturmacht, dass sie aus dem Inneren, dem Blute derjenigen Menschen stammt, deren Leben sie regelt, aus der Rasse.
Nicht jedoch, dass hier rätselhafte Wunder vor sich gingen, sondern aus der Blutsverwandtschaft quillt ganz von selbst und natürlich eine gewisse ähnliche Stellung zur Natur, eine gewisse Übereinstimmung der Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Taten. Diese Übereinstimmung, die nicht erst erklügelt zu werden braucht, ist es denn auch, welche das Zusammenarbeiten der Menschen ermöglicht. Und da setzt denn das eine Geschlecht da ein, wo das andere hat abbrechen müssen, der eine Mensch tut das, wozu der andere nicht fähig ist, was aber um des Allgemeinen willen zu geschehen bat. Und so verweben sich alle Teile miteinander, das grosse Ganze bildend.
Kultur ist die Lebensart eines Volkes und beruht daher tatsächlich auf dem Gemeinleben. Jeder Einzelne geniesst nur deshalb die Errungenschaften ungezählter Geschlechter, weil die andern alle, von Kind auf in die gegebenen Formen hineinwachsend, den Schutz dieser Gemeinbildungen als erstes Erfordernis anerkennen. Die ganze Lebensweise des Menschen ist in den meisten Hinsichten dermassen an die Mitwirkung der Mitmenschen gebunden, dass er unwillkürlich, eigenen Launen zum Trotz, doch fest in dem Gemeinleben und seiner Art, das ist eben der Volkskultur, wurzelt. Nicht nur was er vom Leben verlangt, an Notdurft wie Genuss, ist fast durchweg Erzeugnis des geregelten Lebens, auch was er selbst dem Leben zu bieten gedenkt, kann sich nicht von der kulturellen Umwelt lossagen. Erstens muss es an das Gegebene anknüpfen, will es nicht ein Märchen aus Wolkenkuckucksheim bleiben; sodann aber bedarf der einzelne, um sich betätigen zu können, um seine schöpferischen Kräfte zu verwirklichen, um seine Kulturarbeit zu leisten, des festen Bodens unter den Füssen, des Rückhalts, der wirtschaftlichen Sicherheit.
Darum ist niemals ein Bruch der Kultur geglückt und hat jede grundlegende Neuerung langsam Wurzeln schlagen müssen; jede Idee hat sich langsam, von Geschlecht zu Geschlecht sickernd, den Acker zu bereiten gehabt, ehe die Stunde ihrer Reife und Frucht hatte kommen können. So fest und sicher verankert die Geschichte, das lebendige Erbteil der Empfindungen und Bedürfnisse, die Kultur.
Aber dennoch bedarf sie der steten Erneuerung, um ihr Höchstes zu erreichen. Da wird ihr aber nur in der einzelnen Persönlichkeit, die über ihre Umwelt hinausgewachsen ist, und die Samen und Keime ihrer neuen Art weit um sich in die Lande gestreut, mitten in das altheimische Gewächs, ihm verwandt und doch neuer und höher. So stellt denn das Gemeinleben die Stetigkeit, die Vergangenheit, die Geschichte in der Kultur dar, die Persönlichkeit des einzelnen aber ist Träger des Werdens, der Zukunft, der Entwicklung.
Gilt nun, mit Recht, das Greifbare, Gegebene, das tatsächlich Erprobte als der Inhalt eines Dinges, so ist die Kultur in Gemeinleben gegeben; die Persönlichkeiten hingegen, deren neuschöpferischer Lebensdrang doch gerade aus dem innersten Wesen der ganzen Kulturentwicklung aufsteigt, treten eben dadurch doch gewissermassen ausserhalb ihrer Kultur. Sie müssen schon einen Gegensatz verspüren, um überhaupt zur Umbildung getrieben zu werden; sie müssen der Lebensweise ihrer Umgebung wie einem rohen, erst noch zu gestaltenden Stoffe gegenüberstehen, doch nicht fremd und kalt, sondern voll innersten Mitlebens. So werden die Persönlichkeiten denn überkulturell, sind Keime der Zukunft der Kultur.
Alle Kulturbildungen sind von einzelnen Persönlichkeiten ausgegangen, aber erhalten hat sie das Gemeinleben, das die neuen glänzenden Menschenwerte erst durch lange Prüfung, Anerkennung und Gewöhnung von Verdacht und Misstrauen befreien musste, ehe sie vollgültige Kultur wurden. So stehen sich denn Gemeinleben und Persönlichkeit ergänzend gegenüber: diese das Wesen, jenes der Inhalt der Kultur, diese die Möglichkeit und Hoffnung neuen Menschentums, jenes seine Verwirklichung und Erfüllung, diese der Samen, jene der Baum, der aus dem Samen entstanden, neuem Samen das Dasein geben wird. Erst ihr Zusammenwirken schafft das volle Menschenwerk, den Beweis, dass der Mensch das Recht hat sich als den Herrn und die Krone der Schöpfung zu bezeichnen, dass er wirklich der Edelstein der Mutter Erde ist.