Monte Verità – der Berg der Wahrhaftigkeit
Die Schweiz besitzt ein einzigartiges Zeugnis des geistigen Aufbruchs in die Moderne: Den Monte Verità oberhalb von Ascona. Im Herbst 1900 kauften der belgische Fabrikantensohn Henri Oedenkoven und die österreichische Pianistin Ida Hofmann gemeinsam mit dem Künstler Gustav Arthur Gräser und der Lehrerin Lotte Hattemer den Hügel Monte Monescia oberhalb des Dorfes. Sie benannten diesen in Monte Verità um und gründeten eine «vegetabile Cooperative». Es war eine Siedlungsgemeinschaft auf zunächst veganer und später vegetarischer Grundlage. Hinter dem neuen Namen stand nicht der Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein. Vielmehr sollte dies das Bemühen, wahrhaftig zu leben, zum Ausdruck bringen. Um das Siedlungsprojekt zu finanzieren und gleichzeitig einer grösseren Öffentlichkeit bekannt zu machen, wurde die Naturheilstätte Sonnen-Kuranstalt gegründet, dem wenig später das Sanatorium Monte Verità folgte.
Der Ort entwickelte sich rasch zu einer exklusiven Heilstätte für die damals weit verbreiteten Zivilisationskrankheiten in den wohlhabenden Schichten. Therapie war (nackt) Sonnenbaden, vegetarisches Essen und Bewegung im Freien, darunter auch Tanz unter Anleitung. Prominente Besucher in der Anfangszeit waren der deutsche Wanderprediger Gustaf Nagel, der Schriftsteller und spätere Anführer der Münchner Räterepublik Erich Mühsam mit seinem Lebenspartner Johannes Nohl. Auch der deutsche Kronprinz Wilhelm von Preussen (der Sohn von Kaiser Wilhelm II.) und der König von Belgien Leopold II. sind under der Liste der Gäste zu finden.
Durch Freunde des Künstlers und Miteigentümers Gustav Arthur Gräser wurde der Monte Verità auch zu einer Künstlerkolonie. Beispielsweise Rudolf Laban, heute sieht man ihn als Vater des Ausdruckstanzes, war hier von 19013–1917 pädagogisch und künstlerisch tätig. Auch die deutschen Ausdruckstänzerin Mary Wigmann wirkte hier, ebenso Charlotte Bara.
Zum Umkreis des Monte Verità gehörten auch Schriftsteller wie Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann, Max Weber, Ernst Bloch und viele weitere Grössen der europäischen Kulturszene. Der grosse Schweizer Psychiater und Psychologe Carl Gustav Jung führte hier regelmässig Seminare durch. Hergeführt wurden sie durch ideelle Interessen: Lebensreform, Spiritualität, Pazifismus, Ablehnung der damaligen staatlichen, gesellschaftlichen, sozialen und religiösen Gegebenheiten. Die Verwirklichung von Freiheit in jeder Fasson und die Suche nach Wahrheit war das Motiv – kultureller und gesellschaftlicher Wandel das Ziel.
In den 20er Jahren erwarb der deutsche Baron Eduard von Heydt das Anwesen. Als Kurhaus und Hotel lies er das heute noch bestehende Hotel und Kongresshaus errichten. Der ursprüngliche Auftrag für das Gebäude im vom Bauhaus geprägten rationalen, funktionalen Stil, geht an Mies van der Rohe, ausgeführt wird er durch Emil Fahrenkamp. Auch verschiedenste Villen und Wohnhäuser entstanden.
In den Nachkriegsjahren ging die Strahlkraft des Berges verloren. Der Baron von Heydt vermachte das Anwesen testamentarisch dem Kanton Tessin, in dessen Besitz der Monte Verità seit 1964 ist.
Die Schweizer Sonnenstube als Zufluchtsort
Die republikanische, rechtsstaatliche Schweiz wurde ab 1830 zu einem Zufluchtsort für meist wohlhabende politische Flüchtlinge. Viele nahmen Wohnsitz im Tessin im Umkreis von Lugano und Locarno. So auch der russische Revolutionär Bakunin, der im November 1869 ins Tessin gezogen war. Er lebte zunächst in Locarno und kaufte sich später eine Villa in Minusio, die zum Zufluchtsort für im Ausland steckbrieflich gesuchte Revolutionäre wurde.
Als grosse Gastgeberin vieler bekannter Künstler betätigte sich die russische Baronin Antoinette de Saint Léger. Ort der grossen Feste waren die seit 1885 in ihrem Besitz befindlichen Brissago-Inseln. Um 1889 entwickelte der Tessiner Politiker und Theosoph Alfredo Pioda gemeinsam mit Franz Hartmann und der Countess Constance Wachtmeister den Plan, auf dem Monte Monescia ein theosophisches Kloster mit Namen «Fraternität» zu errichten. In dieser Tradition entstand der Monte Verità.
Zu den Heimatlosen gehörten auch das Freundespaar Elisàr von Kupffer, 1872–1942, und Eduard von Mayer, 1873–1960, zwei Abkömmlinge des deutsch-baltischen Adels. Von Kupffer stammte aus dem heutigen Estland und von Mayer aus der heutigen Ukraine. Die beiden Müssiggänger betätigten sich künstlerisch, literarisch und philosophisch. Sie nahmen ebenfalls im Tessin Wohnsitz, zuerst in Muralto, ab 1927 in einer von ihnen erbauten Villa in Minusio (beide Orte liegen bei Locarno). Sie blieben wohl stets auf kritische Distanz zum Treiben auf dem Monte Verità. Dennoch gleicht Ihr Suchen nach neuer Wahrheit im historischen Rückblick den Ideen und Vorstellungen der Monte Veritàner.
Eduard von Mayer, Porträt als Lebensreformer in der Zeitschrift Zum Edelmenschen
Erweckung aus dem Dornröschenschlaf
Harald Szeemann, der geniale Schweizer Kurator und Ausstellungsmacher, rettete den Monte Verità 1978 vor dem Verschwinden im Bewusstsein der nachfolgenden Generationen. Die Ausstellung Le Mammelle della verità (Die Brüste der Wahrheit), auf dem Monte Verità, im Museo comunale, im Teatro San Materno, im der Turnhalle des Collegio Pappio und auf den Brisago-Inseln zeigten die bedeutenden historischen Entwicklungen, welche hier ihren Anfang nahmen. Sie fand nach verschiedenen Stationen (u.a. Kunsthaus Zürich) ihren Platz in der Casa Anatta. Die erhalten gebliebenen historischen Gebäude wurden in den letzten Jahren renoviert, damit der Berg der Wahrhaftigkeit neuen Glanz als historisches Zeugnis und modernes Kongresszentrum erhält.
Mit zum Umkreis des Monte Verità zählte für Szeemann auch das Werk von Elisarion. Nachdem man in den 70er-Jahren sehr locker solche Zusammenhänge konstruiert hat, ist dies in der Kunstgeschichte heutzutage nicht mehr usus.
Harald Szeemann erläutert das Rundbild Klarwelt der Seligen
Schon in der Monte Verità-Ausstellung von 1978 zeigte Szeemann Fotos und ein Modell des Elisarions im originalen Zustand. Nachdem er das Rundbild Klarwelt der Seligen in letzter Minute aus dem im Umbau befindlichen Sanctuarium Artis Elisarion hatte retten können, suchte Szeemann eine Möglichkeit, dieses auf dem Monte Verità dem Publikum wieder zugänglich zu machen. Mit privaten Spenden gelang es ihm, einen Pavillon zu errichten, in dem das Rundbild seit 1986 hängt.
Im unklimatisierten Pavillon (drastisch ausgedrückt: behelfsmässige Baracke) haben die klimatischen Bedingugen vor Ort (grosse Temparaturunterschiede täglich und saisonal, sowie grosse Schwankungen der Luftfeuchtigkeit) den allmählichen Zerfall des Rundbildes beschleunigt.
Dank der Initative des Vereins Pro Elisarion, Zuwendungen von Privaten, der Gemeinde Minusio, des Kantons Tessin und mehreren gemeinnützigen und staatlichen Stiftungen wurde der Pavillon in den Jahren 2020–2022 im Innern aufgemauert, mit einem stabilen Dach versehen und erhielt eine zeitgemässe Klimanlage. Das Rundbild wurde darauf nach neuesten Erkenntnissen restauriert und die ursprüngliche Präsentation mit einem Baldachin in der Mitte wieder hergestellt.
Das (homoerotische) Paradies von Elisàr von Kupffer ist heute in einer weitghend mit dem Orginalzustand vergleichbaren Weise dem Publikum wieder zugänglich und erlebbar.
Weitere Infos zum Monte Verità
Monte Verità, Du 10/1987, Bericht zur Ausstellung von Harald Szeemann
Monte Verità auf fileane.com mit alten Fotos
Publikationen zum Monte Verità
Ascona und der Monte Verità, Die Schönheit 11/129, zwei Berichte in der deutschen Zeitung für Freikörperkultur