Kurt Tucholsky und das «Polysandrion»
Der Roman Schloss Gripsholm von Kurt Tucholsky ist ein fantastisch heiteres, in Ansätzen utopisches Buch über Liebe, Glück und Ferien vom Alltag. Geschrieben zu einer Zeit, als der Autor unter den Verschleisserscheinungen seines unermüdlichen politischen Journalismus zu leiden begann. Die Offenheit, Weltklugheit und Grossherzigkeit der Hauptfiguren wirken wie ein Gegenentwurf zum kleinkarierten und reaktionären deutschen Wesen, das Tucholsky immer wieder beklagte.
Am Anfang des Buches steht die Bitte des Verlegers Rowohlt, der Autor möge ihm eine leichte Liebesgeschichte schreiben. Gleich darauf begibt sich der Ich-Erzähler mit seiner «Prinzessin» Lydia in die Ferien nach Schweden. Auf der Fahrt dorthin machen sie Station in Kopenhagen:
… Wir sahen uns alles an: den Tivolipark und das schöne Rathaus und das Thorwaldsen-Museum, in dem alles so aussieht, wie wenn es aus Gips wäre. «Lydia!» rief ich, «Lydia! Beinah hätt ich es vergessen! Wir müssen uns das Polysandrion ansehn!» – «Das … was?» – «Das Polysandrion! Das musst du sehn. Komm mit.» Es war ein langer Spaziergang, denn dieses kleine Museum lag weit draussen vor der Stadt.
«Was ist das?» fragte die Prinzessin.
«Du wirst ja sehn», sagte ich. «Da haben sich zwei Balten ein Haus gebaut. Und der eine, Polysander von Kuckers zu Tiesenhausen, ein baltischer Baron, vermeint, malen zu können. Das kann er aber nicht.» – «Und deshalb gehn wir soweit?» – «Nein, deshalb nicht. Er kann also nicht malen, malt aber doch – und zwar malt er immerzu dasselbe, seine Jugendträume: Jünglinge … und vor allem Schmetterlinge.» – «Ja, darf er denn das?» fragte die Prinzessin. «Frag ihn … er wird da sein. Wenn er sich nicht zeigt, dann erklärt uns sein Freund die ganze Historie. Denn erklärt muss sie werden. Es ist wundervoll.» – «Ist es denn wenigstens unanständig?» – «Führte ich dich dann hin, mein schwarzes Glück?»
Da stand die kleine Villa – sie war nicht schön und passte auch gar nicht in den Norden; man hätte sie viel eher im Süden, in Oberitalien oder dortherum vermutet … Wir traten ein.
Die Prinzessin machte grosse Kulleraugen, und ich sah das Polysandrion zum zweiten Mal.
Hier war ein Traum Wahrheit geworden – Gott behüte uns davor! Der brave Polysander hatte etwa vierzig Quadratkilometer teurer Leinwand voll gemalt, und da standen und ruhten nun die Jünglinge, da schwebten und tanzten sie, und es war immer derselbe, immer derselbe. Blassrosa, blau und gelb; vorn waren die Jünglinge, und hinten war die Perspektive.
«Die Schmetterlinge!» rief Lydia und fasste meine Hand. «Ich flehe dich an», sagte ich, «nicht so laut! Hinter uns kriecht die Aufwärterin herum, und die erzählt nachher alles dem Herrn Maler. Wir wollen ihm doch nicht weh tun.» Wirklich: die Schmetterlinge. Sie gaukelten in der gemalten Luft, sie hatten sich auf die runden Schultern der Jünglinge gesetzt, und während wir bisher geglaubt hatten, Schmetterlinge ruhten am liebsten auf Blüten, so erwies sich das nun als ein Irrtum: diese hier sassen den Jünglingen mit Vorliebe auf dem Popo. Es war sehr lyrisch.
«Nun bitte ich dich …», sagte die Prinzessin. «Still!» sagte ich. «Der Freund!» Es erschien der Freund des Malers, ein ältlicher, sympathisch aussehender Mann; er war bravbürgerlich angezogen, doch schien es, als verachtete er die grauen Kleider unsres grauen Jahrhunderts, und der Anzug vergalt ihm das. Er sah aus wie ein Ephebe a.D. Murmelnd stellte er sich vor und begann zu erklären. Vor einem Jüngling, der stramm mit Schwert und Schmetterling dastand und die Rechte wie zum Gruss an sein Haupt gelegt hatte, sprach der Freund in schönstem baltischem Tonfall, singend und mit allen rollenden Rrrs: «Was Sie hier sehn, ist der völlich verjäistichte Militarrismus!» Ich wendete mich ab – vor Erschütterung. Und wir sahen tanzende Knaben, sie trugen Matrosenanzüge mit Klappkragen, und ihnen zu Häupten hing eine kleine Lampe mit Bommelfransen, solch eine, wie sie in den Korridoren hängen –, ein möbliertes Gefilde der Seligen. Hier war ein Paradies aufgeblüht, von dem so viele Seelenfreunde des Malers ein Eckchen in der Seele trugen; ob es nun die ungerechte Verfolgung war oder was immer: wenn sie schwärmten, dann schwärmten sie in sanftem Himmelblau, sozusagen blausa. Und taten sich sehr viel darauf zu gute. Und an einer Wand hing die Photographie des Künstlers aus seiner italienischen Zeit; er war nur mit Sandalen und einem Hoihotoho-Speer bekleidet. Man trug also Bauch in Capri.
«Da bleibt einem ja die Luft weg!» sagte die Prinzessin, als wir draussen waren. «Die sind doch keineswegs alle so …?» – «Nein, die Gattung darf man das nicht entgelten lassen. Das Haus ist ein stehen gebliebenes Plüschsofa aus den neunziger Jahren; keineswegs sind sie alle so. Der Mann hätte seine Schokoladenbildchen gradesogut mit kleinen Feen und Gnomen bevölkern können … Aber denk dir nur mal ein ganzes Museum mit solch realisierten Wunschträumen – das müsste schön sein!»
«Und dann ist es so … blutärmlich!» sagte die Prinzessin. «Na, jeder sein eigner Unterleib! Und daraufhin wollen wir wohl einen Schnaps trinken!»
Das taten wir. …
Kurt Tucholsky
Es ist schon mehr als 80 Jahre her, dass Kurt Tucholsky seine Sommergeschichte Schloss Gripsholm veröffentlichte. Seine Leser führte er darin in mancher Hinsicht an der Nase herum. Der Briefwechsel mit Verleger Rowohlt? – Glatt erfunden. Übernachtung im Schloss? – Dichterische Freiheit. Und seine Prinzessin, die Sekretärin Lydia? Die gebe es «nun aber gar nicht», schrieb Tucholsky einst an einen Leser und schob seufzend hinterher: «Ja, es ist sehr schade.»
Eine Episode jedoch, die der reinen Fantasie des Autors entsprungen zu sein schien, ist aber viel realer als jahrzehntelang geglaubt. Es ist der Besuch im Sanctuarium Artis Elisarion, bei Tucholsky dem Polisandrion. Es ist schwer zu sagen, wie viele der Gripsholm-Leser sich in Kopenhagen schon auf die Spur des Polysandrions begeben haben. Fündig geworden ist dort wohl niemand. Selbst im Kommentar der Gesamtausgabe, Band 14, heisst es nur lapidar: «Dazu nichts ermittelt.» Dabei hat Tucholsky selbst schon einige Andeutungen gemacht, was es mit Haus auf sich hat und wo das merkwürdige Gebäude zu finden sein sollte:
Oberitalien ist schon ganz gut. Aber dortherum passt noch besser. Denn das reale Vorbild der Lydia, Tucholskys Geliebte Lisa Matthias, besass ein Ferienhaus im Tessin. Mehrere Male hielten sich die beiden in Lugano auf. Zudem verbrachte Tucholsky im Sommer 1930 einige Wochen in Locarno und Brissago. Genug Gelegenheit, das wirkliche Sanctuarium Artis Elisarion im Minusio bei Locarno kennenzulernen.
Tucholsky hat es nach mündlicher Überlieferung mindestens zweimal besucht, bevor er es in seiner Sommergeschichte «würdigte». Die Erbauer waren tatsächlich zwei Balten, Elisàr von Kupffer (1872–1942), von dem die Bilder stammten, und Eduard von Mayer (1873–1960). Wer Leben und Werk von Elisarion kennt, der weiss wer mit «Polysander von Kuckers zu Tiesenhausen» gemeint ist, auch dessen Lebenspartner Eduard von Mayer, sowie die «Aufwärterin», die langjährige Haushälterin Rita Fenacci, sind treffend geschildert.
Eduard von Mayer vermachte das Haus mit einem komplizierten Testament der Öffentlichkeit und gestand der Haushälterin ein Wohnrecht zu. Nach 1970 stand das Haus leer, bis es – inzwischen im Eigentum der Gemeinde Minusio – in den späten Siebzigerjahren radikal ausgeräumt und umgebaut wurde und daraus das Centro Culturale – Museo Elisarion entstand. Harald Szeemann kannte und liebte das Haus, und es gelang ihm, wenigstens das Rundbild Klarwelt der Seligen zu retten und die Gemeinde von der Bedeutung dieser Hinterlassenschaft zu überzeugen. Dank dieser Initiative blieb das Rundbild erhalten, allerdings fristet es ein trauriges, verfallendes Dasein in einem dunklen Pavillon auf dem Monte Verità.