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Lebensgesetze der Kultur – Anmerkungen

Am Schluss des Buches gibt es einen umfangreichen Anhang, der viele Begriffe und Hinweise erklärt. Die wesentlichen Punkte sind hier aufgeführt. Für die weiteren Hinweise im Text siehe das Original als PDF.

 Ethik der Schönheit

Eine Zeit, wie die unsre, die aus dem bösen Gewissen der inneren Zersplitterung eine Abneigung gegen alles Ebenmass hat, will es nicht wahr haben, dass alle Form der Ausdruck einer überlegnen Macht ist, die geringere Kräfte bändigt und gestaltet. Und doch ist dem so; und doch ist der einzige erkennbare Weltzweck solche individuelle Formgebung, solche Herrschaft des Mächtigeren über die Mindermächtigen in der ganzen Weite des sich immer endloser dehnenden Raumes (vgl. S. 20 ff.): dies ist der kosmische Gedanke. Er ist uner­schöpf­lich, unendlich und ewig, weil immerzu neue Mächte entstehen, gezeugt von dem all-einen Urtatendrange (vgl. S. 20; Anm. 4 u. 5), und so erneut sich stets der Urzweck – die Gestaltung. Die vollendete Form, die Schönheit, ist nur der jeweils erfüllte Weltzweck, dessen Anblick mit triebhafter, ja selbst erotisch anziehender Gewalt (vgl. Platons Phaidros) in dem empfänglichen, reifen Sinne die Ahnung greifbarer, leibhafter Ewigkeit weckt und das Wesen des Beschauers fast mehr erfüllt, als es zu fassen vermag; aus dieser Unzu­läng­lich­keit quillt der Tropfen Leides, die Wehmut des Schönen, die doch die unendliche Lust an der gegenwärtigen Erfüllung der Welt nicht unterdrücken kann. In der Tat:

Die Schönheit weckt mit stummen Schmerzen
Mir heilige Flammen in der Brust,
Die leuchten gleich viel tausend Kerzen,
Derweil in meinem Herzen
Ertönt das hohe Lied der Lust.

Elisar von Kupffer, Heilige Flammen, Auferstehung

Und durch diese Ahnung der Ewigkeit wird die Schönheit zu deren Wegweiser; kosmisch, die sie ist, wird sie ethisch, wird sie die wahrhaft erzieherische und heiligende Macht im Leben des Einzelnen wie ganzer Zeiten. Die wahre, sinnenfrohe Liebe zur Schönheit kann auch den noch Tastenden dazu führen, seines teils, in seinem Leben dem ewig neuen Weltzweck vollendeter Gestaltung zu dienen; sie lehrt aus den zerstörenden Mächten der Gestalt­lo­sig­keit, deren Walten das Leid ist, mit dem Opfermut der Beharrung zu neuer Gestaltung lust­voll aufsteigen – ganz abgesehen da von, dass die Schönheit als Unterpfand und Vor­ge­schmack des ewigen Lebens der Trost des zeitlichen ist. Wohl dem, welchem der «ver­schö­nen­de» Blick gegeben ist, der den zerstiebenden Augenblick durch die Kraft seiner Em­pfin­dung aus dem Chaos als «Bild» herauszuheben vermag und Geschlossenheit, Not­wen­dig­keit, Schönheit – träumt, wo noch keine ist, aber vielleicht entstehen kann. Und so weckt der ureingeborene Sinn zur Schönheit die gestaltende Kraft, ja alles Schaffen an irgendwelchem Gebiet stammt aus der Schönheit, die werden will; auch die Liebe wird zu solch einem gegenseitigen formgebenden und entfaltenden Schaffen, ja selbst das Mitleid, diese ver­fei­nert­ste aller Qualen, wird werktätig nur durch den Wunsch, Schönheit und Freude in das Leben des «Nächsten» zu tragen. Und daher ist die Ethik der Schönheit die allerhöchste Lebensführung.

4Dynamik …

δύναμικ bedeutet im Griechischen an sich nur die Macht, nur das Vermögen, etwas zu tun, die blosse Tatbereitschaft des Könnens. Da ich aber im Tatendrange das Wesen der Welt sehe, so umfasst «Dynamik» für mich nicht nur diese drängende Tatbereitschaft, diese noch nur latente, innere Bewegung, sondern auch ihre in die Aussenwelt tretende Verwirklichung, die sinnfällige Bewegung: «dynamisch» nenne ich daher alles, was auf äusserer oder innerer Bewegung beruht.

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5Tat …

«Tat» hat einen zweifachen Sinn: es bedeutet den Vorgang des Tuns («hör’ wie zu Taten – sie mächtig raten») und das Ergebnis dieses Vorganges, die Tat in ihrer Vollendung; diese ist praktisch das Wichtigere und ihre Bedeutung hat sich vorgedrängt. Nun besteht aber für mich in diesem Vorgange des Tuns (dem «actus») der Kern aller Erscheinungen. Tat ist missverständlich geworden: es ginge sprachlich vielleicht an von einem Verbum «taten» («…  sie raten und taten …») nach Erscheinung, Vorstellung ein neues Wort zu bilden, um einen sich individualisierenden Vorgang des Tuns auszudrücken, etwa «Tatung»: aber vorläufig wäre das auch unverständlich. Auch die Bildung «Urtat» ist beanstandet worden, obschon «Ur», das von innen Heraustretende (Urteil, Ursache, Ursprung), über die Bedeutung des zeitlich Entfernten (Urwahl, Urgestein, Urmensch) und einen superlativischen Wert (Urwald, Urenkel, urkräftig) zur wahrhaft philosophischen Partikel des Zugrundeliegens geworden ist (Urquell, Urwort, Urstoff). So nenne ich denn die dynamischen Weltatome, in deren Entstehung und Tätigkeit den Drang der all-einen «Tat» sich ver­wirk­li­chen sehe, Tatmächte und rede je nachdem auch kurzweg von der Innenmacht, der Obermacht, der Grundmacht.

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10Die Abfassung der Bibel …

Es bedarf wahrlich nicht erst spitzfìndiger und anfechtbarer Keilschriftforschungen, um die Wortautorität der Bibel zu bekämpfen; sie selbst, in ihrem volkstümlichsten Texte, übt Kritik an sich. Was Jeremias VII, 22: sagt, beweist, dass der ganze damals angeblich schon 800-jährige levitische Gottesdienst eine spätere Entwicklung ist, und entlarvt die sogen. Sinaitische Gesetzgebung samt der «heilsplanmässigen» Geschichte Israels als Fälschung. Darum konnten die Nichtpriester Gideon, wie Simsons Eltern gottgenehme Opfer dar­brin­gen und Samuel vom Stamme Ephraim wie Davids Söhne, Benjaminiten, Priester sein; und die «Sünde Jerobeams» die selbstständige Opferstätte zu Dan, ist eine Sünde bloss im Geiste der jerusalemitischen Zentralisten des Reiches Juda, wie der Höhenkult ein Greuel bloss in den Augen derer vom Berge Zion. Auch die seinsollende Chronologie, die Moses etwa achtzig Jahre nach seines Vaters Tode von einer zweihundertundfünfzig Jahre alten Mutter geboren, werden lässt, beweist, dass viel spätere Entwicklung – eben die der babylonischen Gefangenschaft – die alten Epen der Moses-, Josef-, Jakob-, Abraham- und vielleicht Noa­hsagen zusammengeschweisst hat; aber nicht geschickt genug.

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20Sünde …

Vom Standpunkte einer dualistischen Theologie aus ist der Begriff der Sünde verständlich: das ist eben die «Gottentfremdung» durch Unterwürfìgkeit gegen das «böse» Prinzip (vgl. Anm. 74). Aber in einer all-einen Natur, wie die moderne voraussetzungslose Wissenschaft sie annimmt, kann es keinen wirklichen Gegensatz geben; gar eine Erscheinung «wider» die Natur, wie die Lieblingminne eine sein soll (vgl. Anm. 25), ist der bare Unsinn. Selbst wenn wir die Zwecke der Natur kennten und dann manches als wirklich zweckwidrig beurteilen könnten, müssten wir der allmächtigen Natur, dieser letzten Gottheit der sogenannten Freidenker, doch genügend Macht zutrauen, eine jede ihr zuwiderlaufende Erscheinung im Keime zu ersticken; und tut sie das nicht, nun so duldet sie um uns noch verborgner Zwecke willen, was sie selbst ins Leben gerufen hat. Was also lebt, hat recht, sofern es nicht in fremdes Leben vergewaltigend eingreift (vgl. Seite 257). In Wahrheit wissen wir von etwaigen Zwecken in der Natur eigentlich nichts; auch die Arterhaltung ist ein kleinmenschliches Hirngespinst, wie alle ausgestorbnen Arten beweisen. Auf Tätigkeit geht die Natur allerdings aus und da erfüllt sie sich in jeder Erscheinung; fest begrenzte Zwecke aber hat nur das Einzelgebilde, das darum auch nur an sich selbst gemessen werden kann.

Anmerkung zu Seite 95 PDF

23Die Doppelgeschlechtigkeit …

Dieses hergebrachte Wort hat einen Sinn nur insofern, als es die beiden Tendenzen der dynamischen und der stofflichen Fortpflanzung bezeichnet, der Mannesschaft und der Mutterschaft. In Wirklichkeit steht jedes höhere Lebewesen zwischen diesen beiden Polen, deren Äquator der Hermaphroditismus ist; eben deswegen ist auch die Auffassung von einem dritten, urnischen Geschlecht, wie Dr. Hirschfeld sie in den «Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen» vertritt, nur ein vorbereitender Übergang von der plumpen älteren Kurzsichtigkeit zur unbefangenen Einsicht der Zukunft.

Anmerkung zu Seite 114 PDF

25Lieblingminne …

Ich übernehme dieses von Elisàr von Kupffer geschaffene Wort, weil es den physiologischen und ethischen Sinn des παἴδας ὲϱᾶν allein richtig und erschöpfend wiedergibt, während «Knabenliebe» einseitig ist, von den herkömmlichen beschmutzenden Ausdrücken garnicht zu reden. (Vgl. dazu auch «Lieblingminne … usw.», Anmerkung 1, wozu zu ergänzen wäre, dass in Berlin zwar die Bekleidungsgeschäfte den «Jüngling» vom zwölften (!) Jahre ab zählen, in Italien aber noch ein Sechzehnjähriger «bambino» heisst.) Gerade weil diese Erscheinung, wie kaum eine andere, keinen Platz in unsrer Gesittung hat, diese Gesittung selbst aber krankt, gerade daher ist schon ein Nachsinnen über diese Lebensmöglichkeit ein Schritt zur Kulturbesserung. Oft ist schon ein Stein, den die zünftigen Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden. Und da hierin bis vor kurzem nur der Index der blinden Gehässigkeit gesprochen hat, war es meine Pflicht, dort, wo der Zusammenhang es gebot, die billigere und richtige Einsicht zu Worte kommen zu lassen, des Spruches eingedenk:

Wer die Wahrheit kennt und sagt sie nicht,
Der ist, fürwahr, ein erbärmlicher Wicht.

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27Die Frauen, die freien Berufen folgen …

Gewiss ist der erste Grund der weiblichen Ehelosigkeit die Überzahl der Weiber bei grund­sätz­licher Monogamie; demnächst die wirtschaftliche Schwierigkeit der heutigen Familien­grün­dung. Die Erwerbsmöglichkeit der Frau steigert demnach ihre Heiratsfähigkeit; aber unter den zu ergreifenden Erwerbsarten wählt die sogenannten freien, ehemals nur männlichen Berufe vorwiegend dasjenige Weib, welches überhaupt in erster Linie nicht an Heirat denkt, weil ihr Wesen dem männlichen Prinzip nicht gar so fern steht, weil sie auch eine der «geschlechtlichen Zwischenstufen» ist. Und diese Frauen bleiben in dem Masse unverehelicht, als ihre Arbeit glückt, als der «freie» Beruf ihnen entspricht, d.h. sie ihm entsprechen.

Anmerkung zu Setie 120 PDF

31Männerbewegung …

Die zu neuem Bewusstsein ihres sittlichen Wertes erwachende Lieblingminne ist auch ein Anzeichen dieser beginnenden Emanzipation des Mannes von unserer Kultur des jour­na­lis­tischen Modeberichtes. Die herrschende Ansicht, Mann und Weib stellten ergänzungs­be­dürf­tige und sich einzig gegenseitig ergänzende Halbmenschen dar, muss einen jeden nach dieser Ergänzung streben lassen, muss jedem Menschen jeden Vertreter des anderen Geschlechts als sein höchstes Ziel erscheinen lassen und den ganzen Sinn hypnotisch bloss auf die geschlechtliche Ergänzung richten, da sie ja erst das Wesen des einzelnen zum Vollmenschentum erhebe: daher auch die übermässige Geschlechtlichkeit und Galante­rie­sucht unserer Gesittung. Nun gilt allerdings, dass der Mensch sich ebenmässig nur am Mitmenschen, nur im Mitleben zu entfalten vermag. Aber mit dem alten Irrtum der schroffen Doppelgeschlechtigkeit (vgl. Anm. 23 und 30) muss auch der Wahn weichen, als brächte dem Menschen nur das polizeilich protokollierte «andere» Geschlecht diese entfaltende Ergänzung. Die Lieblingminne ist das lauteste und lauterste Zeugnis dafür, welche sittliche Macht der Menschheitserziehung der innige Umgang von Personen gleichen Geschlechts zu sein vermag, von der nur geistigen Freundschaft bis zum Liebesbunde. Damit gibt sie jedes Geschlecht, besonders den Mann, sich selbst wieder, der seine Ergänzung frei suchen könnte, wohin ihn seine Empfindung treibt, statt sie einzig durch feministischen Götzen­dienst erbetteln zu müssen. Dadurch konnten beide, Mann und Weib, nur an Selbstachtung gewinnen, weil dann nicht mehr zwingende Notdurft, sondern freie, bewusste Wahl sie zusammenführte.

Anmerkung zu Seite 128 PDF

33Liebesverkehr mit Fremden …

Durch das Gastrecht vermittelt kommen Ausnahmen vor, aber selbst da schimmert die Urauffassung durch, wie in der Sitte der Nairs (Reclus a.a.0.), welche zwar zum ersten Gatten dem heiratsfähigen Mädchen gerne einen Fremden wählen, ihn aber nach einer kurzen Flitterwoche unerbittlich wegweisen, da die Frau dann nur noch den Stammesgenossen gemeinsam angehört.

Anmerkung zu Seite 131 PDF

47Zweischneidiges Schwert …

Es empfiehlt sich vielleicht Schamsinn und Schamsucht zu trennen, um Gewinn und Verlust zu unterscheiden, die das Schamgefühl der Kulturmenschheit gebracht hat. Scham im allgemeinen ist das Gefühl der Entwertung: im Gemeinleben hat diese Furcht vor Entwer­tung zur Regelung des Trieblebens geführt. Diese Regelung drängt in unserer scheinheiligen Gesittung zur Schamsucht, die soweit als möglich alles verpönt, was dem Sinnenleben angehört, oft hysterisch echt, meist ein heuchlerischer Deckmantel. Aber diese Regelung kann sich auch beim Schamsinn beschränken, der durch Entwicklung des Persönlichkeits­ge­fühls die sinnlich lebendigen Kräfte mässigt, verinnerlicht und vertieft und dann das endlich siegende Lustgefühl doppelt erhöht.

Anmerkung zu Seite 167 PDF

60Leider wie ein Märchen …

Es würde sonst bei der die weitesten Kreise bewegenden Frage, wie das Geschlechtsleben der Jugend zu regeln, nicht so völlig übersehen werden können, dass das Problem der Prostitution, der gesundheits- und gemütschädigenden, durch die Lieblingminne (vgl. Anm. 25) teilweise zu lösen ist. Der Kernpunkt der Prostitution ist ja doch, dass zur Verhütung der unehelichen Geburten eine Anzahl Frauen dem Geschlechtsbedürfnisse der jugendkräftigen Männer wahllos zugänglich gemacht wird, ein schlechter Überrest der alten Gemeinehe; das Gewerbsmässige erzeugt dann die Gemeinheit und Schädlichkeit. Die folgenlose Liebling­minne, wo sie offen und sittlich gilt, kann dieses Geschlechtsbedürfnis anerkennen und befriedigen, aber mässigt und läutert es durch gemütliche Bande, ja ist eine hervorragend erzieherische Macht für beide Teile. So kann der junge Mensch gesund und unverdorben erhalten bleiben, bis seine wirtschaftliche Selbständigkeit die Ehe gestattet. Natürlich eignet sich dieser dreistufìge Verlauf (Liebling, Liebhaber, Ehegatte) nur für Naturen, die ge­schlecht­lich nicht ausgesprochen einseitig empfinden.

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62Unberührtheit der Jungfrau …

Eine gewisse geistige Strömung will Jungfräulichkeit und Keuschheit als gleichbedeutend hinstellen. Aber keusch ist die Ehefrau oder die Mutter, obschon sie nicht mehr jungfräulich ist. Die Jungfrau ist an sich nur das unverehelichte Weib, später das Weib, das noch nicht geboren hat, endlich das Weib, das noch keinen Umgang mit Männern gehabt hat; die Jungfräulichkeit ist denn auch nur ein Wert, wo es sich um die strengste Blutreinheit der Nachkommen handelt, also im herrenrechtlichen Staat, und mit dessen Niedergang mindert sich auch die Verpönung der Unehelichkeit, obschon noch lange der aussereheliche Liebesumgang für das Weib ein Makel bleibt, weil die Möglichkeit vorgeborner Kinder die Verehelichung wirtschaftlich erschwert. Keuschheit hingegen ist ein bleibender Wert des höheren Menschenlebens; sie ist aber, recht begriffen, nur «geschlechtliche Lauterkeit», die Durchdringung des sinnlichen Verlangens von der Selbstachtung der Persönlichkeit. Keusch ist derjenige Liebesumgang, welcher den ganzen Menschen erfüllt und keine Nebenzwecke verfolgt, unzüchtig ist die einseitige, gar die geschäftsmässige Geschlechtlichkeit. Die Jungfräulichkeit ist daher eine Pflicht nur der wirtschaftlich abhängigen Mädchen, die jungen Männer genügen der Pflicht der Keuschheit, auch wenn sie vor der wirtschaftlich möglichen Eheschliessung Liebesumgang pflegen, sofern eben ihr Herz und Geist mitredet.

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64Die anziehende Macht …

Dreierlei wird fälschlich immer zusammengeworfen, die Arterhaltung, die Geschlechtsunter­schie­de und die Liebe: diese soll der Ausgleich der Geschlechter im Dienste der Fort­pflan­zung sein. Aber die Arterhaltung ist längst kein so gewaltiger Naturzweck, wie die Liebe eine Naturmacht ist, und überdies im Prinzip nicht von der scheinbaren Doppelgeschlechtigkeit abhängig (vgl. Anm. 20, 23, 30). Die Liebe ist endlich auch nicht nur Geschlechtsausgleich, sonst hätte es nie eine Lieblingminne gegeben; was der Liebe ihre Macht gibt, ist die (mei­net­halb unerklärliche) Anziehungskraft von Mensch zu Mensch, diese gegenseitige Er­weck­ung lebendiger Kräfte, die eine wahre physikalische Spannung ergeben; und dies alles findet doch immerhin sein Vor-Beispiel in der elektrischen Spannungsreihe der Metalle, Platin bis Kohle, wo jedes einzelne Glied stromgebend oder stromempfangend zu sein vermag, je nachdem sein Partner ihn in dieser Reihe nachfolgt oder voraufgeht. So vermag auch der Mensch je nach dem betreffenden Mitmenschen Liebe gebend oder Liebe empfangend (oder auch gar nichts) zu empfinden, wie die Fülle der geschichtlichen Per­sön­lich­keiten beweist, die schlecht begriffen wurden, wenn man sie in das Prokrustesbett der doppel­ge­schlech­tigen Fortpflanzungsliebe zwängt, aber auch in der langen Reihe geschlechtlicher Zwischenstufen noch nicht zu ihrem Rechte kommen, sondern einzig wenn die lebendige Dynamik alles Seienden erkannt worden ist.

Anmerkung zu Seite 229 PDF

65In der Zerstückelung massloser …

Ein Trieb wird zur Leidenschaft, wenn man ihm leidenschaffende Opfer zu bringen imstande ist; aber Laster wird die Betätigung eines Triebes erst durch Masslosigkeit, erst wenn diese Befriedigung einer einzelnen Neigung dem ganzen Menschen zum körperlichen oder geis­tigen Verderben wird und so sein individuelles Mass überschreitend, das an der Gemein­schaft seiner persönlichen Anlagen gegeben ist, ihm selbst zur Last wird, wie man daher auch vom «süssen Laster» der Gewohnheit spricht. Aber man darf auch dann noch nicht Triebe, die durch eine organische Funktion des Körpers bedingt sind, mit immerhin künst­liche­ren Vergnügungen auf eine Stufe stellen. Es gibt kein gesundes Lebewesen, das nie ein geschlechtliches Verlangen gehabt hätte; ohne Tabak, Alkohol und Hazard ver­moch­ten sehr viete zu bestehen. Daher ist es ein Laster, wenn jemand selbst eingesteht, das Rauchen oder Trinken schädige ihn, und doch raucht oder trinkt; aber es ist kein Laster, wenn jemand ohne jede Schädigung seinem geschlechtlichen Empfinden folgt. Hinwiederum ist das ebenso Laster, wenn einer in geistiger Arbeit nicht Mass halten kann, wenn jemand trotz genügenden Wohlstandes immer weiter nach Erwerb jagt: denn beide schädigen durch eigene Erschöpfung die zukünftige Generation. Unsere Nervosität verdanken wir nächst dem Alkohol, den venerischen Krankheiten und der Schwindsucht sicherlich dieser geistigen und erwerblichen Hetze des verflossenen Jahrhunderts.

Anmerkung zu Seite 230 PDF

74Der wahre Kern …

Wenn Sünde Gottentfremdung ist (vgl. Anm. 20), so ist sündlich nur was den Menschen weiter von Gott entfernt. Worin nun diese entfremdende Entfernung besteht, hängt ganz von der grund­legenden Gottesempfindung ab; eine negative Gottesauffassung wie die mono­theis­tische strebt der Gegenmenschlichkeit zu (vgl. Seite 301); eine positive, der das Tätig – Schöp­fe­risch – Kosmische im Vordergrunde steht, wird den göttlichen Funken im Menschen in der ebenmässigen Persönlichkeit sehn, wird widergöttlich alles die Persönlichkeit Herab­min­dernde nennen und fromm, alles was mit ihrer Entfaltung im Einklang steht.

Anmekrung zu Seite 289 PDF

84Stückwahrheit …

Doch bleibt es ein Unterschied, ob jemand nach Erfassung der Tatsachen sich eine subjektiv- persönliche Ansicht bildet, oder ob man von vorne herein in subjektiver Infallibilität die sachliche Erkenntnis ablehnt. Dieses ist nur ein Denkmal kleinmenschlicher Beschränktheit; jenes wird, wenn die Gesamtpersönlichkeit sich mit der Gesamtheit der Tatsachen aus­ei­nan­dersetzt, zu einer neuen Tatsache, zur Offenbarung einer Weltanschauung.

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