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Die Zukunft der Natur, Teil 1

Das monistische Weltbild: Die Welt als Laune

Der Urwaldglaube

Ist der Hunger der Wecker des Sonderbewusstseins — musste da nicht bereits das unterste Lebewesen ein solches besitzen?

Gewiss! – falls es zum «Hunger» gelangt, zum Hunger­em­pfin­den.

Zwar ist durchaus nicht bewusster Nahrungsanspruch der Inhalt des Sonderbewusstseins, sondern eben ein Trennungs­ge­fühl, das Gefühl der Sonderung, Selbstverlassenheit; den­noch genügt der blosse Stoffwechsel nicht dazu, es zu wecken, es muss ein solcher Mangelgrad eintreten, dass sich Wider­stand regt. Solche Widerstands-«Schwelle» bezeichnet den An­fang des Hungers, der dann erst zum Sonder­be­wusst­sein führt und schliesslich den tätigen Nahrungswillen hervorruft. Nur die Lebewesen also, bei denen der Stoffwechsel nach und nach den entsprechenden Grad des Mangels zeitigt, kommen durch Hunger zu Sonderbewusstsein.

Lebewesen, die mit der Geburt oder bald zu voller Be­we­gung kommen, befolgen von selbst und ohne Mühe in einem fort die geringsten Reize und Antriebe; längst bevor der Stoff­wechsel stören und quälen kann, kreuzen sie mitten umher im Nahrungsgebiete. Ist kaum die Hungergrenze erreicht, so ist die Stillung auch da; es kommt zu keinem Erlebnis. Und glei­ches gilt von den sesshaften Lebewesen, den Pflanzen; eigent­lich sind sie immer von Nahrung umgeben, die ihnen ohne ihr Zutun zuströmt, obschon sie die Wurzeln wohl nach Wasser­suche strecken.

Erst bei den höheren Tieren, den Vögeln und Säugern ereignet sich Hunger. Das Junge ist nicht sofort der Bewegung fähig, der Stoffwechsel trifft ein hilfloses Wesen, er­reicht die Bewusstseinsschwelle und wirkt nun als «Hunger», verwandelt das unbestimmte Daseinsgefühl in bestimmtes Em­pfin­den der Sonderung; kläglich schreiend bezeugen die Klei­nen den Stö­rungs­zustand, die Daseinsspaltung.

So kam es zum Sonderbewusstsein und kommt es immer wieder dazu, indes ein andres Erlebnis, die Todesangst bei plötzlicher Lebensbedrohung, die wohl im Augenblick grell das Sonderbewusstsein emporruft, dennoch allzu flüchtig ist, also nicht die gleiche, stetige Einwirkung hat. Später freilich, im höheren Leben, eint sich der steten die flüchtige Seelen­er­schüt­te­rung, Hunger und Furcht verschmelzen, wachsen ge­spens­tisch empor! und dennoch ist sogar in der «Gottesfurcht» und schliesslich der «Sittenfurcht» immer der Hunger der wahr­haft bestimmende Ton.

Wahrscheinlich beginnt somit das Sondergefühl im Hun­ger­erlebnis des höheren Tieres, und zwar solange es jung ist; doch grade, da es nicht fähig ist, sich die Nahrung selbst zu beschaffen, bewirkt die bereite Elternfürsorge lange den Still­stand des Innenlebens. Erst wenn das junge Wesen, in freier Herrschaft der Glieder sich endlich selbst überlassen, die Nah­rung selber zu suchen hat, wächst das Bewusstsein.

Das Wesen, das sich des Hungers halber bewegen und Kraft gebrauchen muss, lernt sich als freibeweglich, als son­der­ständig empfinden – als tätige Kraft inmitten der Umwelt.

Dieser Zustand vertieft sich im Mass, als es gilt, Wider­stand mühsam zu überwinden: zum Gegenstande wird die Umwelt – und wahres Kennzeichen tierischen Geistestandes bleibt: die Wertung des Daseins als blosser äusserer Kraft.

* * *

Höher aufwärts geht das Bewusstsein, sobald die Zeit bis zur Wachstumsreife der Jungen sich so verlängert, die Eltern­für­sorge derart in Anspruch genommen wird, dass der Eltern eigenes Wollen sich dauernd auf diese Leistung und Aufgabe einstellt.

Das Menschenjunge verlangt eine solche, die Nachbrunst erfüllende, längere Pflege. Es muss ja zweierlei Leistung ler­nen, bevor es sich selber ernähren könnte: die Hände mitsamt den Füssen gebrauchen. Darüber vergeht so reichliche Zeit, dass die Mutter durch neue Geburt in erneute Liebessorge ge­rät, ehe das frühere Kind genügend unabhängig geworden, um ihr die eigne unabhängige Tätigkeit freizugeben, und wär diese eben von neuer Fürsorge ausgefüllt; doch so verdoppelt sich ihre Mühe und wird zur Last.

Da muss die Mutter für ihre dauernde Fürsorge, die sie den Kindern erweist, die dauernde Gegenfürsorge seitens des Mannes finden. Ist dieser nicht auf und davon in Selbstsucht gegangen, so zwingt die gesteigerte Nahrungsnot seine Kraft in veränderte Bahn, seinen Geist zu erweiterter Einsicht, die frei­lich bald zu vermehrter Bewusstseinsenge wird.

Konnte der Mann bisher die Beute sofort verzehren, so heisst es, sie nunmehr hin zu dem Orte schaffen, wo seiner das hungrige Weib, die hungrigen Halberwachsenen harren. Brauch­te er vordem nur so viel Nahrung zu finden, wie grade die Hungerstillung des eignen Leibes erforderte, nun muss er jetzt für Vorräte sorgen, damit die Seinen nicht hungern, der­weil er ferne von ihnen dem Nahrungserwerbe nachgeht. Er muss nun grössere Beute machen oder auf regelmässige Nah­rungs­er­langung sinnen. Der alten Tiergewohnheit der kurzen Augenblicksleistung entsagend, muss er mit jeder nahe­lie­gen­den Hand­lung die fernere Aufgabe fördern. Er muss sich ge­dul­den kön­nen und alle einzelnen Kräfte sammeln und fügen.

Dem kurzen Einzelgeschehen entrissen, zu ineinander­grei­fen­den Taten genötigt, entdeckt sich der Mensch als mehr, als was er bislang gewesen.

Nicht mehr als blosse Kraft, die Gegenkraft zwingend, erscheint er sich nun; er steht vielmehr inmitten von Kräften, sie regelnd und nutzend, als tatbereites, doch aufschubfähiges Leistungsvermögen, als mögliche Kraftverfügung, als Wil­lens­macht. Aus blossen Gegenständen und Kräften werden nun auch die Widerstände da draussen zu «Mächten», Kraft- und willensbegabten Dingen; und was ihm bisher als Sonder­ge­walten entgegengetreten, die Schwere, Härte, Farben, Gerüche, Bewegungen, wertet er nun und fortab als «Eigenschaften» von Willenswesen. In solchem Sinne bedient er sich ihrer und sucht sie «zu nehmen», und auch das Werkzeug wird ihm daher zu wirklichem Wesen, zum Fetisch, zum Zaubergebilde.

Vielleicht, und sicherlich! hat der regere Liebeswille, durch den die Menschen vor dem Tiere ausgezeichnet sind, dahin mitgewirkt, dass der Mensch sich klarer selbst empfand und regeren Sinn für Austausch entwickelte: so im eigenen Leben, wo ihn die Nahrungsfürsorge stetiger mit demselben Weibe verknüpfte und Liebesgewohnheit entstehen liess, und so beim Blick in die Umwelt, die dadurch reichere menschliche Lebenszüge empfing.

Doch diesem Aufschwung des Wesens nistete sich sofort verschärft die Notdurft des Hungers ein: der werdende Liebes­bund artet zum vielköpfigen Hungerbund aus, der Wille sieht sich zum schlauen Erbeuter bestimmt. Und alle die Mächte da draussen werden als blosse Gönner und Gegner im Hunger­kampfe gewertet; ihr Wollen und Wirken erschien dem Men­schen wesentlich hungerhaft, nebenbei nur von Liebes­stre­bung bewegt.

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Dieses Weltbild der Not erhielt durch den Tod eine arge Be­stä­tigung.

Mochte sonst der Tod, warf er den Gegner nieder, vom Menschen ohne Nachdenken, ja zufrieden angesehen werden – konnte der Tod, wo er etwa in Liebe Verbundene trennte, ein unbegreiflich grausiges Etwas bleiben: so musste ihn, traf er den Hungerversorger, der Hunger der Hinterlassenen deuten. Dem Manne der höchste Triumph, dem liebenden Herzen ein tiefes Entsetzen, wurde der Tod für Weib und Kinder ein gie­ri­ger Würger. Und so begann von Hungererfahrung aus sein geistiger Einfluss.

Hatte der Mensch nicht selber so manches Lebewesen ge­tö­tet, der Nahrung halber? Der Tod des Andern hatte zur Hun­ger­stillung für ihn gedient. Auf dem Tode des einen We­sens beruhte das Leben des Andern – irgendwelchen an­de­ren Wesen zur Nahrung musste der Tote gestorben sein.

Doch wer war dieses andere Wesen, wenn Krankheit oder Verblutung und nicht ein leibhafter Gegner den Tod ver­ur­sach­te? Niemand sah es, es war geheim-unheimlich und nir­gends zu greifen.

Ungreifbar und unsichtbar war aber auch das Etwas, das mit dem Tode den Leib verlassen zu haben schien, der stumm wie im Schlafe nun dalag, als Leichnam. Der Schläfer zwar atmete, doch der Leichnam atmete nicht, mit dem Atem schien das innere Leben verhaucht und entflohen. Als hauchartig flüchtiges Wesen musste die innere Macht des Eigenlebens erscheinen, ähnlich den solchen, wie es Traumerlebnisse zeig­ten, gespenstisch und schattenhaft.

Solch ein totenhaftes Gespenst musste das feindliche We­sen sein, das den Lebenden plötzlich dahingerafft, nach Nah­rung – freilich gespenstisch – verlangend, die Seele er­beu­tend, die seelische Sondermacht dem Leibe entreissend.

Und so erlebte der Mensch im Angesichte des Leichnams doppelte Einsicht, freilich im täuschenden Hungergeiste: die eigne Seele, die Macht seines Leibes, und seelengleiche Mächte im Walten der Dinge um ihn herum.

Die Seele galt als Schattengebilde, heimisch im Schat­ten­rei­che da drunten, wohin die Sonne allabendlich nieder­sank, jenseits der Wasser; in nächtlich unterirdischem Jenseits weilte der Tote, das Seelengespenst, ein düsteres Wesen, wo­von auch der wirkliche Schatten, der Doppelgänger des Leibes, zeugte. Und dieses Seelengespenst bedrohte hungrig das Le­ben, dem es entrissen.

Das Leben vor solchem Eingriff der hungrigen Geister zu schützen, mussten die Lebenden nun die Toten mit Nahrung versorgen, die tückischen Mächte wohlgesonnen stimmend.

So legte der hungerbegriffne Tod dem Menschen drei­fachen Dienst auf: Bestattung des Toten mit Nahrung, Geräten und Waffen, damit er «da drüben» sie brauche; Speisung des Toten, damit er nicht hungre und sich zur Nahrung eigen­mäch­tig noch andre Le­ben­de raube; und nun noch Speisung aller möglichen hungrigen Geister, die grade den Tod des eben Ver­storbenen veranlasst haben mochten.

Hunger, Vernichtung und Dunkel umwoben mit Trug die Seelenahnung des Menschen, der grade schon durch den Tod der Hilfskraft beraubt, nun ausser für sich selber noch für ein Heer von Gespenstern zu sorgen hatte.

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Die seelengespenstischen Mächte werden Bestandteile des wirklichen Daseins; ihr Wirken oder doch Walten, unmittelbar oder mittelbar, empfand der Mensch in jedem Dinge, seitdem er zu planvoll regelnder Nutzung der Kräfte gelangt war und dann im zusammen Hungern des Nebenmenschen Ernährwert begriffen hatte. – Doch diese «Geister» bedeuten ihn nicht ein eigentlich höheres, wesenhaft edleres Dasein, sondern ein et­was anderes Nebendasein, im Grunde genau so verworren und nüchtern wie seines.

Gewiss! sie sind überlegen, doch nur weil unentdeckbar, in ewigem Hinterhalte, sie sind bedrohlich, doch nur weil hung­rig. Gelang es, sie sich durch Nahrungsgewähr zu verpflichten, ward es möglich, genau ihren Willen, ihr Wesensgeheimnis, den Namen zu kennen, so standen die heimlichen Mächte wohl gar als Bundesgenossen zum Menschen, Leistung mit Gegen­leis­tung bezahlend, stille Teilhaber und Spiessgesellen des mensch­lichen Beutelebens.

Ein rechnendes Hungerverhängnis empfindet derart der Mensch als ebenso gültig in Jenseits wie Diesseits. Die Not­durft des Hungers im toddurchsetzten Lebensgetriebe fälsch­te den flüchtigen Ahnungsblick in des Lebens tiefere Wesenheit, den im liebenden Menschen sonst vielleicht des Todes Tren­nungs­schmerz wecken mochte.

Ein tiefer, echter Schrei der Seele durchzitterte auch den Jäger der Urzeit, wenn er heimkehrend die Lebensgefährtin von Bestien zerrissen fand – eine Mutter, wenn sie ihr Kind verlor. Da ward für die Liebe der Mitmensch zu ewigem Werte. Über die Hungerfron war im ganzen doch noch mächtiger: sie hat die Menschheit von jenen Urwaldzeiten her beherrscht und den Liebesglauben zu müdem Zweifel hinabgeführt.

Auf diesem Irrweg der Hungerberechnung, gebahnt in der dunklen Vorgeschichte des Menschen, verläuft die ganze hö­he­re Geistesentwicklung, von hellerer Gegeneinsicht oftmals, im­mer mühsam und fast umsonst gewarnt: so grund­be­stim­mend erweist sich der Hunger, dass seine Irrtümer, sich als Denk­ge­setze gebärdend, jeden klareren Blick vergewaltigen und die Lebensverjüngung hindern, den heiligen Frühling scheu­chen, der die Zukunftsnatur zu bringen berufen.

Ja, der Hunger hat dermassen den Geist betäubt, dass er fast allein die Vergangenheit sieht, der Zukunft spottend.

Der Bauerglaube

Die Irrgänge des Geistes

Australische Ureinwohner mit erlegter Beute, colorierte Photografie, 1901

Als Jäger und Sammler werden in der Völkerkunde lokale Gemeinschaften (Rassen) bezeichnet, die ihre Nahrung grösstenteils durch die Jagd auf Wild­tiere, den Fischfang sowie durch das Sammeln von wild­wachsenden Pflanzen erwirtschaften.

Die Bedarfswirtschaft des Jagens, Fischens und Sammelns, durch welche die Reproduktion der natürlichen Res­sour­cen nicht gezielt und bewusst beeinflusst wird – ist die älteste Wirtschaftsform der Menschheit.

In jedem Fall ist davon auszugehen, dass in vielen Re­gio­nen jahrtausendelang rege Austauschbeziehungen zwischen Wildbeutern und Ackerbauern bestanden (etwa Wildbret oder Hilfeleistungen gegen landwirtschaftliche Produkte), so dass eine isolierte Betrachtung der Le­bens­weise der Jäger und Sammler irreführend sein kann.

Um 1500 n. Chr. war noch etwa die Hälfte der be­wohn­ba­ren Landfläche der Erde von Jägern und Sammlern be­siedelt. Zur gleichen Zeit lag ihr Anteil an der Welt­be­völ­ke­rung jedoch nur bei geschätzten 1 Pro­zent. Heute leben auf diese Weise noch 50 00060 000 Menschen.

Die Sphinx vor den Pyramiden von Gizeh,
ca. 2600 v. Chr.
Die ägyptische Gottheit Sobek mit Krokodil-Kopf,
ca. 200 v. Chr., Auschnitt eines Reliefs in Kom Ombo
Herakles und Iolaus besiegen die Hydra, griechische Vasenmalerei, ca. 540 v. Chr., Musée du Louvre, Paris
Tanzender Ganesha, 11. Jahrhundert,
Museum für Asiatische Kunst, Berlin-Dahlem

Gespenster und Fabelwesen der Urzeit, Misch­wesen aus Tier und Mensch, die zu Göttern wurden.

Die ägyptische Sphinx, Anubis, Sobek, Haroeris, die griechische Hydra, Kentauern, die Nereiden, Phoenix, der indische Gott Ganesha.

Die Fabelwesen Meerjungfrau, Einhorn, Bigfoot und Yeti, Vampire, Werwölfe und Zombies.