Die Zukunft der Natur, Teil 1
Das legalistische Weltbild: die Welt als Zwang
Das Geheimnis des Hungers
Ameisenhaft, eine Arbeitsgemeinschaft ohne Wanken, Stockung, Vergeudung sollte nach Einheitsglauben das Dasein sein, eine Werkzeug-Werkstatt, vom Abstrom der Weltkraft getrieben –, leidlos, mühelos, über jede Frage erhaben, als Weisheit von Jedem empfunden.
Statt dessen gibt es nicht Wenige, die in Fragen nach Sinn und Wert des Lebens sich müde forschten, und schlussendlich als Lebensordnung nur den Unsinn sahen.65 Zahllose leiden an Hunger, Krankheit, Sorgen, Enttäuschungen, alle aber, mit spärlichsten Ausnahmen, haben die Mühe gekostet in Bildung oder Erwerb.
Und abgesehen vom Fühlen, das freilich bei allem persönlichen Zustande – selbst bei Irrtum – doch auf wirkliche, nicht bloss scheinbare Vorgänge hinweist, keine grundlose Willkür bedeutet und niemals erklügelt ist –, zeigt die Wirklichkeit dicht beieinander, masslose Kraftvergeudung und ärgsten Mangel, sinnlosen Kraftausbruch und ebenso sinnlose Lähmung. Streit, Zerstörung und Tod in allen Weiten des Daseins sind Zeugnis wider den Einheitsdusel;66 nichts als das jammerwürdigste Armutszeugnis stellen sich selbst die Monisten aus, die angesichts aller blinden Naturzerstörung noch von Weisheit und Güte der Allmutter-Natur reden, unfähig das Chaos einzusehen, unfähig für höhere Ordnung der Zukunftsnatur tätig zu sein –, sie sind lahm an Geist und Willen.
Es ist zugleich eine schmachvolle Beschimpfung der wirklichen Mutterliebe,66a die doch mehr ist, als blosses Gebären und Säugen; wer seine Mutter verehrt, kann die Natur nicht «Mutter» nennen.
Die einheitsgläubigen Urphilister, aller geschäftigen Unrast zum Trotze, eigentlich faulzufriedene Monisten, haben aus eignem Mangel, wirkliche-allzuwirkliche Kräfte nicht in ihre Daseinsberechnung einbezogen. Im Hunger sahn sie den Siegesruf der Vernichtung, im Tode die Urkunde der Nichtigkeit aller Einzelwesen –, sie sahen die Menschenkraft vom dringenden Notdurftumsatz des Stoffwechsels ausgehen, und auch ein dürftiges Weiterbestehen erschien nur im Massenzwangsgefüge gesichert. Ein sich selbst (mehr schlecht als recht) regelndes blosses Werkzeug der ziellosen Weltkraft ist ihnen der lebensheischende Leib, ein verletzliches Feingewerk blinder Bewegung, aus unnützer Narretei sich selbst im Bewusstsein hilflos spiegelnd –, das ist für sie der Mensch.
Wozu aber dieses Gewerk Mensch nun Eigenbewusstsein besitzt? – Woher dieses Innendasein, das in Lust und Leid die Vorgänge wertet? – Wieso mochten und konnten solche Spiegelbilder das Bewusstsein eigenirrig stören? Darauf vermag der monistische Einglaube jeden Gepräges nichts zu antworten. Ganz von all dem Widerstreite des Lebens abgesehen, der alles andere denn Einheit bezeugt, beweist schon das einfache Dasein von Gegnern des Einheitsglaubens, oder auch nur schon die unterschiedlichen Sichtweisen des Monismus, dass keine Deutung des Lebens, derart wie er sofort zur Selbstverneinung wird.67 Freilich können das die Einheitsgläubigen aber nicht zugeben, zwingt sie ihr müder Wille doch des Lebens Einerleiheit zu wünschen, und darum die Lebensmannigfaltigkeit einfach zu leugnen. Ihr elender Hungerwille befiehlt ihnen dieses Weltbild.
Vom Hungerwillen empfing die Menschheit Anstoss und Antrieb zur Eingemeindung, Enteignung, «Mechanisierung». Doch ungebrochner Wille kann und muss gerade am Hunger den Irrweiser der Lebensbahn erkennen, wie sie bisher gegolten –, alle bisherige Mühe der Menschheit für ungeleistet erklären –, zu neuem Gange rufen vom ersten Ausgangspunkt an.
Die Menschheit braucht deshalb noch nicht zum Höhlenzustand zurückzukehren, das bisschen Tand an Gesittung zertrümmernd –, sie ist in Wahrheit nach hunderttausendjährigem Rundlauf als Ganzes sowieso noch immer am Urort, genau so wie trotz allem Arbeitsgekreise das drehende Mühlrad, der Esel am Göpel.
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Was ist denn der Hunger? – Etwa der Stoffwechsel?
Durchaus nicht, und nicht einmal das Bewusstsein des Stoffwechsels; unbemerkt verläuft in jedem Augenblicke dieser Ab- und Wiederaufbau des Leibes, und bräuchte wär er bemerkt, durchaus nicht peinvoll zu sein.
Der Hunger aber tritt auf, wenn der Leibesabbau derart um sich gegriffen hat, dass Schädigung droht, wenn nicht Einhalt geschieht. Der Hunger bedeutet Lebensgefahr und Rettungsaufruf zugleich. Es ist ein Doppelton im «Hunger»: Zerfallsbewusstsein und Wille zum NichtzerfaIl, der dann erst zum Nahrungswillen wird.
Den Nahrungswillen allein hat die Menschheit bisher gesehen.
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Doch: Wille zum Nichtzerfall – in wem soll der sein?
Die Stoffatome, die Ätherwirbel und Elektronen, die ewig kreisenden, sind genau so sie selbst, ewig und glücklich im Kot, wie eingebaut in dem herrlichsten Menschenantlitz. Für sie besteht kein Zerfall beim Stoffwechsel, ihnen ist dieser wie jener Zustand wesentlich gleichgültig –, aus ihnen kann der Wille zum Nichtzerfall nicht stammen.
Und nicht einmal auf blossem Bestreben, ein inneres gewohntes Gleichgewicht des Leibesgefüges zu erhalten, beruht solcher Wille im Hunger. Die einfachsten Lebenszellen, wo solches Gleichgewicht eher beobachtbar, suchen ja keineswegs bloss den einmal erreichten Zustand immer zu wahren – nein! sie suchen ihn grade zu ändern, indem sie anwachsen. Dieses Wachstum verringert freilich, rein mathematisch, bei zunehmender Masse das Oberflächenverhältnis, da der Rauminhalt einer Kugel stärker anwächst (im «Kubus»), als die Oberfläche (im «Quadrat» des Radius). Die Lebewesen bieten also derart der Umwelt immer weniger Austauschfläche dar, an Inhalt und Kraftumsatz gemessen, sie kommen also dabei in steteres Gleichgewicht. Dennoch verhindert die Zunahme dieser Gleichgewichtsstetigkeit nicht, dass Lebewesen plötzlich das Gleichgewicht völlig einbüssen und sich – spalten. Das Gleichgewicht der Atome als solches ist also durchaus nicht entscheidend.
Nein: es sind innere Eigenkräfte am Werk.
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Wirklichkeitsinn verlangt, Wirkungen nicht ohne Ursachen, Wirkungsgegensätze nicht ohne Ursachen-Gegensätze anzunehmen. Grade Wirklichkeitsinn muss zugeben, dass ein Lebewesen als Sondergebilde, in seiner vom Umraum gesonderten Masse ein anderes Wirkungsfeld darstellt, als eben der Umraum. Wirklichkeitsinn muss behaupten, dass solch ein örtlich verdichtetes Leistungsfeld unbedingt eine örtlich eigne Verdichtungsmacht in sich enthalten muss, eine Eigenursache.
Ohne verdichtende, stoffversammelnde Eigenpunkte, die sich am Stoff betätigen –, ohne Kraftmächte, die sich durch und mit dem Stoffe gestalten, gab es in allen Weiten des Raumes nirgends und niemals ein Sondergebilde, keine Sondererfüllung des Raumes.
Die allererste Erkenntnis des ruhigen Wirklichkeitssinnes ist das Dasein von Sondermächten.
Solche Sondermächte, gewiss! – ja sie können nach Gleichgewichtszustand ihres Wirkungsfeldes streben, der Lockerung vorbeugen, Festigung suchen, und so sich nähren und wachsen, bis andre, ebenso eigne Sondermächte mit ihnen in Wettbewerb treten, als neue Sondergebilde ins eigene Dasein treten, vom Vor- und Muttergebilde sich lösend.
Das Sonderdasein als solches zunächst, ferner das eigne Wachstum, endlich die Sprossung, bezeugen die erste Wirklichkeit eigener Mächte. Aus ihnen stammt der Wille zum Nichtzerfall, der im Hunger waltet.
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Der Wille zum Nichtzerfall ist ja aber einzig die abwehrende Gegenform des Willens zum Wachstum –, ist Wille zur Nichtbehinderung des Wachstums.
Es war der Irrtum der Menschheit, im Hunger einzig die Lebenserhaltung zu deuten –, wohl mit aus dem Grund, dass der Nahrungserwerb den Erwachsenen obliegt, in denen das Wachstum scheinbar vorbei ist. Die Rinder, in denen es greifbar wirkt, kümmern sich gar nicht um solche Daseinserkenntnis, durch Hungerversorgung befriedigt –, bar der vergleichenden Daseinserfahrung; die Eltern aber fühlen das Wachstum der Kinder als selbstverständlich, mühebereitend, und werten es nur im Hinblick auf künftige volle Mitarbeit, baldigen Miterwerb. So blieb dies tägliche Wunder unverstanden, so unverstanden wie seine Geschwister: Gestalt und Geburt.
Und doch ist dieses dreifache Wunder – Geburt, Gestalt und Wachstum – aus Einem verständlich, in seinem Lebensausmass freilich nur mit Staunen begreifbar, sobald die Eigenmacht in jedem Sondergebilde erkannt ward –, gerade am Hunger und Stoffwechsel erkennbar.
Das flüchtige Unstete der Leibesbestandteile zeigt erst recht, dass ihre auch nur vorübergehende Einfügung ganz und gar nicht ohne die zwingend wirkende Kraft der Eigenmacht möglich gewesen wäre. Die Sondermasse bezeugt also Sammlungskräfte der Eigenmacht, zeigt sie tätig in Kraftbeeinflussung flüchtiger Stoffatome. Die Eigenmacht also, durch ihre Kraft, beruhigt das Wirrwarr ausser ihr, derart Gebilde schaffend.
Gestalt – das ist ein Eigenbund kraft Eigenmacht, ist die in Raumessonderung, Kraftvereinigung, in innerem Anschluss wirksam und wirklich gewordene Tatmacht.
Die gestalteten Stoffgebilde bezeugen also nicht bloss Sondermächte, vielmehr auch tätige Mächte, ein Wirken in Überwindung der stofflichen Kraftzersplitterung.
Gestalt ist sichtbar und fruchtbar gewordener Tatwille. Dies ist die zweite Erkenntnis ruhigen Wirklichkeitssinnes.
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Die tätige Eigenmacht schafft ein Bundesgebiet als Gebilde. Doch dieses erstgestaltete Wirkungsfeld dehnt sich –, die Innenmacht mehrt ihre Wirkung; so muss ihre Kraft gestiegen sein. Also zeugt das äussere Anwachsen von der inneren Mehrung der stoffgestaltenden Eigenmacht.
Die Eigenmacht steigt: das ist die dritte Erkenntnis.
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Und plötzlich löst sich von ihrem Gebilde ein Teil, doch nicht in Zerfall und Abfall, sondern als Keim eines eigenen Daseins, zu eigner Gebildefülle und Raumeswirkung erwachsend: es ist die Eigenbetätigung neuer Eigenmacht neben, und anfangs auf Kosten der früheren.
Den Wirkungseintritt neuer Gestaltungsmacht zeigt die Geburt: das ist die vierte Erkenntnis.
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Und ist dieses Anwachsen des unmittelbaren Gebietes, des Eigengebildes beendet –, dann ist die Eigenmacht nicht ausgebraucht und erloschen. Im Gegenteil: nach Abschluss des ersten, nahen, leiblichen Wachstums wirkt sie tätig hinaus. Der erwachsene Mensch greift von sich aus ordnend hinein in die Dinge und Zustände draussen, fügt sie nach eignem Gutdünken, zeigt sich als schaffender Wille, zu «Eigenwerken» strebend.
Die selbst geschaffene Umweltordnung ist das erweiterte Selbst, dessen erste Stätte der Leib ist: das ist die fünfte Erkenntnis.
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Die sechste Erkenntnis aber ist: der Wille ist die überleibliche Ordnungskraft der Eigenmacht, deren erste Leistung –, der Leib mit seinen Gliedern und Anlagen –, dann das Werkzeug der Weiterwirkung, die zur um sich greifenden Eigenordnung wird, zum Zellkern der eigenen Lebensschöpfung, zum Kristallisationspunkt der neuen Gestaltung.
Erst diese Erkenntnisse rücken den Hungerwillen ins richtige Licht: er ist die Eigenwahrung des Ordnungswerkzeugs gegen gestaltungswidrige Schwächung des Willensstützpunkts des Leibes –, ist Abwehrwille, ist der Wille die Eigenordnung nicht zerfallen zu lassen, wie es am stärksten in der Verwesung nach dem Tod geschieht. Dies ist die siebte Einsicht.
Wie der Hunger bisher begriffen wurde, fehlten fast vollständig diese sieben Erkenntnisse. Allzu begreiflich! –, dass alle Gemeinregeln bisher die Menschheit aus Fehlern in Fehler stürzten.
Was an Wesenserkenntnis fehlte, hätte die Menschheit durch Willensspannung ersetzen sollen, stammte nicht eben alle Einsicht aus Willen. Der enge, hastige, notbedrängte Wille jedoch ergab eine voreilig-falsche Bewusstseinsenge – den Hungerwahn. Und der Hungerwahn beeinflusste seinerseits wiederum Willen und Tatkraft doppelt: trieb in jedem Einzelnen den Willen nur zu Hungerreglung, erhob in Allen die äussere Gewalt zur inneren Zwangshoheit, der sich der widerstrebende Einzelne eben in seiner vorgespiegelten Nichtigkeit einfach zu beugen hatte.
So ward die Menschheit auf Zwang und Irrtum vereidigt.
Die Irrgänge des Geistes
Das monistische Weltbild:
Die Welt als Laune
Warum wurde Christus zu Jesus?
Das legalistische Weltbild:
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VIIIDer bürgerliche Glaube III
Das individualistische Weltbild:
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XIDas Widergeschick des Lebens
XIIPaulus
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