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Satirischer Bericht im «Der grüne Heinrich»

Schweizerische literarisch-satirische Zeitschrift, gegründet nach dem Ende des II. Welt­krieges. Herausgegeben wurden vier Nummern, danach wurde die Publikation eingestellt. In der 4. Nummer, Seiten 77–80, Dezember 1945, wurde das Sanctuarium Artis Elisiarion auf die Schippe genommen. Anlass war der finanzielle Beitrag der Eidgenos­senschaft (1939) zum Bau der Rotunde des Sanctuarium Artis Elisarion im Rahmen einer Arbeits­beschaffungs­mass­nahme.

Sanctuarium Artis Elisarion

Kunstheiligtum grosser Wandgemälde, einzigartig in der Welt

 

O Wanderer, der du an die milden Gestade des Lago Maggiore pilgerst, meide die ent­weihten Stätten des Ferienpöbels, verlasse die ungesunde Atmosphäre der Pseudo­künst­ler­schaft, die sich liberali im Süden unserer Heimat breit macht, meide die sündhaften Weiber deutschschweizerischer Zunge, die, mit Männerhosen angetan, die natürlichen Gefühle des einsamen Wanderers verwirren und beunruhigen, erlabe und ergötze dich an den heldischen Gestalten Elisarions, des grossen Dichters, Malers und Denkers! Halte es mit Bundesrat [Rudolf] Minger, der bei Elisarion Mut und Kraft in schwerer Zeit gefunden hat! Halte es mit Bundesrat [Guiseppe] Motta, der zusammen mit seiner Frau, eine Stunde des Genusses in der Welt der Schönheit verbringen durfte! Besuche die Stätte des Lichtes und des Friedens, von Bundesrat [Enrico] Celio persönlich so bezeichnet! Was drei unserer Landesväter begeistern konnte und über den Alltag hinaus in bessere Sphären gehoben hat, das wird auch uns erbauen und erlaben. Santuario d’Arte – Weiheburg der Schönheit. Das ist die Aufschrift, die uns als Wegweiser zum Tempel der schönen Künste führt. Nur sieben Minuten vom Bahnhof Locarno. Kommen Sie, meine Herrschaften! Besteigen Sie nicht das Postauto, welches Sie in die Sündenpfütze Asconas entführt, kommen Sie, folgen Sie dem Geiste Elisarions, der da sagte: «Von Deinem Liebreiz ward die Seele trunken. Als sich mein Blick in deinen Blick verloren, in deiner Schönheit ward sie neu geboren, schon tief grüblerisch versunken.»

Betreten Sie mit mir den Garten Eden! Öffnen wir die Pforte. Klingelinglinling, ruft das neckische Glöcklein – und schon treten wir ein in einen verwunschenen Garten mit vielen kleinen, verträumten griechischen Lusttempelchen. Es ist eine wahre Lust, hier zu leben. Erwerben Sie eine Eintrittskarte zum bescheidenen Preis von zwei Franken, meine Damen und Herren, Sie werden es nicht bereuen. Sie werden noch im hohen Alter vom unver­gleich­lichen Werke Elisarions erzählen. Lassen Sie die Klarwelt der Seligen auf Ihr verfinstertes Gemüt einwirken. Treten Sie getrost in die Fusstapfen unserer drei Bundesräte Motta, Minger und Celio.

Wer lacht da? Aber meine Damen, ich bitte Sie! Kichern Sie nicht! Lesen Sie, was der «Eco di Locamo» über die Malereien Elisarions schrieb: «Hier handelt es sich um ein Werk männlicher Entschlossenheit. Durcheilen Sie das ganze Haus, dieses Sanctuarium Artis. Sozusagen nur für Männer, meine Damen, nur für Männer ...»

Vernehmen Sie meine verehrten Anwesenden, einige Angaben über den verstorbenen Künstler. Elisarion heisst in Wirklichkeit von Kupffer und ist adeligen baltischen Geblüts.

Der Katalog des Hauses zählt dreihundertneunundfünfzig Werke des Künstlers, aus- genommen das monumentale Wandgemälde, genannt «Die Klarwelt der Seligen». Doch davon später.

Hervorragende Persönlichkeiten haben sich über das Werk Elisarions geäussert und damit ein einzig dastehendes Zeugnis eidgenössischen Kunstverstehens abgelegt. Ihnen sei das Wort erteilt! Vernehmen Sie neben den sprechenden Zeugnissen dreier Bundesräte das Blatt des Bischofs, das «Giornale del Popolo», welches die wundervollen und wahrhaft suggestiven Gemälde Elisarions lobt. Suggestiv, wahrhaft suggestiv, das kann man wohl sagen, nicht wahr, meine Damen und Herren? Nicht umsonst hat der Direktor des kantonalen Lehrerseminars, Professore Dr. Achille Ferrari, der Regierung dringend die Unterstützung dieser überwältigenden Vision der Kunst und höheren Menschlichkeit ans Herz gelegt. «Glücklich wird sich einmal jene öffentliche Institution schätzen können, die von dem Schöpfer mit dieser Gabe bevorzugt wird», schreibt Professor Bacchetta im «Il Dovere». Aber auch Akademiker aus der deutschen Schweiz zählen zu den gebildeten Verehrern Elisarions. «Wie ein ewiger Frühling wird es mich durch ferneres Leben begleiten, eine Helle und ein Ansporn ... die Farben sind von märchenhafter Leuchtkraft, die Zeichnung offenbart strengstes Können.» Diese begeisterten Worte, meine Damen und Herren, raten Sie, wer hat sie geschrieben? Nein, sie stammen nicht von Herrn Zuber und nicht von Herrn Rezzonicco vom Politischen Departement, nein, meinen Damen und Herren, sie stammen von Herrn Prof. Dr. Karl Matter, der im «Aargauer Tagblatt» für Elisarion Zeugnis abgelegt hat. Hingegen kann ich Ihnen mit einem andern Vertreter des Bundeshauses dienen. «Es lohnt sich die Reise von weit her, diese edle Stätte zu sehen», schreibt Herr Dr. jur. Emil Boss vom eidgenössischen Justizdepartement. Ja, sogar die «Basler Nachrichten», die gewiss in Kunstfragen zuständig sind, haben Elisarion ein Kränzchen gewunden: «Seine gereifte Kunst hat etwas Beglückendes und Erhebendes, gelöst von Erden- und Seelenschwere …», schrieb Herr Pfarrer Dr. Wipf im «Intelligenzblatt der Stadt Basel».

Sehen Sie die Zeichnung, meine Verehrten! Mit Prof. Dr. Karl Matter rufen wir aus: «Sie offenbart strengstes Können! Sehen Sie diese Linien, diese Formen, diese Weichheit, diese Fülle, diese Reinheit …» Nun aber, meine Damen und Herren, sammeln Sie sich. Wir treten nun ein in die ehrwürdige Totengruft des Verblichenen. Achtung – ich öffne. Ein Streichholz bitte! Fürchten Sie sich nicht, meine Verehrten, treten Sie näher! Gleich mache ich Licht. Wo ist die Kerze? Da! Hier sehen Sie die Totenmaske Elisarions. Gleicht er nicht Dante? Frappante Ähnlichkeit, was? Da in der Ecke stand seine Urne, und hier sehen Sie sein Selbstbildnis auf dem Totenbett, von ihm selbst gemalt. Wie? Nein, er war nicht schon tot – er lebte noch – wie? Jawohl, bevor er starb.

Bevor ich Sie weiterführe, meine Damen und Herren, eine Minute der Besinnung! Ich lese Ihnen derweilen die bewegten Worte einer jungen Tessiner Lehrerin, namens Valentina Monotti, die ihren Eindruck des nun folgenden Rundraumes mit dem Monumental­wand­gemälde «Die Klarwelt der Seligen» in der grössten Tessiner Zeitung «Il Dovere» geschildert hat. Valentina Monotti schreibt: «Ein Doppelvorhang gleitet leise zur Seite. Was wir da schauen, ist vom ersten Augenblick an auch für uns eine Auferstehung: aus dem Dunkel zum Licht! Der innere Rundraum des Heiligtums ist noch die ‹Erde› und ist schon die ‹Klarwelt›; seine Gestalten sind natürliche Wesen und zugleich doch übernatürliche Wesen. Die Bilder – eines zum andern gefügt und eine Einheit bildend – geben in den Formen, die keine Härte kennen, in den Farben, die Licht ausströmen, die wahrhafte Verklärung der Natur; jene Verklärung, die den Ursprung gelten lässt und das Ziel verherrlicht. Das Licht, das von den Bildern ausgeht, vermählt sich mit jenem des Himmels und wird so eine Atmosphäre, die uns umhüllt, Kampf und Schmerz besänftigend, und die edleren Sinne in uns belegt. Die Gestalten haben harmonische Formen, anmutige Haltung, einen Ausdruck des Gesichtes, dem ein Lächeln eigen ist, das ein vollkommenes Gleichgewicht offenbart. Sie scheinen wie über die Erde schwebend, sie sitzen, ohne Kräuter und Blumen zu beugen: sie schauen, sie bewegen sich, sie ruhen und sind Alle und immer die Darstellung der ewigen Wesenheit, erlöst von allem Übel. Zeit und Raum gelten nicht mehr: auf einem wunderbar hellen Schneegelände blüht hell ein Birnbaum. Veilchenfarben steht ein Berg neben dem Pinienwald; der Felsen berührt das Wasser, das Wasser des Meeres schäumt nur, um zu bekunden, dass es wirklich lebt. Unter dem reinen, klaren Himmel erblühen zu Tausenden zarte, durchleuchtete Blüten, einst reines Glück der Kindheit des sanften und willensstarken Künstlers. In den Bildern des himmlischen Rundraumes der Klarwelt gibt es weder die Spur einer Hütte noch eines Palastes: nur eine verklärte Erde ist der ewige Aufenthalt des brüderlichen Menschen.»

Jawohl, meine Damen und Herren, hier ist alles brüderlich. Alle diese Menschen, die hier sitzen, liegen, knien, stehen, die sich umschlingen im brüderlichen Reigen, sie alle sind Brüder. Bedenken Sie, meine Verehrten, dieses monumentale Wandgemälde wurde von Elisarion gemalt, bevor die W a n d dazu überhaupt vorhanden war! Dazu erfand er eine noch nie dagewesene Technik. Elisarion malte auf Kreideleinwand mit «trockenen» Harzfarben. Das ganze Gemälde besteht aus schmalen Teilstreifen, die dann später, als die Eidgenossenschaft und der Kanton diesen erhabenen Rundtempel subventionierten, hier aufgezogen wurden. Beachten Sie die da und dort sichtbaren Reisnägel, mit denen die Leinwand an die Wand befestigt ist! Sehr interessant, nicht wahr? Vor allem aber, meine Freunde, betrachten Sie die Zeichnung! Diese Erhabenheit der Figuren. Diese neckischen Strumpfbändchen, diese Herzchen, die der Künstler seinen Gestalten um den Hals gehängt hat, und betrachten Sie die Schmetterlinge, meine Damen und Herren. Bereits sind diese Schmetterlinge in die Literatur eingegangen. Tucholsky schreibt darüber in seinem «Schloss Gripsholm» (1932, Rowohlt, Berlin). Gestatten Sie, dass ich Ihnen, während Sie sich in die erhabene Klarwelt der Seligen vertiefen, den kleinen Abschnitt vorlese:

Hier war ein Traum Wahrheit geworden – Gott behüte uns davor! Der brave Polysander hatte etwa vierzig Quadratkilometer teurer Leinwand voll gemalt, und da standen und ruhten nun die Jünglinge, da schwebten und tanzten sie, und es war immer derselbe. Blassrosa, blau und gelb; vom waren die Jünglinge, und hinten war die Perspektive.

«Die Schmetterlinge!» rief Lydia und fasste meine Hand. «Ich flehe dich an», sagte ich, «nicht so laut! Hinter uns kriecht die Aufwärterin herum, und die erzählt nachher alles dem Herrn Maler. Wir wollen ihm doch nicht weh tun.» Wirklich: die Schmetterlinge. Sie gaukelten in der gemalten Luft, sie hatten sich auf die runden Schultern der Jünglinge gesetzt, und während wir bisher geglaubt hatten, Schmetterlinge ruhten am liebsten auf Blüten, so erwies sich das nun als ein Irrtum: diese hier sassen den Jünglingen mit Vorliebe auf dem Popo. Es war sehr lyrisch.

Hier war das Paradies aufgeblüht, von dem so viele Seelenfreunde des Malers ein Eckchen in der Seele trugen; ob es nun die ungerechte Verfolgung war oder was immer: wenn sie schwärmten, dann schwärmten sie in sanftem Himmelblau, sozusagen blaurosa. Und taten sich sehr viel darauf zu gute. Und an einer Wand hing die Photographie des Künstlers aus seiner italienischen Zeit; er war nur mit Sandalen und einem Hoihotoho-Speer bekleidet. Man trug also Bauch in Capri.

«Da bleibt einem ja die Luft weg!» sagte die Prinzessin, als wir draussen waren. «Die sind doch keineswegs alle so …?» – «Nein, die Gattung darf man das nicht entgelten lassen. Das Haus ist ein stehen gebliebenes Plüschsofa aus den neunziger Jahren; keineswegs sind sie alle so. Der Mann hätte seine Schokoladenbildchen gerade so gut mit kleinen Feen und Gnomen bevölkern können … Aber denk dir nur mal ein ganzes Museum mit solch realisierten Wunschträumen – das müsste schön sein!»

«Und dann ist es so ... blutärmlich!» sagte die Prinzessin. «Na, jeder sein eigener Unterleib! Und daraufhin wollen wir wohl einen Schnaps trinken!» Das taten wir.

Anmerkung des Verfassers: Wir auch.


Nachbemerkung der Redaktion
: «Der grüne Heinrich» stellt diese Nummer allen schwei­zerischen Malern gratis zur Verfügung, als Beispiel einer «überwältigenden Vision der Kunst» (Prof. Dr. A. Ferrari), die von Bund und Kanton subventioniert und von dreien unserer Bundesräte warm empfohlen wird. Wir empfehlen dem Vorstand der Vereinigung Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten, beim Bundesrat zwecks Kredit für eine gemeinsame Pilgerfahrt aller Schweizer Maler zu «Elisarion» vorstellig zu werden. Die wirtschaftliche Notlage vieler Schweizer Künstler dürfte durch den Anschauungsunterricht subventionswürdiger Kunstwerke zweifellos gebessert werden können.

 

 


Der grüne Heinrich

Der Titel des Satire-Blatts ist eine Anspielung an den Roman Der grüne Heinrich des Schwei­ers Gottfried Keller, damals ein viel gelesener Entwicklungsroman und Teil der nationalen Schweizer Identitätsfindung während der Nazizeit. Der Roman ist neben Wilhelm Meister von Johann Wolfgang Goethe und Nachsommer von Adalbert Stifter, einer der wichtigsten Entwicklungsromane der deutschen Literatur.

 

Schloss Gripsholm

In diesem Roman von Kurt Tucholsky über Liebe, Glück und Ferien vom Alltag schildert der Autor in heiterer, humoristischer Weise ein Besuch im «Polysandrion» des baltischen Barons «Polysander von Kuckers zu Tiesenhausen». Das Elisarion im Minusio ist damit Teil der Weltliteratur geworden. mehr

 

Bemerkenswerte Kunst eines Tessiners

Valentina Monotti, Lehrerin in Cavigliano, hat unter diesem Titel einen Besuch im Elisarion geschildert, welcher am 29. Oktober 1940 in der Tessiner Zeitung Il Dovere veröffentlicht wurde. Es ist ein erster feinsinniger Erfahrungsbericht eines Besuches im erweiterten Elisarion mit der Rotunde. mehr

 

Bemerkungen zu Tagesfragen

Die in Zürich monatlich erscheinende Zeitschrift Der Kreis in der Januar-Nummer 1946, nimmt zur Tages­frage «Elisarion und der Grüne Heinrich» Stellung und schliesst sich den Kritikern an. Die Malerei Elisarions wird als «fürchterlicher Kitsch» bezeichnet. Der Autor geht noch einen Schritt weiter mit der Auffassung, dass es seinen homosexuellen Lesern, das mehr oder weniger geräuschvolle oder geräuschlose Ver­schwin­den des «Sanctuarium», völlig Wurst sein könne. mehr

Ein «Leserbrief» an den Beobachter nahm das Thema auf. Zwei bösartige Artikel in gesitterter Sprache wurden in der ansonsten hochangesehnen Zeitschrift publiziert. Aus heutiger Sicht ein homophobes und xenophobes Pamphlet, nach dem immer wieder gleichen Muster: Warum habe nicht ich das, was die haben! Die sind doch schwul und erst noch Ausländer! Das ist ungerecht!

 

Mein Protest, das Manuskript von Eduard von Mayer als Antwort dazu. Es trägt allerdings den handschriftlichen Vermerk «nicht als Veröffentlichung gedacht.» Nebst den Klarstellungen zu den Unterstellungen im «Der grüne Heinrich» und im «Beobachter» enthält dieses Manuskript auch eine intelligente Abhandlung über die metaphysische Dimension des Rundbildes «Die Klarwelt der Seligen».