Die Klarwelt der Seligen – eine lange Zeit des Vergessens
und Zerfalls – der Zustand vor der Restaurierung
Paradies der Geschlechterüberwindung
Der Kunsthistoriker Fabio Ricci beschreibt in seinem Buch «Ritter, Tod und Eros» seine erste Begegnung mit dem Hauptwerk von Elisàr von Kupffer mit folgenden Zeilen:
Als ich im Jahr 1997 im Rahmen meiner Studien zur Lebensreform das Gelände [des Monte Verità] zum ersten Mal besichtigte, wurde ich mit dem monumentalen Rundbild von Kupffers konfrontiert. Gemeinsam mit mir betrat ein älteres Ehepaar den Ausstellungsraum und ebenso wie ich verfiel es in Staunen. Nach wenigen Minuten der Stille bahnte sich, erst flüsternd dann anschwellend, ein Disput zwischen ihnen seinen Weg. Die Auseinandersetzung schien sich, ausgelöst von dem Dargestellten, um eine Geschlechtsbestimmung der Figuren zu drehen. «Nein, wären es Frauen, so hätten sie Brüste», so die Frau. «Nein, wären es Männer, so hätten sie richtige Genitalien», so der Mann. Wieder Schweigen und erneut staunende Blicke. Der Mann wütend, die Frau ratlos, ein Achselzucken folgte, dann drehten sich die Besucher um und verliessen die 360°-Darstellung. Die Feststellung eines Mangels und die gleichzeitige Zusammenführung scheinbar entgegengesetzter Geschlechtsmerkmale waren so irritierend, dass sie die Betrachtenden aus dem visuellen Paradies der Geschlechterüberwindung vertrieben.
So oder ähnlich muss es vielen unvorbereiteten Betrachtern des Rundbildes ergangen sein. In seiner Autobiographie schreibt Elisàr von Kupffer, er habe bereits mit sechs Jahren die Inspiration zum Rundbild gehabt habe. Schon damals habe er im Traum eine Figur auf einer Riesennymphea gesehen.
Der Klarismus und sein Parthenonfries des Erosglaubens
Aus dem kindlichen Traum wurde mit der Zeit eine philosophisch-religiöse Vision – der Klarismus. Um 1920 finden sich in der Literatur von Elisàr von Kupffer und Eduard von Mayer erste Hinweise auf die Realisierung der Klarwelt der Seligen, dem «Parthenonfries des Erosglaubens». 1923 begann Elisàr von Kupffer mit den Arbeiten an seinem Monumentalwerk. Zuerst in einer kleinen Dachwohnung im Muralto, später in der neu errichteten Villa in Minusio. Wo das Rundgemälde dann letztendlich seinen gebührenden Platz finden würde, stand noch in den Sternen. Gedacht war es wohl als Fries eines sakralen Raums in der Heiligen Burg des Klaristengemeinschaft.
Elisàr von Kupffer und Eduard von Mayer warben vielerorts für ihre Vision eines Tempels der Klaristen. In Eisenach, der Stadt unter der Wartburg, fand die Idee 1926 Anklang. Der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel wollte Eisenach zu einem «Kulturmittelpunkt des Reiches» machen. Der Bau eines neureligiösen Tempels passte in das Konzept nazifreundlicher Kreise. Das Modell des Heiligen Burg, Bilder von Elisàr von Kupffer und Teile der «Klarwelt der Seligen» wurden daher in Eisenach ausgestellt. Gegner des Projektes verunglimpften das Projekt und wiesen auf die schwule Komponente hin, bezichtigten die beiden der Teilnahme am «perversen Treiben» auf dem Monte Verità.
Die beiden zogen darauf hin ihr Projekt zurück. Belegt ist auch die Präsentation eines Teils des Rundbildes in der Galerie der befreundeten Künstlerin Clara Wagner-Grosch in Locarno. Die meisten Besucher sahen Teile des Rundbildes flach gehängt in der Villa. Bei Interesse wurden die Teile umgehängt und einzeln gezeigt. Einer der vielen Besucher war Kurt Tucholsky. In seinem Roman Schloss Gripsholm (1931) setzte er ein literarisches Denkmal.
Das Sanctuarium Artis Elisarion als Heilige Burg
Dank einer Erbschaft von Clara Wagner-Grosch und Zuwendungen der öffentlichen Hand im Sinne einer Arbeitsbeschaffungsmassnahme konnte die Villa mit einer Rotunde erweitert werden, die ab Frühjahr 1939 für Besucher zugänglich war. Prominente Besucher zu dieser Zeit waren die Bundesräte Rudolf Minger, Enrico Celio und Giuseppe Motta mit Frau.
1942 starb Elisàr von Kupffer im Alter von 70 Jahren. Nach Ende des 2. Weltkrieges brach eine neue Zeit an. Im Grünen Heinrich, einer kurzlebigen literarisch-satirischen Zeitschrift wurde das Sanctuarium Artis Elisarion lächerlich gemacht. Auch die Homosexuellen-Zeitschrift Der Kreis fand, das Werk von Elisarion sei «fürchterlicher Kitsch». Das Interesse des Publikums schwand.
1960 starb Eduard von Mayer. In einem komplizierten Testament ging die Liegenschaft an die Gemeinde Minusio und an den Kanton Tessin. Dieser verzichtete auf sein Erbe. Die Haushälterin Rita Fenacci hatte weiterhin Wohnrecht. Sie vermietete einen Teil der Räume der Villa an Gastarbeiter. Als sie 1973 starb, wusste die Gemeinde Minusio nicht, was mit dem Geschenk anzufangen ist. Die Villa stand lange Jahre leer und wurde dem Verfall überlassen. Schliesslich entschloss man sich, aus dem Gebäude ein Kulturzentrum zu machen, welches 1981 nach einer umfassenden Renovation eröffnet wurde. Um dem Testament zu genügen, sind einige Räume darin als Museo Elisarion eingerichtet.
Ein Gemälde auf Leinwand in einer speziellen Affresco-Technik
Das Rundgemälde der «Klarwelt der Seligen» war gedacht als Fresko. Elisàr malte dieses als noch keine Wände vorhanden waren auf Leinwand, insgesamt sind es 17 Teile. Der Künstler benutzte Kreideleinewand. Diese konnte er an irgend eine Hilfswand aufhängen und sie dann, den weissen Kreidegrund als Farbe einbeziehend, in ein leuchtendes Gemälde verwandeln. Die Ausführung auf diesem Malgrund verlangte eine neue Malweise, um höchste Durchleuchtung und Schwerelosigkeit zu gewährleisten. Der Auftrag geschah durch ein Hineinreiben der Farben in das kreidige Gewebe. Es ist in gewissem Sinne eine Umsetzung der Aquarelltechnik, die auch bei Fresken angewendet wird. Das Gemälde ist daher sehr wasserempfindlich, Feuchtigkeit schadet dem Bild. Der Zustand des Gemäldes vor der Restauration lässt zudem vermuten, die einzelnen Teile wurden ohne grosse Sorgfalt von den Wänden der Rotunde abmontiert und zusammengelegt, bereit zum Abtransport in einen Keller des Vergessens … Harald Szeemann hat dies zum letztmöglichen Zeitpunkt verhindert.
Zur Vertiefung in das Sanctuarium Artis Elisarion – Einführung von Eduard von Mayer
Die 33 Szenen des Rundbildes sind mit einem Gedicht erklärt.
Für eine detaillierte Betrachtung steht das Rundbild (im Zustand vor der Restaurierung) auch in grösserer Auflösung zur Verfügung:
Rundbild mittlere Grösse, Höhe 760 Pixel für grosse Bildschirme
Rundbild gross für Detailbetrachtungen
Diese Kurzgeschichte zeigt auf eine humorvolle Weise die Gedankenwelt des Autors. Im Paradies sind alle von natürlicher, anmutiger Schönheit und brauchen keine Kleider. Auch die Liebe ist frei – «Geweihte Liebe nicht? Was war das? Weihte die Liebe nicht?».
Ein neuer Flug und eine heilige Burg
Das Credo des Klarismus. Elisàr von Kupffer sieht sich als Stifter einer neuen Religiösität.
Dramatische Szenen aus der russisch-baltischen Revolution in drei Aufzügen. Wohl für Elisàr von Kuppfer die diesseitige Wirrwelt.
Harald Seemann erläutert das Rundbild
Dokumentation einer Führung aus dem Jahre 1998.
Nach dem Tode von Elisàr von Kupffer 1942 bezeichnete sich Eduard von Mayer als «Burgwart des Sanctuarium Artis Elisarion». Nach seinem Tode 1960 übernahm Rita Fenacci diese Aufgabe. Der gesamte Besitz der beiden Herren ging gemäss Testament an die Gemeinde Minusio und an den Kanton Tessin. Dieser verzichtete auf sein Erbe. Die Gemeinde musste nun für das Erbe Erbschaftssteuern, bzw. hohe Schenkungssteuern an den Kanton und an die Eidgenossenschaft zahlen. Um das zu begleichen wurde eine weitere Liegenschaft aus dem Erbe der beiden Herren im Raum Locarno veräussert. Die Mieteinahmen aus dieser Liegenschaft dienten bisher als Lebensunterhalt für die Bewohner der Villa. Frau Fenacci hatte nun zwar Wohnrecht und Verfügungsgewalt über das Sanctuarium, aber keine Einkünfte mehr. In der Not vermietete sie ein Teil der ehemaligen Wohnräume an Gastarbeiter. Der Zerfall des künstlerischen Nachlasses begann …