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Der Ritter Sodoma und seine Retter

Die Ehre ist ein hohes Gut, richtiger das vornehmste Gut des Menschen. Man darf aber Ehre nicht mit Leumund und Ruf verwechseln, wie es die meisten tun. Guter Leumund ist der Schein der Ehre, ist die Meinung, die die andern von unsrer Ehre haben, und dieser Ruf kann fälschlich ein schlechter oder fälschlich ein guter sein. Unsre Ehre ist die ehrliche Meinung, die wir – unsrem Gewissen gemäss – von uns selbst, unsrem Denken und unsern Handlungen haben. Was man so Ehren­ret­tung nennt, sollte also Leumundrettung heissen. Gegen die Verleumdung und Beschimpfung seitens der Menschen kann man sich nicht schützen, besonders nicht in den Tagen des öffentlichen Geschreibsels, das den Klatsch noch verall­ge­mei­nert. Es sollte gegen den Verschleiss auch dieses Giftes eine Apothekerordnung geben, denn auch der Klatsch gehört in die Klasse der Gift- und Meuchelmorde. Wer heute eine Be­schim­pfung unsrer Persönlichkeit liest, liest noch lange nicht die Rechtfertigung, welche übermorgen erfolgt, … und semper haeret aliquid. Unsre Ehre kann aber niemand schirmen, als wir selbst. Ehre ist Selbstschutz, Schutz vor der Gefahr, sich selbst untreu zu werden. Wenn jemand weiss, das sein Denken und Handeln laut dem eignen Gewissen ehrenhaft ist, d. h. so, dass er es jederzeit vor sich selbst und der Welt vertreten kann, dann ist alle «Ehrenrettung» eitel überflüssig, ja oft schädlich – dann bedarf es höchstens einer Leumundrettung. Wenn Vasari hie und da Versehen begeht, in Jahreszahlen, Namen oder Berichten, so ist das gewiss entschuldbar und erklärlich, besonders da er keine Vorarbeiten hatte. Wenn er aber Bilder beschreibt, und zwar falsch, die er also bestenfalls nicht ge­se­hen haben kann, wie in verschiedenen Fällen, z. B. bei dem Bilde: «Der Tod des Heiligen Hieronymus» von Fra Filippo in der Kathedrale zu Prato –; vor allem aber, wenn er gehässig falsche Berichte und Beurteilungen bringt, wie über Sodoma’s Schaffen und Art; so ist das wohl geeignet, das Verdienst seiner wissenschaftlichen Arbeit herabzusetzen und besonders auch den Charakter des Autors. Ehrlichkeit und Gerechtigkeit sind die Grundpflichten jedes Forschers. Wer sie verletzt, wie das leider oft geschah und geschieht, mag wohl Parteischriftsteller sein, hat aber in Wissenschaft und Forschung keinen Anspruch auf Achtung. Ehrlichkeit ist aber auch die Grundbedingung aller Ehrenhaftigkeit. Wer mit sich selbst im Reinen ist und sich damit vor seiner Umwelt überzeugt einsetzt, ist ehrenhaft und wird auch von den andern Ehrenhaften geachtet werden. Auch die Masse beugt sich zuletzt der Ehrlichkeit, ja selbst die Unwahren, wenn ihnen ihre Unwahrheit – nicht mehr Dienste leistet.

Und so steht es auch mit dem grossen Künstler, dessen Le­ben und Schaffen wir verfolgt haben. Es ist etwas Ge­fähr­li­ches um jene müssigen «Ehrenrettungen», die «dem zu Ret­ten­den» nur gar zu oft gerade bitter unrecht tun und ihn erst recht ver­unglimpfen. Ein trefflicher Philologe und erfahrener, vor­züg­li­cher Direktor eines klassischen Gymnasiums sprach sich in gleichem Sinne missbilligend über die sogenannten Ehren­ret­tun­gen des Dichters Horaz aus. Jemand, der so selbsteigen und mit Stolz, ja mit humorvoller Ironie sich selbst vertreten hat, jemand, der sich seiner persönlichen Natur und Ehre bewusst war, wie Giovan Antonio – der braucht nicht noch nach 400 Jahren für ein spätgeborenes Publikum zurechtgestutzt zu wer­den. «Sint ut sunt, aut non sint!» – mögen sie anerkannt wer­den, wie sie sind, oder gar nicht! – diesen jedenfalls mann­haf­ten Spruch des Ordens Jesu sollte man auf alle bedeutenden Erscheinungen der menschlichen Kultur anwenden, auch wenn sie nicht in das Prokrustes-Patentbett einer just als modern geltenden Kulturstube hineinzupassen scheinen.

Es ist nicht zu leugnen: Vasari hat sich alle Mühe gegeben, Giovan Antonio als Menschen und Künstler herabzuwürdigen. Wir haben seine Gehässigkeit schon reichlich kennen gelernt, wir haben bereits gesehen, wie seine Kunstangaben oft direkt falsch waren. Aus persönlichem Hass widerspricht er sich oft. Wir finden, in seinem «Leben des Sodoma» selbst die Be­haup­tung, Sodoma hätte nur Minderwertiges geleistet, dagegen in dem «Leben des Domenico Beccafumi von Siena» die gegen­tei­lige Meinung: Sodoma wäre tüchtig und viel in Anspruch ge­nom­men gewesen, und gar folgenden Satz: «Giovan Antonio hatte eine tüchtige Grundlage im Zeichnen und wusste, dass darin die Meisterschaft des Künstlers besteht.» Darum hätte Beccafumi viel bei ihm gelernt! Im Leben des Sodoma (Seite 533 der 2. Ausgabe) sagt er erst, die Ekstase der Hl. Katerina wäre eine gute Arbeit, wie auch die «eigenhändige Zeichnung» des Sodoma beweise, die er, Vasari, im Besitz habe. Wenige Zeilen später erklärt er die Gestalten in derselben Kapelle für schlecht, denn: «aus Faulheit und Trägheit», wie er sich aus­drückt, «machte er weder Zeichnungen noch Kartons, wenn er irgend eine derartige Sache zu arbeiten hatte».

Wie unbillig Vasari gegen den Menschen Giovan Antonio war, beweist der Umstand, dass er an ihm das beschimpft, was er bei andern verschweigt, so bei Luca Signorelli, dem grossen Meister von Cortona, dem der junge Raffael von den Vor­mün­dern nicht anvertraut wurde.1 So bei Michelangelo! – den ja Vasari gerade über alles vergötterte. Vielleicht hat Michel­an­gelo ihn nicht in seine tiefsten Gefühle eingeweiht, aber be­durf­te es dessen für einen Zeitgenossen der Renaissance, der mit Michelangelo im Umgang stand!? und sich als den Ver­trau­ten des Künstlers ausgab, der seine Liebesgedichte2 an Jüng­lin­ge gerichtet hat, so vor allem an den schönen Tommaso di Cavalieri, den er als den «Gebieter seines Herzens» verherr­lich­te! Und Vasari, der Zeitgenosse, der überall Anekdoten auf­zufischen verstand, sollte nicht gewusst haben, dass sein Gön­ner, der Kardinal del Monte und als Papst Julius III., dem er sich eifrigst bemühte, seine Kunstgeschichte zu widmen – auch in dem Rufe stand, den Namen Sodoma (d.h. in miss­ver­stan­de­nem Sinne) zu verdienen. Es gibt einen interessanten Bericht über die Regierung des Kirchenfürsten und Gön­ners aus der Toskana (der ebenfalls wie Vasari und Michelangelo aus dem Arezzo-Gebiet stammte) und zwar ist er von dem vene­zia­ni­schen Gesandten Matteo Dandolo um 1551, nachdem Giovan Maria del Monte 1550 Papst Julius III. geworden war. Als päpst­licher Legat in Parma sah er einen Knaben am Fenster mit einem grossen Affen balgen, den er in seinem Palaste hielt. Der kühne Junge machte tiefen Eindruck auf ihn und er fasste, wie der Gesandte sagt «solche Zuneigung zu ihm», dass er ihn zuerst hübsch kleiden und beköstigen liess, bald aber «zu sich ins Zimmer und ins eigene Bett (nel proprio letto) nahm». Der wurde dann später, mit 17 Jahren Kardinal. Bei Giovan Antonio erhebt Vasari den Vorwurf, er habe mit «Knaben und un­bär­ti­gen jungen Leuten», die er «über die Massen liebte» gern Um­gang gehabt – statt mit mürrischen bärtigen Gesellen à la Va­sa­ri könnte man hinzufügen; aber beim Gönner Vasaris, Giovan Maria – Julius III. – erfahren wir desgleichen. Vasari schimpft über die «Bestie» (animale, bestiale) Giovan Antonio, der so­viel Tiere hielt und darüber seine Arbeit versäumte. Der Gön­ner Vasaris, Giovan Maria – Julius III. – hielt sich grosse Af­fen und blieb doch ein umworbener kluger Kirchenfürst. Nein, er hat das alles sehr wohl gesehen und gewusst. Er sah ja auch die nackten Jünglings-Gestalten, die Michelangelo in der Six­ti­ni­schen Kapelle in machtvoller Glorie aufführte – aber die Dar­stel­lung nackter Gestalten zu verpönen, das erlaubte er, der selbst die nackten Schmiede des Vulkan gemalt hat, sowie die übrigens merkwürdig sinnlichen Stellungen der nackten Bu­ben, die seine «Carita» (Madrid, Prado) umgeben und gewisse Partien völlig unbekleidet oder durchsichtig verschleiert den prüden Augen darbieten! – erlaubte Vasari sich nur bei Giovan Antonio zu verpönen, anlässlich des Kurtisanen-Bildes in Mon­te Oliveto Maggiore. Wahrlich das Muster von einem Künstler und Charakter, dieser «pittore aretino», wie er sich so gerne nennen hörte! Vielmehr eine kleinliche Seele, die vielleicht durch persönlichen Ärger erbittert, vorsorglich erst nachdem er vom Tode des streitbaren Künstlers erfahren, dessen etwas satirische Zunge sich möglicherweise über seine steifen Ar­bei­ten belustigt hatte –, an diesem eine moralische Leichen­schän­dung beging! Und dazu benutzte er eben eine Tatsache, die er an seinen Freunden übersah, durch die er ihn aber bei der un­auf­geklärten Menge schädigen zu können meinte. Denn das wahre Kennzeichen der Verleumdung (einen Andern in bösen Leumund bringen) liegt nicht so sehr in der möglichen Un­rich­tig­keit der verbreiteten Behauptung, als in dem un­be­rech­tig­ten, kleinlichen Bestreben, intime Tatsachen in gehässiger Beleuchtung an die Menge preiszugeben, in der Hoffnung, das Vorurteil und Unbildung den Gegner um Wirkung und Ansehen bringen werden. Wer nicht soviel vornehmen Sinn hat, solche Handlungsweise zu verurteilen, der macht sich mitschuldig. Der Denunziant ist der Zwillingsbruder des Verleumders.

Und ebenso beweist ein Spottgedicht des Euryalo Morani aus Ascoli, das 1516 zu Siena gedruckt und verbreitet wurde, wie die Neider, damals wie heute, jede Gelegenheit ergreifen, um sich die Partei der Masse zu sichern. Denn folgende Verse des Morani fallen gerade in die Zeit, als Giovan Antonio von Leo X. für seine «Lucrezia» zum Ritter ernannt worden war:

 

Nunc mihi pulchra venus tenui dat vescier aura

Ut revocem a teneris, Sodoma, te pueris.

Sodoma paedico est: cur te, Lucretia, vivam

Fecit? Habet nostras pro Ganimede nates.

 

Nun gibt es aber eine ganze Reihe von un­be­ein­fluss­ten Doku­men­ten, die diesen Namen als den üblichen Zunamen Giovan Antonios bekräftigen; auf sie wird noch im einzelnen zu­rück­zu­kommen sein. Hier seien erst die Gründe erörtert, die Giovan Antonios bisherige «Ehrenretter» gegen die innerlich sachliche Berechtigung des Zunamens angeführt haben. Ihre Gründe ar­beiten gern mit «am Ende», «vielleicht», «wer kann es wissen, ob nicht …», «chi lo sa?» usw. und berufen sich 1. auf die Stren­ge des Gesetzes; 2. auf den vornehmen Umgang und die Pro­tek­tio­nen, die Giovan Antonio genossen; 3. auf die Fröm­mig­keit, Tiefe und Schönheit seiner Werke; 4. endlich gar auf sein ritterliches Selbstgefühl.

Nun, bei aller Strenge des Gesetzes, konnte es ja Giovan Antonio geglückt sein, jedem Protokoll seiner Liebesweise entgangen zu sein, wie auch heute in Deutschland, Osterreich, England, Russland, Griechenland, Serbien und andern Kul­tur­staaten zahllose Männer unentdeckt und unbestraft bleiben, auch solche, von denen es stadtbekannt ist. Auch Leonardo da Vinci ist verhört worden, aber mit der Untersuchung davon­ge­kommen. Doch war die Strenge damals, im frühen Mittelalter, wenigstens steilweise in Italien, weit geringer, als im liberalen XX. Jahrhundert in obigen «humanen Kultur»-Staaten. Z. B. in San Gimignano, der Nachbarstadt von Siena, betrug die Strafe 100 Pisaner Lire (nach der Angabe des Historikers und geist­lichen Oberhauptes von San Gimignano, des Probstes Grafen Pecori.3

Und der vornehme Umgang, die Gönnerschaft der Päpste, Fürsten und Kommunen wäre damit unvereinbar gewesen?! Nun: von Julius III. sprachen wir schon, und Monsignore Giovanni della Casa, päpstlicher Legat in Venedig, Erzbischof von Benevent und italienischer Klassiker, hat durch sein sehr offenherziges, berühmtes Capitolo sul Forno4 nichts von seiner weltmännischen Stellung eingebüsst. Und Leo X. sollte daran so ernstlichen Anstoss haben nehmen müssen, dass es von Giovan Antonio bekannt war? – wer, der die Geschichte der Zeit kennt, wird das glauben können? Luther, unter andern, berichtet, es sei den Kardinälen wie ein Kartenspiel gewesen. Es liegt garnicht in meiner Absicht, hier nur von Grossen der katholischen Welt zu reden, als ob diese Liebesempfindung damit in besonderem Zusammenhange stünde (wie es der be­schränkt-kurzsichtige und oft allzu oberflächliche anti­kle­ri­kal-satirische «Asino» in Rom zu meinen vorgibt); diese Em­pfin­dung ist vielmehr ganz unabhängig von irgend einer religiösen Überzeugung, Konfession oder Freigeisterei, und ebenso unabhängig von Nation, sozialer Stellung oder politischen Partei, auch von persönlichen Vorzügen oder Mängeln – wie die Liebe überhaupt, die eben eine allgemeine Natur- und Seelenerscheinung ist. Denn wie der greise Arzt Kawwal dem Priester Issa antwortet:

 

Hochwürdiger Herr, wer kann das wissen,

Was die Natur in uns erstrebt!

Wo glaubt Ihr denn Natur zu missen?

Es ist Natur, die uns durchbebt

Was lebt und stirbt, was liebt und hasst,

In jeder Form die Natur umfasst.

Auch Menschengeistes hohe Gewalt

Ist nur Natur in andrer Gestalt.5

 

Aber das Thema hier verlangt diese einseitige Auseinander­set­zung, da es sich um die Zeit- und Volksgenossen Giovan An­to­nio’s handelt. Wie wenig streng die Zeit damals überhaupt dachte, zeigt in einem andern, allerdings schmählichen Falle, die sträflich-milde Beurteilung die Papst Paul III. einer ver­brecherischen Untat erwies, die Pierluigi Farnese, sein Sohn, beging. Der Papst nannte es «jugendlichen Leichtsinn», einen «Jungenstreich», als der rohe Pierluigi den 24-jährigen Bischof von Fano, Cosimo Gheri, im Ornate der Messgewänder ver­ge­wal­tigte, so dass der unglückliche Jüngling infolge der er­lit­te­nen Aufregung starb. Und zwar, wie der zeitgenössische Ge­schichts­schreiber Benedetto Varchi sagt, verübte Pierluigi die­se Gewalttat «nicht von seiner Schönheit verführt», da jener nicht einmal schön gewesen sein soll – also nicht aus leiden­schaft­li­chem Gefühl, sondern aus tierischer Brutalität, weil der junge Bischof sich geweigert hatte, ihm Frauen der Stadt zuzu­führen.6

Und da sollte ein Künstler wie Giovan Antonio, dessen zarte Seele vor jeder Rohheit zurückschreckte, wie schon alle seine Werke zeigen, von diesen Zeitgenossen boykottiert wer­den?!7 – von den Männern, die sich «onesti» und «per bene» nannten. Was bedeuten diese Worte, wo sogar der Kuppler heute seine Ware als «anständig» (per bene) anbietet und sich selbst «ehrenwert» (onesto) nennt, und das in allen Ländern.

Und was wiegt heute noch der Einwand, seine tief­re­li­giö­sen und schönen Werke sprächen gegen seine abweichende Liebesneigung, die sogar noch ein sogenannter Moderner wie Paul Bourget eine verbrecherische nennt und eben deswegen annimmt, seine wundervollen Werke wären damit unvereinbar. Diese Logik steht auf der Höhe der italienischen Tagespresse, die vor einigen Jahren, als ein italienischer Marquis und Oberst angeblichen Dienstmissbrauches wegen unter solcher Anklage stand, ihn dadurch «offiziös» zu rechtfertigen suchte, dass sie erwähnte, er wäre ein schöner Mann und könne folg­lich «so» nicht empfunden haben. Eine Naivität, die man kindisch nennen muss. Und obige Behauptung ist denn doch stark angesichts der historischen Tatsache, dass künstlerische Persönlichkeiten, wie Pindar, Anakreon, Sophokles, Pheidias, Hafis so fühlten und lebten und so tiefe, schöne, religiöse Werke schufen. Gibt es eine männlich schönere Erscheinung als den Sophokles des Lateran?! Ja sogar ein asketischer Mönch des XI. Jahrhunderts, Petrus Damianus, der zwar den Priestern solchen Liebesumgang streng zu untersagen wünsch­te, äusserte sich in seinem Liber Gomorrhianus dahin, dass frommer Sinn, kirchliche Fügsamkeit und gute Sitten noch kein Beweis gegen solchen Umgang waren. Er hält ihn also mit jenen ihm lobenswerten Eigenschaften seelisch für vereinbar. Muss er es doch selbst von dem Hl. Romuald berichten, als dieser längst den Camaldulenser Orden gegründet hatte und der geistliche Bussprediger der Fürsten seiner Zeit gewesen, so Kaisers Otto III. Der Hl. Romuald wurde von einem Mönche, seinem Schüler, erpresst und nahm die Strafe der erzürnten Mönche auf sich, offenbar als Sühne für eine frühere Be­ge­ben­heit, da er damals schon zu alt war.8

Von sehr geringer Kenntnis der menschlichen Seele zeugt auch die Behauptung eines deutschen Kunstschriftstellers, Sodoma wäre gerne mit sehr einfachen Leuten umgegangen, wie ein rauher Bürgersmann, und hätte doch zart und religiös gemalt; wie Künstler und Mensch da auseinander klafften. Wirklich? Erstens war unser Künstler kein so eingefleischter Demokrat, da er sich immer als Ritter unterzeichnete; zweitens kann man sehr wohl ein schlichter Bürger sein und doch fein und religiös empfinden, ja als einfaches Kind aus dem Volke zarter sein als ein verbildeter Patrizier oder verhätscheltes Jüngelchen eines reichen Börsianers; und drittens suchen ge­ra­de die zart und tief veranlagten Naturen, die die Schalheit des verbildeten Lebens erfahren haben, oft und gerne den unverfälschten Umgang mit Naturmenschen, mit einfacher froher Jugend, und nicht mit verknöcherten Würdenträgern. Deshalb klafft da noch nichts auseinander! Und endlich ver­ges­se man nicht: was bleibt den feingebildeten Menschen, denen diese Empfindung eingeboren und heilig ist, in unsrer Kultur meistens andres übrig, als die aufzusuchen, die weniger durch tausend Vorurteile der Sippe von ihnen getrennt werden und die selbst auch weniger in solchen abstrakten Vorurteilen leben!

Und gar sein Mut und seine Ritterlichkeit wäre mit dieser Liebe unvereinbar? – weil er in Siena einen spanischen Sol­da­ten, der ihn beleidigt hatte, der Strafe überlieferte? Er ging, wie berichtet wird, heim, zeichnete aus der Erinnerung das Gesicht des Frechlings auf und brachte dieses Bild dann dem Befehlshaber, der sofort den Täter erkannte und ihn bestrafte. War etwa Epaminondas, der Feldherr der Thebaner und Lieb­ha­ber des Kephisodot, kein unerschrockener Kriegsheld?! Und gleich ihm zahlreiche andre tapfere Feldherrn, wie Alexander der Grosse9 und Julius Cäsar, von dem seine eigenen Soldaten sangen, dass er ein Liebling des Königs Nikomedes von Bit­hy­nien gewesen war.10 Und um mehr in unserer Zeit zu bleiben, seien die Samurai, die tapferen japanischen Edelleute und ihre Schwerträger erwähnt, mit denen sie oft in Liebe verbunden waren, wie mir ein genauer Kenner Japans noch unlängst mit drastischen Dokumenten belegt hat. Also Behauptungen von der Unvereinbarkeit des Mutes, der Mannhaftigkeit, ja der Man­neszucht mit solcher Liebe sind einfach lächerlich, selbst bei oberflächlicher Kenntnis der Geschichte. Und, abgesehen von der Geschichte, belegt der Kampf, der in Deutschland von so viel Männern mit offnem Visier gegen den veralteten Para­gra­phen geführt wird, etwa nicht den moralischen Mut, den das Be­wusst­sein einer inneren, ethischen Bewegung zu ge­ben ver­mag?

Diese Leumundsrettung ist einfach haltlos. Und fest steht die Tatsache, dass Giovan Antonio den Zunamen Sodoma ge­führt hat. Da ist erstens die Eintragung seiner Rosse zum Palio-Rennen in Siena von 1513 (die früheste Notiz). Da sind die 1516 gedruckten Distichen des Euryalo Morani. Da ist die zweite Eintragung zu dem Rennen des Jahres 1527, also längst nach dem Florentiner Skandal von 1515. Da ist, vor allem, seine eigne humoristisch-ironische Vermögenserklärung an die Steu­er­behörde von Siena aus dem Jahre 1531; da ist das erwähn­te Gedicht des Filolauro di Cave von 1533; da ist die Urkunde ei­nes Hauskaufes in Via Vallerozzi von 1534; da ist ein Zah­lungs­be­fehl der Signoria von 1536; da ist endlich seine Todes­nach­richt von 1549. Also auch wenn Vasari geschwiegen hätte, wüss­ten wir, dass es einen grossen Künstler und «vorzüg­li­chen» Menschen, einen «eccellente uomo» des Zunamens So­do­ma gegeben hat.

Aber … sagen die Leumundsretter: in seiner Eheurkunde von 1510 ist er nicht Sodoma genannt. Doch abgesehen davon, dass erst 1513 dieser Name zuerst nachweisbar ist, war es doch wirklich überflüssig bei der Schliessung seiner Ehe gerade die­sen Namen anzugeben.

Aber … der Fürst Jakob V. Appiani von Piombino nennt ihn Joan Antonio de Averzé (= aus Vercelli). Freilich: in einem erstmaligen Empfehlungsschreiben an den Florentiner Macht­ha­ber Lorenzo. Sollte er da einen immerhin missdeutigen Zu­namen hinsetzen? Vielmehr scheint, dass er die Eindeutigkeit dieses Zu­namens kannte, da er ihn nicht hinsetzte. Oder als Giovan Antonio am 3. Mai 1518 an den Herzog von Ferrara und den Markgrafen von Mantua schrieb, sollte er da fremden Fürs­ten gleich mit dem Namen solchen Klanges deutlich vor­rück­en? Er war unter diesem Namen bekannt, gar nicht unter seinem Familiennamen Bazzi. Was Wunder, dass er sich da mal mit kleiner Abweichung als Ritter Sodona unterschrieb! Und eben­so, dass ihn die Signoria von Siena in ihrem Schreiben von 1538 Sodona nennt. Auch Pietro Aretino nennt ihn in seinem Briefe vom August 1545 aus Venedig so – da Giovan Antonio diese weniger deutliche Nebenform seines Zunamens offenbar für gewisse Gelegenheiten angenommen hatte. So benutzte er ihn auch, als er nach 30-jähriger Trennung dem indes berühmt und berüchtigt gewordenen Jugendfreund schreibt, dem nun auch von Fürsten gefürchteten Pietro Aretino. Dieser ant­wor­te­te ihm mit herzlichsten Worten und adressiert natürlich, wie jener angegeben hatte, da er ihn nicht ärgern wollte. Man lese doch:

«Als ich den übersandten Brief öffnete und Euren Namen mit meinem zusammen las, ward ich so bis ins Innerste er­grif­fen, als lägen wir uns noch eben in den Armen mit jener herz­li­chen Zuneigung und Liebe, mit der wir uns so oft umarmt ha­ben, damals als es uns in Rom und dem Hause Agostino Chigi’s so gut gefiel. Und wir hätten es jedem übelgenommen, der uns gesagt hätte, wir würden auch nur eine Stunde ohne einander sein. Aber die Welt dreht sich und die Menschen werden um­ge­trie­ben, so dass der eine wie der andere von dem Glücksspiel des Zufalls in solche Gegenden zu dauerndem Aufenthalt ge­führt wird, die er nie auch nur zu erblicken gedachte. Ihr mein tausendmal lieber, tausendmal guter, tausendmal liebens­wür­di­ger Ritter seid wahrlich nicht etwa in meinem Gedächtnis auferstanden, da ihr fürwahr nie «darinnen starbt, sondern jung seid ihr darin geworden, so wie ich wünschte, dass wir selbst uns verjüngten …»

Wie zart und fein ist hier der Ton dieses rücksichtslosen Spötters,11 wo er von der Jugendneigung zu Giovan Antonio spricht. Es galt ja von ihm selbst, dass er eine Ritterkette von Giovanni delle Bande Nere, dem Vater des Herzogs Cosimo I. de’ Medici, für solche intime Beziehungen erhalten hatte.

Wer Italien kennt und weiss, wie wenig fest die Namens­be­zeich­nungen noch heute sind, der wird sich des Wechsels der Namen unsres Meisters erst recht nicht als einer falschen Leu­munds­rettung bedienen dürfen. Regellos steht der Vorname bald vor, bald hinter dem Familiennamen, regellos wird eine Frau bald nach dem Namen ihres Mannes, bald nach ihrem eignen Mädchennamen genannt. Und stetig werden Namen im öf­fent­li­chen Leben und in Schriften verballhornt und ver­än­dert. Daher – zur «Leumundsrettung» der italienischen Post sei es gesagt – kommen wohl oft die Versehen im Fach «poste restante» vor, besonders bei ausländischen Namen.

So ist auch der Name des Sodoma wiederholt verschieden geschrieben und gedruckt worden, vor allem Soddoma und So­doma, dann Sodona, aber auch Sogdoma, Sobdoma, aber auch statt des a mit e am Ende, z. B. Sodome, Sodone. Daher ist es lächerlich, wenn der Italiener Faccio aus dem später üblichen einen d des Namens zu folgern vorgibt, dieser habe mit der biblischen Stadt nichts zu tun, die immer mit zwei d (= dd) geschrieben worden wäre. Der eifrige Autor übersieht voll­kom­men, dass in dem Zahlungsbefehl der Signoria der Name mit zwei d (= dd) geschrieben ist, ebenso in der Eintragung der Rosse; andrerseits tut es mir leid, ihm nachzuweisen, dass auch der Name der Stadt zuweilen mit einem d geschrieben wurde, wie die Ausgabe des Liber Gomorrhianus durch den Abt Caëtan (Rom, 1606 bis 1615) beweist. Lassen wir diese Seifenblase und ähnliche!

Nochmals: Namen sagen dem Italiener so gut wie nichts. «Name ist Schall und Rauch». Versehen, versprechen, ver­wech­seln der Namen ist in Italien an der Tagesordnung – in Zeitungen, Büchern, wie im praktischen Leben. Giovan Antonio Bazzi hat so bis vor einem halben Jahrhundert als Razzi ge­gol­ten. Schlagen wir doch einmal die erste Ausgabe des Vasari auf (Firenze (!) MDL). Da wird der Maler Pellegrino von Modena auf Seite 728 Pellegrino da Modana genannt und zwar in der Überschrift. Zeile 5 von unten heisst diese Stadt aber schon Modona und auf Seite 728 werden die Einwohner einmal Mo­de­nesi und dann Modonesi genannt. Es kommt aber noch besser! Im zweiten Bande der zweiten Ausgabe des Vasari (Fiorenza (!!) 1568) heisst derselbe Maler auf Seite 571 Ro­dol­fo Grillandai, auf Seite 572 aber Ghirlandai. Im Leben des Domenico Beccafumi (Seiten 371–381) steht auf Seite 371 und 375 als Seitenüberschrift Perino del Vaga; im Leben des Nic­co­lo Soggi (Seiten 387–393) steht auf Seite 391 als Seiten­über­schrift Lappoli (der früher abgehandelt war). Im Leben des Simone Mosca (Seiten 496–502) steht über Seite 497 und 501 Jacopo Puntormo (auch Pontormo genannt); und dergleichen endlos mehr. Der Setzer, der Korrektor, der Herausgeber haben nichts gemerkt, auch im Fehlerverzeichnis steht nichts davon. Sie haben es eben nicht gemerkt, weil Namen ihnen herzlich wenig sagen; woraus ich dem sonst oft liebenswürdigen Ita­lie­ner wahrlich kein Kriminalverbrechen machen will – das Leben ist am Ende mehr wert als ein Name oder gar ein Buch­stabe! … und sei es in würdigen Codices. Mir selbst ist es im Hause eines Professors in Florenz widerfahren, dass mein Name nach jahrelanger genauer Bekanntschaft bald Guf, bald Cruff, wenns hochkam Cuffer geschrieben wurde. Endlich gar hiess es ein­mal, ein Herr «merkwürdiger Weise genau» meines Namens hätte seine Visitenkarte abgegeben; und darauf stand: – Hoff­meyer. Da soll man noch an die pedantische Fabel von Sodoma und Sodona glauben?! Doch nicht bloss gruslige fremde Na­men, zu denen am Ende auch das Wort Sodoma gehört, son­dern auch solche «latinische», wie Caprivi und Curtius fi­gu­rier­ten im ersten Blatt Italiens, im Giornale d’Italia, anlässlich der Hohenloheschen Memoiren als Caprini und Curtinus. Und auf solchem wackligen Buchstabengrund sollte noch psycho­lo­gi­scher Unverstand es wagen dürfen, ein kunstvolles Gebäude aufzurichten! Wie gesagt, ich wende mich gewiss nicht gegen das italienische Volk, dessen Ahnen Glänzendes geleistet haben und das noch selbst oft den gesunden Lebenssinn bewahrte – sondern namentlich gegen einige «mitteleuropäisch» sein wol­len­de Gelehrte, Gebildete und Halbgebildete.

Nur noch einige Worte über den Nebennamen Sodona. Die Endung oma ist im Italienischen ein seltner, fremder Ein­dring­ling (Sodoma, Idioma, Aroma, Assioma, denn in Roma ist es der Stamm); hingegen ist die Endung ona oder one als Ver­grösserungssilbe überaus häufig (z. B. Matrona, padrone). Ein Italiener, der das Wortbild Sodoma liest, ohne die Be­deu­tung dieses Wortklanges zu kennen, wird flüchtig leicht Sodóna lesen – wie ich es bei einem unverbildeten Sprössling des Vol­kes zu meiner Überraschung selbst erfahren habe, der un­will­kür­lich unter einer Photographie den richtig gedruckten Na­men Sódoma als Sodóna las und aussprach. Es lässt sich das leicht auch linguistisch begründen.

Ob Giovan Antonio seinen historischen Spitznamen im Atelier oder sonst wo erhalten hat, ist ja wesentlich gleich­gül­tig, aber Spitznamen haben immer irgend einen realen Anlass, so wie ich einen Lehrer kannte, der Papa genannt wurde, weil er, obschon unverheiratet, uneheliche Kinder hatte; ein andrer wurde «Sauermilch» genannt, weil er so leicht ein saures Ge­sicht schnitt. Jedenfalls: wer einen solchen Namen hinnimmt und führt, ja, wie Giovan Antonio getan hat, noch nach einem grossem Skandal beibehält – dem kann die Sache doch nicht so etwas «Unnennbares» und Gemeines gewesen sein. Ich möchte denjenigen Klubmann sehn, der einen solchen Sportnamen führen wird, wenn er ihm in der innersten Seele zuwider ist. Und diese Tatsache im Leben Giovan Antonio’s wiegt alle an­dern auf. Ja, auch die Hohe Obrigkeit von Siena kann es damit nicht so sehr tragisch genommen haben, sonst hätte sie fol­gen­den launigen, um nicht zu sagen naseweisen Bericht des humo­ris­ti­schen Künstlers nicht hingenommen:

«Euch, ihr ehrenwerten Herren der Steuerbehörde sei für mich Giovan Antonio Sodoma di Bucaturo12 angezeigt, was ich besitze.

Erstens beim Neuen Brunnen einen Garten, den ich be­stel­le und die andern abernten.

Ein Haus, im Rechtsstreit mit Niccoló de’ Libri, meine Woh­nung in Vallerozzi.

Da habe ich just acht Pferde; ihr Spitznamen ist Ziegen und ich bin ihr Leithammel.

Da habe ich einen Affen und einen redenden Raben, den ich halte, damit er einen Esel sprechen lehre – ein Theo­loge im Käfig.

Einen Uhu, um die Narren zu schrecken, eine Schleiereule und von dem Käuzchen sage ich auch nichts wegen des Affen oben.

Da habe ich zwei Pfauen, zwei Hunde, zwei Katzen, einen Falken, einen Sperber, sechs Hennen mit 18 Küken.

Und zwei maurische Hennen und viele andere Vögel, deren Beschreibung nur Verwirrung brächte.

Da habe ich drei böse Untiere, als da sind drei Frauen­zim­mer.

Auch babe ich da noch 30 Söhne,13 gross und gewichtig. Eure Exzellenzen werden wohl zugeben, dass ich viel Besitz zum Schleppen habe, abgesehen davon, dass nach den Gesetzen der, der zwölf Söhne hat, nicht zu den Gemeindelasten verpflichtet ist.

Indessen empfehle ich mich Euch. Möge es Euch wohl ergehen. Sodoma Sodoma derivatum M. Sodoma.14

Wir wissen heute wieder, 1800 Jahre nach dem Tode Kaiser Ha­drians, dass man trotz dieser Empfindung ein vollendeter Ehrenmann sein kann, ein «eccellente uomo», wie Armenini bloss 38 Jahre nach dem Tode Giovan Antonio’s ihn genannt hat, als das Andenken des Künstlers noch in aller Munde leb­te.15 Damit fällt ja auch die soziale «Notwendigkeit» all jener advokatischen Winkelzüge hin; und man erstaunt um so mehr über des Künstlers Freimut, über die stolze Erkenntnis seiner eingeborenen Empfindung, von der sein Feind Vasari gehässig sagte: «Anstatt Verdruss und Anstoss an seinem Spitz­namen zu nehmen, rühmte er sich dessen und dichtete Stanzen und Lie­der auf seine Liebe, die er geschickt zur Laute sang.»

Nun können wir psychologisch verstehen, dass er, wie im Trotz einer starken verwundeten Seele, den Beinamen Sodoma führte, von dem der feinsinnige badische Dichter Heinrich Vierordt den heiligen Vater so huldvoll sagen lässt, und zwar im Angesicht des Bildes vom Hl. Sebastian: er solle fortan sein Ehrenname sein.16 Wie gesagt, es ist psychologisch ver­ständ­lich. Aber zukommen tut ihm dieser mythisch-his­to­ri­sche Name in Wahrheit gar nicht, da er, richtig verstanden, sich auf die Verletzung des heiligen Gastrechtes bezieht – und was hätte das mit unserm Künstler zu tun?! Nennen wir ihn Giovan Antonio,17 wie wir von Leonardo, Raffael und Michelangelo sprechen! Die Könige unter den Menschen sind Per­sön­lich­keiten und nicht Vertreter einer Sippe.

So steht Giovan Antonio vor uns da: ein begeisterter Pro­phet der inneren Harmonie und der Schönheit, der ewig an­mu­ti­gen Holdseligkeit in Verbindung mit ruhig- massvoller Kraft, oft der Pro­phet einer Welt,

«wo der Geschlechter Widerstreit in einer Form gebunden»;18

von Natur zur Heiterkeit veranlagt, den Schelm im Nacken, und doch zartfühlend-weiblich bis in die feinsten Regungen der Seele, oft leidenschaftlich, männlich-ungestüm, gedrängt, wie seine realistische Komposition des öfteren beweist – ein Dich­ter seiner Liebe und seiner Welt, der selbst die Melodien dazu fand, Bildhauer in der Plastik seiner Gestalten, ein feiner und grosser Meister der Malerei und des religiösen Empfindens – ein origineller und genialer Mensch von bleibendem Werte.

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Am Schluss dieser Arbeit sei mir noch eine kurze Bemerkung vergönnt, die allen etwaigen Kontroversen vorgreift.

Ich erwarte keineswegs, dass meine ethischen und kos­mi­schen Grundanschauungen von der Mehrzahl der Leser geteilt werden, im Gegenteil. Ich weiss sehr wohl, dass der Kern mei­ner Weltauffassung – die Weltentwicklung strebe dem Aus­gleich der Gegensätze zu, ob auch mit langen scheinbaren Rück­fällen – der heutigen Anschauung und der meist se­zie­ren­den Forschungsweise widerspricht. Ich weiss wohl, dass die Idee des Araphroditischen19 heute weitaus den meisten absurd erscheinen wird. Das Araphroditische wird den einen als ein Glied in der langen Kette der Übergänge gelten und schroffen Gegnern gar als eine schwächliche Entartung, nicht aber als eine organische Synthese der zwei Grundtendenzen des Lebens, ja – der Welt; also nicht wie ich es auffasse – als fernes Ziel ausserhalb der Welt, die heute noch zum grössten Teil chao­tisch ist. Das ist fast eine Glaubenssache und doch längst kein Hirngespinst, denn alle Gestaltung ist Überwindung des Chaos, je harmonischer, desto endgültiger.

Aber auch die Tatsache, dass weder der Mann an sich (und so die Urninde), noch das Weib an sich (und so der Urning)20 fruchtbar ist, wird nicht so bald den meisten einleuchten. Dass kein Kind ohne Vereinigung von Mann und Weib geboren wird, das wissen wir ja freilich; dass es aber mit allem Schaffen so steht, das ist noch längst nicht allgemein erkannt. «Der Mann ist der Schaffende!» – das hält man den Frauen entgegen, weil sie in der Geistesgeschichte nicht das Bedeutende geleistet haben. Allerdings, das Weib allein nicht, aber auch der Mann allein nicht. Wo sich das weibliche Element mit dem männ­li­chen vereinigt, da entsteht die schöpferische Idee, die sich dann gestalten will, ans Licht der Welt treten und in ihr wir­ken. Es führt zu weit, dass hier noch auszuführen. Ich hoffe das in einem besonderen Werke zu tun.

Sollte man mich angreifen, so bemerke ich hier bloss, dass ich mich bescheide und in diesem Punkte auf keine Kontro­ver­se eingehe, weil mein ganzes Lebenswerk das hoffentlich klar stellen wird und ihm meine Kraft gilt. Von aller frühester Ju­gend au habe ich lebendige Dialoge und Kontroversen geführt, auf sehr verschiednen Gebieten, und bin im Laufe wie­der­hol­ter Erfahrung zur festen Erkenntnis gekommen, dass eine Über­zeu­gung nur da eintreten kann, wo die physiologisch-dyna­mi­sche Entwicklung nahe dran gelangt ist. Ich habe die für mich feste Erkenntnis gewonnen, dass es ein tiefer Irrtum ist, wenn wir annehmen, die Wandlung ginge direkt durch das Gehirn vor sich. Nein, das Gehirn ist, wie ich schon in «Klima und Dich­tung»21 betont habe, nur das Organ, vermittelst dessen wir die gereiften Vorgänge unsrer unbewussten Psyche wahr­neh­men und feststellen. Es gibt auch eine Überzeugungsschwelle. Ich müsste es für töricht halten, jemandem zu grollen, wenn er mich nicht verstehen mag und kann. Auf solche Über­zeu­gung deutet schon ein bekannter Ausspruch Christi hin: «Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.» Und Sophokles hatte eine ähnliche Erkenntnis, wenn er im «König Ödipus» den Gedanken ausspricht, sogar die böswillige Handlung beruhe auf mangelnder Einsicht. Es ist für jeden gut, das im Auge zu behalten und seinen Weg ruhig weiter zu gehen. Was wir er­kennen und erstreben, wird seine Wirkung finden, wenn es ein Vorläufer der Entwicklung ist – andernfalls eben nicht. Habe ich etwas zu verkünden, was sich einmal in Vielen ge­stal­ten soll, so wird es trotz aller Feindschaft und alles Tod­schwei­gens vordringen. Bleibt meine Anschauung wirklich dauernd ver­einzelt oder auf wenige beschränkt, dann wird sie einmal wie ein Komet verschwunden sein. Eine Kontroverse hätte keinen Zweck, ausser dem praktischen, sie zu weiterer Kenntnis zu bringen. Wer Gesundheit und Neigung dazu hat, für den ist das gewiss kein übler Weg. Ich muss leider darauf verzichten und warten, bis in Geschlechtern der Fortschritt «durch den Leib der Mutter» geht, wie ich es am Schluss von «Priesterin Mut­ter»22 ausgeführt habe. Solange wir sterben und geboren wer­den, ist es die Mutter, die der Menge den Fortschritt bringt.

Bibliographie