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Der Prophet der Schönheit und des Glaubens

Wir stehen vor dem Höhepunkte seines Schaffens. Das letzte Mysterium einer zarten und doch starken Seele erschliesst sich dem feinfühligen Beschauer.

1525 muss Giovan Antonio von seiner dunklen Reise in Siena zurückgewesen sein. Am 3. Mai übertrug ihm die Bru­der­schaft der Misericordia von Camollia (einem Stadtviertel in Siena) eine Prozessionsstandarte mit dem Martyrium des Hei­li­gen Sebastian, des Abwehrers der Seuchen und Leiden.1

Dieser Heilige ist nicht einer von den Vielen, sondern bedeutet in jenem Zeitabschnitt der Wiedergeburt ur­sprüng­li­chen Empfindens den tiefsten Ausdruck eines Sehnens, das durch Leid sich zur Ethik der Schönheit und Harmonie des Leibes und der Seele durchringen möchte. Es ist im höchsten Grade lehrreich und erschliessend für die Geschichte der men­schlichen Seele, insofern sie zu einer Vollendung strebt, gerade die Entwicklung der Auffassung dieses Heiligen in der Ge­schich­te der Renaissance bis zu ihrer Versandung im 17. Jahr­hundert zu verfolgen. Diesem unendlich reichen und schwie­ri­gen Studium hab ich mich seit Jahren an Ort und Stelle, in den verschiedensten Städten und Städtchen Italiens unterzogen und hoffe, dass mir einmal die Möglichkeit geboten wird, die kunst-, kulturhistorische und ethische Bedeutung dieser Ent­wicklung mit reichem Bildmaterial denjenigen erschliessen zu können, die für den Gedanken der menschlichen Entfaltung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine regere Teilnahme haben.2 Sankt Sebastian, dieser Schirmer der Leidenden, ist eben dadurch der freundliche Heiland und wird ein Gehilfe des grossen Heilandes Christi, sein apollinischer Genosse, der in der Gesundheit die Harmonie der Schönheit und das Gleich­ge­wicht der Seele spenden möchte.3 Das war ein Vorwurf für unsern Meister, die eignen Leiden seiner feinfühligen Seele, seine Standhaftigkeit und seine Schönheitssehnsucht zu ge­stal­ten. Das ist ihm denn auch meisterhaft gelungen. Sein Heiliger Sebastian (jetzt in den Uffizien) ist der tiefst Empfundene aller der zahllosen Heiligenbilder dieses Namens geworden.

Zu meiner Genugtuung bemerkte ich, dass auch J. A. Symonds4 geahnt hat, dass in diesem Bilde die Versöhnung von Olympia und Golgatha empfunden wurde. Das ist ja die tiefe erhebende Erkenntnis, dass trotz aller Umnachtung der Kultur ein geheimer Strom des Lebens steigend durch die Welt geht, der zwar immer wieder von der Masse aufgesogen wird und sie doch dadurch langsam empor trägt. Oft ist, was ein Wider­spruch scheint, nur scheinbar.

Ein vollendet schöner Mensch nach göttlichem Ebenbilde in der entfalteten Blüte unverhüllter Kraft und Anmut, eine araphroditische5 Erscheinung, steht, an einen Baumstamm ge­fes­selt, in freier Natur. Mächtig drängt es ihn zur Freiheit in all seinen Fibern und Muskeln, noch ist er irdisch gefesselt, aber der tränenumflorte Blick richtet sich von überirdischer Vision erfasst aufwärts, wo ihm ein Bote des Himmels die Krone der Vollendung entgegenträgt. Ein Meisterwerk aller­ers­ten Ranges in dem künstlerisch schönen Ausdruck seelischen Em­pfin­dens!6 Die kraftvolle Darstellung des Leiblichen wird durch eine ätherisch stille Farbengebung in leisen, fast trau­ri­gen Tönen begleitet. Silbergrün ist der Himmel gestimmt, sil­ber­grün­lich sind die Berge, ist das Laub im Mittelgrunde. Da ist sienesische braungelbe Erde mit ihren brandfarbenen Schat­ten. Dumpf ist der von den Stürmen – des Lebens – zer­zauste Baumstamm, der Leib aber ist bei aller Kraft seiner Gestaltung von einer Zartheit der Empfindung, die die feinsten Gefühle wie das feine bläuliche Geäder in den blass-rötlichen Lichtern der Haut durchschimmern lässt. Goldbräunlich sind die Schat­ten, gleichsam «al imbrunire» – bei der Abend-«Bräune» –, wie der Italiener feinsinnig sagt. Der goldgesäumte Schurz ist wie ein Schleier, der den Fluss der Linien nicht hemmt. Die himmlischen Lichtstrahlen scheiden den Heiligen so greifbar von der Welt ab und heben in künstlerischer Weise die Schat­ten­seite der Beine. Die Licht-Aureole des Engels steht auch, gleich einer wirklichen Strahlensphäre vor dem erbleichenden Himmel. Das Haupt, in dessen dunkelblondem weichem Haare silber-goldige Lichter spielen, ist selbst der Spiegel eines er­grei­fenden inneren Gesichtes. Der weh-geöffnete schöne und lebensfrohe Mund mit den schimmernden Zähnen, die be­seel­ten Augen voller Schönheit, Leiden und Glauben – welche lebendige Sprache! Wem da nicht bewusst wird, das er vor der Schöpfung eines tiefen und lauteren Geistes steht, dem seine eingeborene Empfindung und Sendung heilig war, dem bleibt die menschliche Seele ewig ein Buch mit sieben Siegeln.

Hier schuf die Seele des Künstlers, durch törichtes Un­ver­ständ­nis verwundet, ihr eignes wunderbares Spiegelbild. So­lang Menschenwerte bestehen, bleibt dies ein redendes Zeug­nis. Im fast gar nicht bekannten Handzeichnungsarchiv der Uffizien befinden sich auch unveröffentlichte Zeichnungen des Sodoma aus der Sammlung Santarelli; darunter ein leichter, anmutiger Sepia-Entwurf zu einem Sebastian, den er offenbar nicht ausgeführt hat. Ferner vor allem eine interessante Rö­tel­zeichnung zu einem Gemälde, das die Vorbereitung zur Kreu­zi­gung schildert. Sie ist lebhaft dramatisch. Im Vordergrunde rechts (vom Beschauer) wird Christus – eine schöne Er­schei­nung – von rohen Knechten gefesselt und mit ihm der an­mu­ti­ge junge Schächer, dem später die Worte Christi gelten: «Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.» Dieser Schächer er­in­nert an den obigen Sebastian der Uffizien. Auch dieses Werk scheint ein inneres Erlebnis des Künstlers zu sein.

Die Gräfin Priuli-Bon7 ist der Erkenntnis dieses Künstlers unbewusst merkwürdig nahe gerückt. Sie sagt: «Es ist dasselbe Temperament, das wir in dem Hl. Augustin, dem Hl. Fran­zis­kus und Hl. Bernhardin wirkend finden, dieselbe Lebenskraft, die schlecht geleitet den Zügellosen hervorbringt, dagegen ent­sinnlicht und erleuchtet den Heiligen.» Die Verfasserin und mit ihr wohl der grösste Teil all derer, die fest und oft auch wirklich treu im Überkommenen und Erlernten wurzeln, über­sieht hier zweierlei. Aus der Überlieferung irgend einen le­ben­di­gen Weg zu weisen, ist das Wesen des Genius, und es ist Naturgesetz, dass er darob von seinen Mitmenschen gesteinigt, gekreuzigt oder zum mindesten durch Hohn, Spott und Hass gemartert wird. Jeder neue Gedanke ist ja anormal, sonst wäre er in seiner Zeit und seinem Milieu eben nicht neu, sondern allgemeine Norm; und so ist es mit jeder Empfindung, die in ihrer Lauterkeit neu scheint.

Die Italiener haben stets mit dem Pinsel und dem Meissel die Tiefe ihres Geistes und die Fülle ihrer Gesichte offenbart, weit reicher und vorweisender, als in der Dichtung und Prosa.8 Da ist ihr Genie zu suchen. Und so weist uns auch Giovan An­to­nio neue Wege, und nicht er allein.

Wir stehen vielleicht am Anfange einer neuen Wieder­ge­burt, die von Deutschen ausgeht – am Anfange einer deutschen Renaissance des Geistes. Die Boten jener Renaissance waren noch nicht bewusst zur Erkenntnis gekommen,9 dass Golgatha eine Vertiefung von Olympia bedeutet, nicht einen Gegensatz,10 wie Gläubige und Ungläubige es noch meinen, wenn mir auch ein katholischer Geistlicher persönlich versicherte, es sei nicht undenkbar (?), dass die katholische Kirche, wenn die Men­schen erst soweit gereift sind, um es zu verstehen, einmal diese Erkenntnis anerkennen wird.

Der heilige Sebastian, nach meiner obigen Ausführung, steckt in der Tat in Giovan Antonio. Gerad aber, weil er tiefer fühlte, dass diese Verbindung von Olympia und Golgatha nicht wider göttliche Natur streitet, ward er nicht ein mit­tel­al­ter­licher Naturverächter und Asket. Was übrigens jene Heiligen anbetrifft, von denen die Gräfin Priuli spricht, so war ihre Askese keineswegs immer so entsinnlicht, wie sie meint. Der Hl. Franziskus umarmte in seiner Liebessehnsucht Schnee­fi­guren, als wenn es Jünglinge gewesen wären, wie ein Biograph berichtet.11 Warum sollte diese Liebe so gottwohlgefälliger sein?! Da hat der alte deutsche Theologe und Philosoph Ha­mann, wenn auch befangen und noch nicht unterrichtet, ein treffliches Wort gesagt: «Man kann keine lebhafte Freund­schaft ohne Sinnlichkeit fühlen, und eine metaphysische Liebe sündigt vielleicht grober am Nervensaft, als eine tierische an Fleisch und Blut.»12

Auf der Rückseite dieser heiligen Standarte befindet sich ein andres Gemälde, das sehr schön ist, aber natürlich wenig beachtet wurde, eben weil es auf der Rückseite der Leinwand jenes Meisterwerkes gemalt ist. Da ist die Himmelskönigin in einer wolkigen Engelsglorie, die himmlische «Jungfrau», ob­wohl sie ein liebliches Kind auf den Armen hat. Unten knien der Hl. Sigismund, ein sanfter Königsjüngling, und der bärtige Hl. Rochus, hinter ihnen die Brüder der Misericordia von Sie­na, zum Teil mit herabgelassener Kapuze, die nur die Augen frei gibt; so sieht man diese Brüder noch heute Tote und Kran­ke begleiten. Einer von ihnen, der mit offnem Antlitz hin­auf­schaut, ist ein überaus anmutiger Knabe von etwa 18 Jahren. Die Wolke, von der die Jungfrau getragen wird, ver­schwebt in der zarten Landschaft.

1526 malte Giovan Antonio in S. Domenico jene Werke in der Kapelle der Hl. Caterina Benincasa, die ihn wiederum auf dem Höhepunkt religiösen Schaffens zeigen. Da ist vor allem die Vision der Heiligen, deren Leib wie in sich gesunken ist und nur noch von zweien ihrer Nonnen gehalten wird, während ihrem inneren Blick der Heiland der Welt zu Häupten er­scheint. Der Pfeiler hinter ihr löst sich in eine lichte Wolke auf:

 

Schwindet ihr dunklen Wölbungen droben …

 

in hellichtem Gewande schwebt Er daher, dessen Nähe sie fühlt. Es ist der Augenblick, wo die Heilige die Wundmale Christi an sich selbst empfängt.

Kein Künstler der ganzen Renaissance hat diese hin­ge­ben­de Empfindung, diese Vision der empfangenden Seele un­mit­tel­ba­rer in die Gestalt der künstlerischen Erscheinung ver­wan­delt, als Giovan Antonio hier.13 Das erkannte schon sein Zeit­ge­nosse, der berühmte Baldassare Peruzzi, dass dieses Werk eine merkwürdig mystische Tat ist, wo sich das Über­sinn­li­che im Sinnfälligen spiegelt.

Das Bild rechts vom Altar, die Kommunion der Hl. Ka­tha­ri­na, ist nicht so unmittelbar bedeutend, mehr ekstatisch, aber weniger mystisch. Schöne Gestalten hat dieses Bild, so der Engeljüngling, der mit der Hostie – dem Leib Christi – her­ab­schwebt, der Engelknabe neben ihm und der Putto (kleiner Engelknabe), der oben auf dem Gesims des Pfeilers sitzt, die Gottesmutter, die freundlich herabschaut, der kraftvolle Gott­vater, der wie im Windesbrausen hereinschwebt. Die Farben­sym­pho­nie beider Freskoschöpfungen ist aus silbrigen, gol­di­gen und schwarzen Tönen gewoben, still und vornehm wie der Augenblick der Verklärung, die aus Leiden geboren wird. Be­son­ders im ersten Bilde tönt kein anderer Farbenlaut herein. In diesen Werken entschleiert sich auch das weibliche Teil der Seele des Künstlers in tiefster und feinster Weise. Das konnte niemand schaffen, der es nicht gefühlt hat.

In derselben Kapelle links befindet sich noch ein anderes grosses Fresko: Die Rechtfertigung des Verbrechers oder das Wunder der Heiligen. Dieses Gemälde ist eine Symphonie in silberweissen und goldigen Tönen, die weissen gehen leise in Blau, selten in Grün über, die goldigen in rote Töne. Soeben ist auf Erden ein Verbrecher enthauptet. Noch liegt der kraftvolle Rumpf am Boden. Der wilde Henker steckt sein Schwert ein. Ein Mönch hebt das abgeschlagene Haupt empor. Neugierig gaffend drängt sich alles Volk herzu, es muss sich hier drängen, das ist psychologisch seelisch bedingt und begriffen. Aber die Heilige, links im Vordergrunde, ist in heisses Gebet versunken. Und siehe, ihre Gebete dringen gen Himmel. Über dem hellen – hellen Himmel schweben Engel, deren Glieder blass-goldig schimmern, sie tragen schon die Seele des Gerichteten zum Himmel empor, nun ein zartes Knabenfigürchen. Das Gebet ist erhört, das Wunder ist geschehen.

Auch unten herrscht dieselbe Harmonie der Farben, nur in leidenschaftlicheren Akkorden. Ruhig heldenhaft steht neben der Heiligen der Befehlshaber-Jüngling auf seine hohe Lanze gestützt, in silberblauem Röckchen, das warm zu den nackten Beinen stimmt. Und noch lebhafter ist sein rosenrotes Leib­wams. Der zarte weiche Knappe hinter ihm in blassgrünem Wams, der rosenroten Kappe und den goldigen spanischen Hosen ist von scheuer Wärme in den Tönen. Rechts die schöne ergriffene Frauengruppe stört ebensowenig die ganze Far­ben­sym­pho­nie. Der einen Frau, die da kniet, rinnt das weiss-blaue Gewand wie fliessendes Wasser um die Glieder. Hier ist echte Komposition – wie wohl dieses Wort, gegen das sich schon Goethe sträubte, immer etwas plumpes äusserliches hat; wie der Sinn: Zusammensetzung! – das ist aber seelische Zu­sam­men­stimmung, Farbenzusammenstimmung, hohe künst­le­ri­sche Psychologie.

Zwei Heilige malte Giovan Antonio noch im Bogeneingang dieser Kapelle, die Hl. Lukas und Hieronymus; letzterer er­in­nert fast an den alten Anakreon, der sich von seinem Liebling Bathyllos beim Schreiben helfen lässt, während Lukas von einem hübschen schwebenden Engel inspiriert wird. Liebliche schelmische Putten und anmutige Figuren beleben die gemalte Architektur. Das späte, pomphafte Bild von Francesco Vanni, in derselben Kapelle rechts, zeigt erst recht, wie ursprünglich und bedeutend die Arbeit unseres Künstlers ist.

In derselben Kirche, in der Capella del Rosario ist noch ein Gemälde, Gottvater und Heilige, das jedenfalls auf Sodoma zurückgeht, das verrät die Schönheit der Gestalten, so der Hl. Sebastian, der junge Sigismund und die Hl. Katharina. Dies Ölbild ist aber so gedunkelt, dass von einer Farbenwirkung keine Rede mehr sein kann. Auch in der Sakristei ist eine Kir­chen­fahne mit der Madonna in Engelsglorie; die goldig-rosa behauchten Engel beweisen seinen Pinsel, aber das Antlitz der Madonna ist sicher übermalt und verunstaltet.

Giovan Antonio, der Prophet seiner inneren Welt, steht nun vor uns da, so dass wir ihn deutlich erfassen können, tief und seelenvoll, in seiner Art zum Martyrium bereit, ein Ver­künder der Schönheit, die für ihn geklärte Harmonie bedeutet. Oft ist er nervös und dann zuweilen nachlässig in seiner Arbeit – das kann man ihm vorwerfen – aber dann leuchtet wieder seine Kunst um so wärmer und wahrer hervor, wo er seine Kraft anspannt. Fast möchte man von ihm sagen; ein sehr moderner Mensch – wenn dieses Wort nicht so vieldeutig und abgenutzt wäre. Jedenfalls ist er ein höchst fesselnder Mensch, wenn man ihn versteht und die Äusserungen der Kunst als etwas Lebendiges wertet. Seine Kunst beweist uns eben, wie seelenvoll gerade die Schönheit sein kann – sein muss, wenn man sie recht erfasst.

Der Malerfürst von Siena