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Feuer im Osten

Dramatische Szenen aus der russisch-baltischen Revolution in drei Aufzügen

Dieses Theaterstück, erschienen 1908, thematisiert die politischen und gesellschaftlichen Wirren in Estland infolge des russisch-japanischen Krieges 1904–1905 und der nachfolgenden russischen Revolution 1905–1907. Das Stück spielt Ende Juli 1905 auf einem Rittergut in Estland an der Grenze zu Livland (Lettland).

Das Vorwort von Elisàr von Kupffer

Meinem Gefährten im Kampfe
wider das Chaos alles Unpersönlichen,
Dr. Eduard von Mayer

Zum ersten Mal wohl wird das so vielfältige Milieu Estlands, des nördlichsten der drei baltischen Lande, in einem litera­rischen Werke dem grossen deutschen Publikum erschlossen. Der Autor hat daher öfters eingehender werden müssen, namentlich im ersten Aufzuge, als es sonst für die Bühne geworden wäre. Dem Bühnenleiter wird es ja nicht schwierig sein, bei einer Aufführung Stellen fortzulassen, die im Buch kulturpsychologisch ausgemalt werden. Kleinliche Streitig­keiten sind fast stets Vorläufer der Revolutionen und oft ihr Zündfunke.

Zwei etwaigen Einwänden will ich hier vor allem begeg­nen. Erstens ist das Stück chaotisch, ohne einen hervor­ra­gen­den Helden, um den sich das Ganze gruppiert. Das ist aber absichtlich geschehen, einerseits, um den ganzen tragischen Wirrwarr solcher bunter Zeiten und Zustände zu schildern, anderseits, weil das gerade das Wesen dieser revolutionären Zustände ist, dass sie im Gegensatz zur französischen Revo­lu­tion nicht von hervortretenden Persönlich­keiten gelenkt werden. Hätte ich hier solche geschildert, so wäre es hier eine kulturhistorischen Fälschung gewesen. Dass ein derartiges Werk aber doch Bühnenerfolg haben kann, beweisen die «Weber» von Hauptmann, obwohl ich sonst persönlich einen ganz anderen Standpunkt für das Drama vertrete und man mich aus dieser Arbeit als Dichter längst nicht kennt. Aber die Kunst ist keine Schablonenarbeit, ebensowenig wie das Leben. Jemand äusserte superklug, ich hätte nicht die letzten Konsequenzen der Revolution gezogen. Ja – die hat eben die Geschichte noch nicht gezogen. Und dieses Werk sollte ebensowenig eine heroische Menschheitsmythe sein wie ein Detektiv- und Zukunftsroman. Nicht Helden, wohl aber unfreiwillige Märtyrer durfte ich in die Mitte des Interesses rücken, wie vor allem Linda und Baron Friedrich.

Zweitens hörte ich mal den Einwurf, es wäre romanhaft, dass Jaan Walgus, der Inspirator der Aufständischen, gerade ein Bruder der jungen Baronin Linda ist. Dadurch treten eben beide Parteien in Gefühlsbeziehung. Und in einem kleinen Lande, wo das Feld der Tätigkeit ein sehr kleines ist, da ist solcher Zufall durchaus möglich, ganz abgesehen von der Tatsächlichkeit der Vorfalls. Es handelt sich ja nicht um das weite russische Reich, wie ein Unkundiger glauben könnte. Und der Ausgangspunkt jeder Dichtung steht dem Autor frei. Am Ende beruht ja alles im Leben scheinbar auf dem Zufall, und auch in noch so klassischen Kunstwerken. Man denke an Goethes «Iphigenie auf Tauris»! Oder ist es nicht ein gleicher Zufall, wenn nicht ein noch grösserer, dass der Fremdling, der von fern nach Tauris kommt und geopfert werden soll, gerade Orestes, der Bruder der Priesterin Iphigenie, ist? Wäre der Ankömmling nicht eben zufällig Orestes gewesen, die Dichtung hätte umgeschrieben werden müssen. Und der «romanhafte» Zufall in «Romeo und Julia», das sie just verzankte Eltern haben, und dass Julia am Schluss gerade ein paar Minuten zu spät erwacht! Sonst wäre es eben keine Tragödie, sondern ein Lustspiel mit Hochzeit geworden. Ich könnte dies Beispiele ins Endlose ausspinnen, weil der Zufall im Wesen des Lebens liegt. Solche Einwände sind gehaltlos, sobald der Aufbau sonst psychologisch ist. Was einen anspricht, das findet man ja wohl begründet; was man ablehnt, hatte einem nicht gefallen. Der Mangel an Apperzeption ist nicht immer die Schuld des Autors. In unserer chaotischen Welt der Wirklichkeit sind die dümmsten Tragödien in der Ordnung.

Szenen aus dem Stück

1. Aufzug, 6. Auftritt

Linda vermittelnd: Ich bitte Sie, Herr von Bergedorff! Herr Baron!

Körling: In Christi Namen! Sie werden doch nicht streiten wollen?

Baronin Ring: Was gibt es denn? Mein Mann ist so erregt.

Friedrich: Eine kleine Auseinandersetzung prinzipieller Art.

Baronin Ring zu den beiden Herren: Machen Sie doch keine Dummheiten. Wir haben genug Unfrieden. Mein Mann kann kann oft nicht verantworten, was er redet. Sie kennen doch seine Art zu scherzen.

Bergedorff: Das sind sehr komische Scherze, gnädige Frau.

Doktor: Das liebenswürdige Herz des Barons verplaudert sich leicht.

Baron Douglas mit leichter Ironie: Hat ihr Gemahl nicht seinerzeit einen Orden bekommen – für die Honneurs, die er dem Gouverneur machte?

Baronin Ring: Wer wird dann in unsrer Gesellschaft einen kleinen Stanislausorden anlegen! Sie lacht spöttisch. Überhaupt, was brauchen wir Orden!

Frau von Himmelstijerna begütigend: Es ist immerhin eine Auszeichnung.

Baronin Ring: Es gibt sehr tüchtige Männer, die nie einen Orden haben noch brauchen. Sehen Sie unsern Doktor an! In dem Dienste der Menschheit ist er ergraut, und niemand gab ihm einen Orden. Wozu auch! Und unsere ritterschaftliche Exzellenz sie weist auf Baron Douglas hat auch keinen!

Staatsrat gereizt: Wollen Sie denn, Frau Baronin, dem Staate das Recht absprechen, die Dienste seiner Untertanen anzuerkennen?

Baronin Ring: Ach nein, Herr Staatsrat. Aber wenn unsre Tätigkeit uns nicht selbst befriedigt – die Orden werden es erst recht nicht.

Doktor: Die Baronin hat recht. Ich schätze die Freiheit über alles.

General: Ja, ja, Herr Doktor. Sie sind immer der Rote unter uns gewesen.

Linda zu Nikolai: Ist es wahr, dass Sie zur sibirischen Armee einberufen sind?

Nikolai: Ja, gnädige Frau.

Baronin zu Frau Himmelstjerna: Haben Sie keine Nachrichten von ihrem Sohn?

Der Diener hat indessen mehrere Zeitungen gebracht.

Frau von Himmelstjerna: Ja, bei der Ankunft. Unterdessen kann er ja längst gestorben sein.

Körling: Trösten Sie sich, es fällt kein Haar vom Haupt ohne Gottes Willen.

Baronin Ring zur Baronesse: Ihr Bruder ist ja so vertieft. Baron Douglas! Neues vom Kriege? Fesselt Sie das nord­liv­län­dische Quasselblatt?

Baron Douglas setzt die Zeitung ab: Nein, die St. Petersburger Zeitung. Es sind böse Nachrichten.

Mehrere: Was denn? Was denn?

General: Haben wir wieder Schiffe verloren?

Olga: Mein Gott, ist eine Schlacht gewesen?

Baron Douglas: Noch nicht. Aber ich lese hier aus Lettland: Ein grosser Streik ist unter den Arbeitern bei Pernau.

Frau von Himmelstjerna: Aber das wird ja ernstlich gefährlich!

Baron Douglas: In Riga sind heftige Unruhen. Die Seeleute bei Libau meutern. Er überfliegt die Zeitung.

Baronin: In unseren friedlichen, baltischen Ländern? Wer hätte das vor zehn Jahren geglaubt!

Baron Douglas: Der Chef der Polizei in Wilna ist ermordet.

Baronin: Schrecklich! Schrecklich!

Baron Douglas: Die Arbeiter der Brennerei in Unterpahlen haben wilde Forderungen gestellt. Als man sich weigerte nachzugeben … beim Lesen. Da! Der Pastor in Laudohn ist von einer Menge Leuten beschimpft worden. Er sollte eine rote Fahne tragen.

Frau von Himmelstjerna: Mein Gott! Wo soll das enden!

General: Ein rohes Volk, diese Letten in Livland!

Baronesse: Glauben Sie, dass unsere Esten weniger roh sind?

Frau von Himmelstjerna leise zu ihr: Liebe Alexandra, hier sind einige Ohren zuviel.

Ninipu: Wenn die Leute gerechte Forderungen haben, sollte man sie anhören. Es wäre doch billig und christlich.

Körling: Schon, lieber Amtsbruder. Aber Empörung wollen Sie doch nicht gutheissen?!

Ninipu: Empörung ist ein hartes Wort. Die Lage der Leute ist nicht immer die beste. Auch die Worte unseres Herrn und Heilands sind als Empörung ausgelegt worden.

Körling: Aber lieber, lieber Amtsbruder. Was hat unser Herr und Heiland damit zu tun! Gehorche auch der wunder­lichen Obrigkeit! sagt der Apostel Paulus.

Ninipu: Paulus ist nicht immer im Einklang mit seinem Herrn. Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht, sagt Christus, nehmt es auf euch! Und Paulus nennt es zu schwer und bestreitet auch unser Wollen.

Körling: O – o! Das sind Ideen, die unsere lutherische Kirche umstürzen wollen.

Der Diener kommt durch den Saal. Er spricht einige Worte mit dem Herrn von Bergedorff, der gleich darauf durch den Saal nach rechts verschwindet.

Ninipu: Ich glaube, Herr Pastor, die Botschaft Christi steht auf festeren Füssen, als unsre Satzungen es sind. Sie harrt noch in vielem der Vollendung.

Körling nervös: Ja, ja, Sie sehen, Gott straft uns, weil wir am alten Wege irre werden.

Ninipu: Wollen Sie die allgemeine Kindschaft Gottes leugnen?

Körling heftig: Wir sind von Grund auf Sünder! Gehorsam ist unsre erste Tugend: Gehorsam gegen das Gesetz Gottes, Gehorsam gegen die Obrigkeit von Gott.

Ninipu lebhaft: Vor allem Gehorsam gegen unser Gewissen.

Körling: Das Gewissen ist eine dehnbarer Handschuh für unsre lüsterne Hand.

Baronin Ring: Sollte Gott in uns selbst gar nicht sprechen?

Bergedorff kommt erregt aus dem Saal, zurückrufend zum Diener: Meine Pferde! Das! – das – Herr Pastor Ninipu, sind die Resultate ihrer Predigten. Sie haben den Bauern und Arbeitern den Kopf verrückt gemacht mit ihrer Predigt vom reichen Jüngling. Ist das ihre Aufgabe als Seelsorger? Das törichte Volk gegen uns aufzuhetzen?!

Ninipu gereizt: Ich verstehe Sie nicht, Herr von Bergedorff.

Bergedorff: Haben Sie nicht den Leuten den Kommunismus vorgepredigt? Nur der wär’ ein Christ, der alles mit dem anderen teilte? Alles, bis auf den letzen Kopeken. Wir wären alle gleich!

Ninipu: Machen Sie dem Heiland Vorwürfe! Bin ich denn nicht berufen, das Wort Christi zu lehren?

Körling: Ach, Amtsbruder, aber nicht so unverständige Worte, um erhitzte Köpfe zu berauschen!

Bergedorff: Jawohl! Sie predigen ja so den Aufruhr gegen unsre geordneten Zustände. Hämisch. Machen Sie doch selbst den Anfang, Herr Pastor! Mit wachsender Erregung. Verschenken Sie doch, was Sie besitzen! Sie wohnen immer noch tausendmal vornehmer in ihrem Pastorat als der Bauer, der ihr kleines Kartoffelland ackert. Nicht?! In der Bibel steht auch von den Aposteln geschrieben: Ihr sollt barfuss gehen, mit einem Stecken, und keine Schätze haben! Ihr Vater war Koch, aber mir deucht, Sie gleichen mehr den verfluchten Aristokraten, die Sie bekämpfen!

Frau von Himmelstjerna während alle in peinlicher Erwartung dastehen: Herr von Bergedorff – etwas sanfter!

Bergedorff: Soll man noch dann wie ein Vogel piepsen, wenn einem das Nest in Brand gesteckt wird!

Baronin: Wie sagen Sie? Was ist denn geschehn?

Bergedorff: Ein berittner Bote aus Mäggimois meldet mir eben, dass man in meiner Abwesenheit die Scheune angezündet hat, wo ich eben das Heu untergebracht hatte. Ja, ich weiss, dass man es mir angesteckt hat! Die Leute hatten auf meiner Wiese gemäht, auf meiner Wiese! – Verstehen Sie? Natürlich fuhr ich mein Heu in meine Scheune. Schon voriges Jahr ward meine Scheune angesteckt. Ich konnte es nicht nachweisen. Jetzt kenne ich die Schufte!

Körling: O, o, was sind das für Zustände bei Ihnen! Zu Ninipu. Mein lieber Amtsbruder, Sie müssen den Leuten ins Gewissen reden, aber ernstlich!

Ninipu: Sie werden doch nicht behaupten wollen, dass ich die Leute angestiftet habe!

Linda lebhaft: Nein, Herr Pastor, wer wird das glauben!

Baronin Ring: Ich gewiss nicht.

Ninipu: Ich danke Ihnen.

Bergedorff: Es muss was geschen. So geht’s nicht mehr weiter. Seit die Regierung uns die Gerichtsbarkeit aus den Händen gerissen hat, schwillt den Leuten der Kamm.

Der Staatsrat richtet sich auf.

Bergedorff: Man hat das Estenvolk gegen uns Deutsche aufgehetzt. Ja, Herr Staatsrat. Die Regierung büsst das jetzt. Man kann nicht vom Sinai aus die Welt regieren. Das Volk muss in der Nähe eine Autorität haben.

Staatsrat erregt: Die Regierung muss doch etwas versuchen können.

Bergedorff: Jawohl, bei uns war mehr Ordnung als im gesam­ten Reich. Unsere Bauern waren ein halbes Jahr­hundert vor den Russen frei. Lesen und schreiben können sie bei uns zehnmal mehr. Die Leute sind trunken, was wollen sie noch! Schöne Resultate! Jetzt tut es Not, energisch zu werden. Sonst fressen die Schweine bald in unsern Gemüsegärten.

Baronin: Ja, Energie tut schon Not, damit das böse Beispiel nicht ansteckend wirke.

Bergedorff: Jawohl, das Unkraut muss ausgerottet werden. Ja, Herr Staatsrat, sonst geht es wie mit dem wilden Senf auf unsern Feldern, der die junge Saat erstickt. Mehr zu Ninipu. Das gleisst auch so in der Sonne, dieses neidisch gelbe Kraut.

Frau von Himmelstjerna: Ja, was wird uns noch übrig bleiben!

Bergedorff: Widerstand bis zum äussersten. Schwäche ermutigt die Bestien. Fest zusammenhalten und alles ablehnen! Strengste Bestrafung ungesetzlicher Handlungen!

Baron Ring: Damit werden Sie das Volk nur wild machen. Man muss doch mit der Psyche der Menschen rechnen. Vor vierundzwanzig Jahren passierte mir da ein Abenteuer. Mein Vater und ich waren auf einer Elenjagd gewesen. Es war Winter. Auf der Heimkehr hatte sich plötzlich ein Rudel Wölfe um unsren Schlitten geschart. Mein Vater spannte seinen Karabiner. Eins, zwei, drei! Die Bestien wälzten sich im Schnee. Aber mit verdoppelter Wut rasten die andren neben uns her. Jeden Augenblick konnte ein Pferd zu Fall kommen, da ziehe ich unsre Jagdbeute hervor, schleudere sie über den Schlitten nach hinten hinaus. Die hungrigen Tiere stürzen sich über das Wild her! Wir jagen davon. Wir waren gerettet.

Linda: Hu! Eine gruselige Geschichte!

Baron King: Sehr ähnlich ist es mit der losgelassenen Meute des Aufruhrs. Wir müssen ihnen einen Bissen hinwerfen, sonst werden wir sie immer auf dem Hals haben. Wir können Versprechungen machen, die Leute wollen Ver­sprech­ungen. Von Fall zu Fall müssen wir paktieren. Es baucht doch nicht alles in Erfüllung zu gehen.

Ninipu: Damit werden Sie die Leute reizen, Baron. Das sage ich Ihnen im voraus. Enttäuschte Hoffnungen machen die Herzen bitter, machen sie hart.

Friedrich: Ja der Pastor hat recht. Das ist ein gefährliches Spiel. Wenn die Leute so von Fall zu Fall mit uns rechten, wenn sie nur alles erzwingen, was zu ihrem Besten dient, so werden sie um so mehr glauben, dass wir es nicht gut mit ihnen meinen. Im Gegenteil, wir müssen es sein, von denen die Besserung ausgeht. Unsre Leute müssen fühlen, dass sie es mit Freunden zu tun haben, die aber auch mit den realen Verhältnissen des Landes rechnen.

Linda drückt ihm die Hand.

Baroninn Ring: Wohl gesprochen, Baron Friedrich. Ich wundere mich oft nicht, wenn die Arbeiter murren. Glauben Sie, dass ich zufrieden wäre, immer und immer nur eine Kurbel zu drehen! Seine Freude am Leben will doch jeder Mensch.

Körling: Aber liebe Baronin, Genuss ist doch nicht das einzige Ziel unsres Erdenlebens.

Baronin Ring: Verehrter Pastor Körling, um unsre Seele zu bilden, brauchen wir Zeit und Geld. Ohne sein Teil Freude wird der Mensch schlecht. Ist es Ihnen nicht eine Freude, unter ihrer Gemeinde zu wirken?

Körling betreten: Nun – ja – natürlich, liebe Baronin.

Baronin Ring: Besonders die Fabriken, die wir fördern, sind Tretmühlen des Geistes. Erzwungene Arbeit treibt den Menschen zum Rausch – zum Schnaps! Wer nichts mehr zu verlieren hat, wird unser Feind. Ich würde kaum anders denken.

General: Sie reden etwas anarchistisch, Frau Baronin.

Baronin Ring lacht: Ich denke, wenn man unter seinen Ahnen die Königin Maria Stuart und einen Ungarkönig zählt, braucht man diesen Vorwurf nicht zu fürchten.

Bergedorff: Damit halten wir nicht stand, wenn Bauern und Arbeiter uns zu Leibe rücken.

Baronesse: Allerdings! Dis schönen Phrasen steigen den Leuten zu Kopf. In Reval führen sie den «Wilhelm Tell» auf.

Bergedorff: Der Schiller, das ist Ihnen bloss der Aufruhr!

Staatsrat: Sie vergessen, dass unsere Regierung doch Mittel hat, solchem Gesindel zu Leibe zu gehen. Haben Sie doch keine ernste Besorgnis. Man wird Ihnen zu Hilfe kommen, wenn es wirklich Not tun sollte.

Bergedorff: Wie lange sollen wir warten! Wer gibt mir meine verlorene Ernte wieder?

Staatsrat: Der Staat kann doch unmöglich Privatschaden ersetzen.

Bergedorff: Das nennen Sie Privatschaden?! Aufruhr ist’s!

Staatsrat: Dafür gibt es Soldaten.

Baron Douglas: Meine Herren! Die Situation ist kritisch. Aber mit Überlegung können wir ihrer Herr werden. Noch sieht der Bauer in uns den angestammten Herrn.

Bergedorff mit einem Seitenblick auf Ninipu: Ja, wo er nicht verhetzt ist, Herr Landrat.

Baron Douglas: Tatsache ist, dass die Regierung vollauf zu tun hat. Das Recht der Selbstverteidigung fällt an uns zurück. Wir müssen eine Landwehr bilden zu unsrem eignen Schutz.

Friedrich lebhaft: Sie haben recht, Baron. Wer fremde Hilfe anruft, sät Misstrauen. Die Leute werden schon einsehen –

Bergedorff: Einsehen? Ha! Wie weit Sie damit kommen?

General zu Freidrich: Wie geht es denn mit ihrer vergrösserten Spritfabrik.

Friedrich macht eine indifferente Gebärde.

Bergedorff: Geben Sie nur acht! In jedem Augenblick können die städtischen Arbeiter sich anschliessen.

Der Diener erscheint.

Die Gäste bestellen nach und nach ihre Pferde.

Bergedorff: Ich muss heim, man setzt mir sonst den roten Hahn aufs eigne Dach. Da sollen sie mir aber ’rankommen! Zur alten Baronin: Gute Nacht, gnädige Frau! Er küsst Ihr die Hand. Dann zu Linda, die nachdenklich dasteht: Auf Wiedersehen, junge Frau! Kopf hoch! Er geht durch den Saal, wo es zum Vorzimmer führt.

Baronesse: Wir müssen auch aufbrechen, liebe Frau von Kurküll, Gott bewahre uns alle – zu Linda – und ihr Kindchen!

Diener in der Saaltür: Die Kiwwipäh- und Mannajöggipferde!

Baron und Baronesse Douglas werden von Linda hinausbegleitet.

Diener: Des Mooni-Kirchenherrn Pferde!

Baronin zu Ninipu: Nicht wahr, lieber Pastor, Sie werden hinfort etwas vorsichtiger sein?

Ninipu: Gnädige Frau, ich werde gewissenhaft handeln.

Baron und Baronin Ring und Ninipu verabschieden sich.

Friedrich begleitet sie hinaus.

Diener: Arro und Heidemetz! Er geht ab.

Baronin zu Frau von Himmelstjerna: Sie sind jetzt so allein auf dem Gut mit ihrer Tochter. Es ist jetzt nicht recht geheuer.

Frau von Himmelstjerna: Man wird so apathisch. Ich fürchte für nichts mehr.

Körling: Recht so! Wir sind überall in Gottes Hand.

General und sein Sohn Nikolai, Frau von Himmelstjerna mit ihrer Tochter Olga gehen aus dem Salon hinaus.

Baronin begleitet sie.

Körling, Doktor und Staatsrat bleiben.

2. Aufzug, 5. Auftritt

Siegmund: Was wünschen der Herr Baron?

Friedrich: Siegmund – ich habe sehr unliebsame Dinge erfahren. Die Leute beschweren sich. Sie sollen geschlagen haben.

Siegmund: Ach was, Herr Baron! Das Volk ist immer unzufrieden.

Friedrich: Das war’s nicht immer –

Siegmund: Und wie soll man mit diesen rohen Kerlen fertig werden?

Friedrich: Das ist leicht sagen! Nein, nein Siegmund, das dulde ich nicht. Das darf nicht sein. In unseren Zeiten geht das nicht.

Siegmund: Ach, das ist doch ein halbwildes Volk! Das pariert sonst nicht Order.

Friedrich: Spielen Sie hier nicht den Kultureuropäer, Siegmund! Wir sind hier nicht in Kamerun, noch auf der Teufelsinsel. Das braucht der Deutsche nicht. Sehen Sie, ich bin ein Edelmann von altem deutschen Blut, echter als ihr halbes Reich. Seit sechs Jahrhunderten steht unser Geschlecht auf baltischem Grund und Boden, wo wir Herrscher waren – ich schlage die Leute nie.

Siegmund: Und Sie werden auch hübsch aufsässig, Herr Baron.

Friedrich noch nervöser: Der verdammte Kulturhochmut hat uns auch zu Irrtümern verführt. Ich will aber weiter keinen Anlass geben. Richten Sie sich danach, Siegmund! Beamte, die mich schädigen, muss ich entlassen. Gehen Sie!

Siegmund: Zu Befehl, Herr Baron. Er geht nach rechts ab.

Friedrich geht gleich darauf links hinein.

Gärtner beleibt einen Augenblick allein auf der Bühne, mit der Hecke beschäftigt.

Linda kommt von links, in hellem Sommerkleid, ihr Kindchen ganz eingewickelt auf dem Arme tragend. Sie geht zur Bank unter dem Eichenbaum.

2. Aufzug, 12. Auftritt

Linda: Ans!

Ans: Freut sich die Frau, mich gebunden zu sehn?

Linda: Schäm’ dich! Es tut mir leid, dass ihr uns dazu gezwun­gen habt.

Ans: Sie werden’s schon der Herrschaft heimzahlen.

Linda: Lass doch die hässlichen Drohungen, Ans! Ich meine es wirklich gut mit dir – mit euch allen.

Ans lacht.

Linda: Was lachst du so hässlich? Ich kann dir helfen Bursche!

Ans wird aufmerksam.

Linda: Ja – aber du musst mir versprechen …

Ans lebhaft: Was will die Baroninfrau?

Linda: Du kommst aufs Gericht. Dann wirst du verurteilt. Du kommst ins Gefängnis. Das sitzt dein Lebtag auf dir. Du wirst dann nie mehr ein ordentlicher Mensch. Du bist noch noch jung, Ans. Du lässt dich verleiten. Hör’ auf mich! Willst du es mir versprechen? Dann – dann lass ich dich frei.

Ans: Schnell, schnell! Baroninfrau. Der Herr kann wieder­kom­men. Der alte Gärtner schmeichelnd lässt die Frau mich frei. Goldige Frau!

Linda: Nun bist du klein, Ans. Siehst du wohl, du liebst die Freiheit. Es tut dir leid, dass du so getan hast? Du willst nicht mehr mit den andern mithalten? Du willst ihnen sagen, das sie Unrecht tun? Versprichst du das, Ans?

Ans: Was die Frau will. Goldne Frau!

Linda: Glaubt dein Herz auch, was deine Zunge spricht?

Ans: Wohl, wohl, Baroninfrau! Lasst mich doch schnell los! Ach, goldne Frau!

Linda: Bei der Liebe zu deinem Volke – deiner Mutter Liebe, Ans! Du wirst dein Wort halten?

Ans geängstigt, lebhaft: Wohl, wohl, Baroninfrau!

Linda bemüht sich, die Fesseln zu lösen.

Ans: Ach, es geht nicht! Der Satansgärtner hat mich zu fest geschnürt.

Linda: Nicht fluchen, Ans! Es wird schon. Sie bückt sich nach dem Taschenmesser, das dem Ans vorhin bei der Fesselung entfallen ist.

Walgus bricht sich in demselben Augenblick durch die Hecke Bahn und schneidet mit seinem Messer die Schnur hastig durch.

Ans entschlüpft sofort durch die Hecke.

Linda sieht Walgus erstarrt an und lässt das Messer fallen: Sie – Sie hier?

Walgus: Sollte ich da ruhig zusehn? Seit gestern geh’ ich be­sorgt um das Haus. Wie ich vom Feld komme, hör’ ich hier einen Schuss, sehe drei Kerle davonrasen. Ein Schuss! Mein Gott, ist man schon so weit?

Linda: Seit wann ist Jaan Walgus um uns besorgt?

Walgus: Wenn einer von den Leuten gefallen wäre! Es könnte das Signal zu einem allgemeinen Aufstand werden. Die Gemüter sind erregt.

Linda: Und das ist mit das Werk – meines Bruders?

Walgus zuerst lebhaft: Nein, nein! – Baronin – Linda! das heisst mich zu hoch einschätzen. Ich hätte so wenig wie andre vermocht, wäre das Volk nicht längst unzufrieden. Linda – meine Schwester, weiss ja nicht, wie mir mein Volk am Herzen liegt – meine Schwester, die ein Glückszufall in die Höhen unserer Herrschaft führte! Meine Schwester liebt ihr eigens Blut nicht mehr. Mit betonender Leidenschaft, ab und zu unwillkürlich ein hartes Deutsch redend. Die kurküllsche Baronin verachtet das rohe, ungebildete Volk. Aber wer zwang unser Volk, in dieser Tiefe zu bleiben? Wessen Faust hielt uns absichtlich im Dunkel, im Dreck von Halbwilden? Die Freunde, die Genossen der kurküllschen Baronin – meiner Schwester!

Linda: Hör auf, Bruder! Du tust mir Unrecht, Johannes.

Walgus: Verachtest du den Namen Jaan, weil er unser ist, den plumpen Jaan Walgus?

Linda: Nein, Jaan, ich verachte ihn nicht.

Walgus: Ich sah meine Schwester ein Werk der Befreiung an ihrem Volk vollziehn. Zu Hilfe musste ich ihr! Wie hervorbrechend. Linda! Hast du denn nie gesehn, wie unser Volk in den Hütten lebt? Hast du’s nie gemerkt, wie man auf uns herabblickt? Hat sich dein Blut nie empört, wenn du von Pack und Pöbel sprechen hörtest? Du warst drei Jahre, als dich der Hofrat nahm. Entsinnst dich nicht mehr des Spittels, wo unsre Mutter starb? Weisst nicht mehr das dein Vater ein Arbeiter war? Ein Trinker, hiess es. Armut und Rohheit ihres Lebens treibt viele zum Trunk.

Linda: Ich kann es nicht mehr hören!

Walgus: Wohl kann ich mir denken, dass es deinen Ohren hart klingt. Aber soll’s immer und ewig so bleiben?

Linda: Was willst du denn? Es können doch nicht auf einmal alle Herren und Grossbesitzer werden? Es geht doch nicht.

Walgus: Warum soll denn unser Volk immer davon aus­ge­schlos­sen sein? Der russische Bauer hat wenigstens einen russischen Herrn.

Linda: Bester Jaan, der russische Bauer hat es schlechter als unsrer. Der russische Herr ist kein Landmann. Lebt nicht mein Mann auf dem Land unter seinen Leuten? Arbeitet er nicht auch alltäglich? Er geht auf die Felder, sieht überall nach, denkt, wo er neue Erwerbsquellen schaffen kann. Du tust ihm Unrecht. Wo das ganze Land im Krieg ist, nutzt ihr die Unruhen zu ungerechten Handlungen aus.

Walgus: Sollen wir warten, bis die Faust wieder gepanzert auf uns liegt? Unzufriedenheit ist im ganzen Reich.

Linda: Und noch mehr als bei uns. Bomben sind bei uns noch nicht geworfen worden. Soll es noch dahin kommen?

Walgus: Du hättest eine Aufgabe. Red’ deinem Manne zu, dass die Herren uns entgegenkommen! Hab’ keine Angst, Linda, dass ich dir zur Last fallen will mit meiner Verwandtschaft. Nur wenige wissen darum. Und die werden schweigen.

Linda: O, du verachtest mich, Jaan.

Walgus: Es könnte eine Stunde kommen, Schwester, wo es dir nützt, einen Bruder unter dem gemeinen Volk zu haben.

Linda: Rede doch nicht so! Glaubst du, ich wäre so klein, mich selbst in meiner Herkunft zu verachten? Glaubst du das?

Walgus etwas misstrauisch: Wir kennen uns nicht.

Linda verletzt, erschauernd: O, ich merke, welch ein Hass aus deinen Worten spricht. Wärmer. Bruder, rede doch den Leuten vernünftig zu. Sie hören auf dich!

Walgus: Wer weiss!

Linda: Willst du warten, bis es zu spät ist?! Friedlich werden sich die Dinge wandeln.

Walgus finster: Glaubst du?!

Linda: Lass uns wenigstens alles dazu tun! Versprich es mir! Sie horcht auf. Die Tür ging! Wenn – jetzt …

Walgus bitter: Ich verstehe …

Linda unwillig: Wie du es auslegst!

Staatsrat Schnitter erscheint links auf der Veranda.

Linda unruhig: Mein Pflegevater!

Walgus geht auf die durchbrochene Stelle der Hecke zu, wo er hereinkam.

Linda hastig: Nein! Geh ruhig zur Pforte hinaus!

Walgus mit leichter Ironie: Nein, du sollst keine Schande haben.

Staatsrat wird auf beide aufmerksam.

Linda energisch: Nein! Zur Pforte! Ich will nicht, dass du hier wie ein Dieb durchschleichst. Sie reicht ihm die Hand, die er fest ergreift.

Walgus schaut ihr mit sichtlicher Bewegung in die Augen.

Linda: Wo kann ich dich finden?

Walgus bewegt: Schwester! – Wenn ich nicht schon fort bin, in Heidemetz. Lebwohl!

Linda schliesst das Gatter auf, dumpf: Lebwohl!

Walgus geht hinaus.

Linda schliesst wieder.

Staatsrat tritt in den Garten. Er räuspert sich, wie wenn ihm was in der Kehle steckte.

3. Aufzug, 6. Auftritt

Baronin: O Kind, Kind!

Alle treten in die Veranda herein.

Baronin: Herr von Bergedorff!

Bergedorff: küsst die Hand und begrüsst die andern beiden Herren.

Baronin: Denken Sie! eben komme ich von der Grabstätte meines Mannes. Man hat sie verwüstet, bestohlen!

Bergedorff spöttisch zu Friedrich: Da haben Sie ihre Menschen!

Linda statt ihres Mannes: Schlechte gibt es überall.

Friedrich nimmt seine Mutter den Mantel ab.

Baronin mehr zum Sohne: Ich bestelle noch heute einen neuen Kranz. Der Gärtner wird morgen neue Blumen hinbringen. Ausserdem werde ich einen Wächter aufstellen lassen, bis wir wieder in Ordnung sind. Zu Bergedorff. Und wie steht es bei Ihnen?

Alle setzen sich.

Bergedorff. Weiter ist nichts vorgefallen. Es war auch genug.

Baronin sieht nach der Uhr: Es ist schon etwas spät geworden. Aber wollen Sie nicht doch eine Tasse Tee mit uns trinken, lieber Bergedorff?

Bergedorff: Mit Vergnügen, Frau Baronin.

Baronin zu Linda: Es muss doch alles längst bereit sein?

Linda steht auf und schellt an einem Glockenzuge.

Baronin zu Bergedorff. Wir sind hier im hellsten Aufruhr.

Bergedorff: Ich weiss schon.

Staatsrat: Militär ist berufen. Jeden Augenblick muss es arrivieren.

Bergedorff: Bravo, das war doch vernünftig!

Diener tritt auf.

Linda gibt ihm eine Anweisung.

Diener geht bald darauf wieder ab.

Staatsrat: Ich hab’s meinem Schwiegersohn gleich geraten.

Bergedorff zum Staatsrat. Baron von Kurküll glaubt immer noch an die höhere Vernunft dieser Kerle.

Baronin: Den Doktor trafen wir unterwegs. Haben Sie aus Arro neue Nachrichten?

Doktor: Nein. Heute morgen war ich in Jöggimäggi, wo die Aina krank ist.

Friedrich: Es wird wohl nicht so schlimm sein. Baron Ring ist immer so gefährlich mit seinen Kindern.

Diener kommt mit einem grossen Teebrett, auf dem eine Tee- und Wasserkanne, Butter- und Zuckerbrote, Gebäck, eine Schale mit Obst und kleine Teller stehen.

Linda nimmt ihm das Tischtuch vom Arm und breitet es auf dem Tisch links, wo sie sitzen.

Diener stellt die Sachen geordnet darauf und geht wieder ins Haus.

Linda giesst ein und bietet an.

Doktor: Lassen Sie ihren kleinen Bodo nur recht in Luft und Licht gedeihen. Die Furcht vor diesen Heil- und Lebens­faktoren ist geradezu mittelalterlich.

Baronin: Sie haben immer so kleine Neuerungen, Herr Doktor.

Friedrich: Sie vertreten den Fortschritt bei uns.

Bergedorff räuspert sich missbilligend: Hm – m.

Linda mit Bezug darauf: War der Tee zu stark?

Bergedorff: Nein, nein, gnädige Frau. Ich kann schon was vertragen.

Man hört einen Wagen.

Linda springt auf, überhaupt macht sie sich oft zu schaffen, wie um eine innere Unruhe zu verbergen: Die arroschen Pferde!

Baronin: Wo steckt denn der Jürri!?

Linda eilt hinaus.

Friedrich ihr nach.

Frau von Himmelstjerna kommt mit ihnen die Stufen herauf. Sie ist gleichsam in ihren schwarzen Kreppschleier gehüllt.

Alle erheben sich.

Baronin geht auf sie zu.

3. Aufzug, 11. Auftritt (Schlussszene)

Staatsrat am Fenster: Ja, ja, ja! Ihr sollt was erleben!

Linda wie zu sich selbst: Dass es dahin kommen musste!

Bergedorff: Das wird eine gute Lehre für sie sein.

Baronin: Dass ich das noch auf meine alten Tage erlebe! Auf unsrem Gute! Wo wir doch im besten Einvernehmen lebten!

Staatsrat droht hinaus gegen das Fenster: Ja, kommt nur, kommt nur!

Walgus hat jetzt seinen Standpunkt auf der Treppe erobert und wendet sich gegen die Menge: Ihr könnt doch nicht ernstlich erwarten, das der Baronherr euch seinen Meister ausliefert!

Tödik: Er hat ihn nicht entlassen, wie wir wollten.

Walgus: Darüber könntet ihr noch verhandelt haben.

Tödik: Ha! Da können wir lange warten!

Mart: Ho! Sie werden uns schon fürchten!

Walgus: Schämt euch, wie ihr mit dem alten Doktor gewesen seid!

Mart: Der gehört auch zu den Herren!

Jürri: Das war der Rachul aus dem Moonschen, nicht wir!

Mart: Er soll mich wieder anstellen!

Tödik: Ja, und den Meister ’rausgeben!

Mart: Und was wir fordern. Wir sind hier viele, wir können’s!

Staatsrat drinnen, zu Bergedorff, indem er auf Walgus deutet, der sich gegen die Nordseite des Himmels, die noch erhellt ist, abhebt: Das ist der Haupträdelsführer! Der schwatzt ihnen den Kopf heiss.

Bergedorff: Solch ein Jung-Este!

Walgus aussen zu den Leuten: Lasst mich statt euer mir dem Herrn reden.

Mart höhnisch: Jawohl! Das willst du. Du willst dich bei der Herrschaft einschmeicheln. Du glaubst wohl jetzt auch, ein Herr zu sein? He?

Walgus hitzig: Hast du ein Recht, mich zu verspotten, dummer Bursch’?!

Mart: Du glaubst wohl, klüger zu sein, weil du bessre Kleider hast, weil du kein Arbeiter mehr bist?!

Schafranoff tritt, während des letzen Wortwechsels draussen, aus dem Hause, gefolgt von fünf seiner Soldaten, die militärisch grüssen, und die er mit einigen stummen Befehlen an jedem Fenster der Veranda aufstellt.

Baronin zu Schafranoff: Wünschen Sie Licht?

Schafranoff: Es ist besser so. Wir sehen was draussen vorgeht.

Bergedorff zu Schafranoff, auf Walgus deutend: Da! Da! Das ist der Hauptanstifter der Bande!

Linda befindet sich in höchster Aufregung.

Mart draussen: Hört nicht auf ihn! Jan Walgus verrät uns.

Tödik und Andre wütender: Ach, der Satan! Weg da! Sie dringen auf Walgus los, der auf die oberste Stufe bis an die Tür tritt.

Drinnen glaubt man, Walgus wolle hereinbrechen.

Schafranoff zu den Soldaten: Den brauchen wir lebendig! Fasst ihn. Gewehr bereit. Er schliesst hastig die Tür auf.

Zwei Soldaten packen Walguss und ziehen ihn herein, die andren stehen mit geladenem Gewehr bereit. Die Leute stutzen in dem Augenblick, wo sie Uniformen zu erblicken glauben, und treten zurück. Schafranoff schliesst die Tür. Während er jetzt den Soldaten Befehl erteilt, zieht sich die Menge draussen murmelnd zurück.

Jürri gedämpft: Soldaten?

Andre: Soldaten!

Die Menge verschwindet für einige Zeit.

Schafranoff: Bindet ihn!

Walgus wird leicht gefesselt.

Schafranoff: So. Obacht!

Drei Soldaten stellen sich wieder an die Fenster, zwei zu Seiten von Walgus, der mit gespanntem Selbstbewusstsein auf der rechten Seite der Veranda steht. Der Offizier steht vor ihm. Links vorn die Baronin, Friedrich, der Staatsrat und Bergedorff. Links mehr zurück verharrt in fieberhafter Aufmerksamkeit Linda. Auch Friedrich ist höchst unruhig. Er wirft dem Walgus im Laufe der Verhörs Blicke zu, von einer kurzen Gebärde der Hand begleitet, die ihm sagen soll: Um Himmels willen, verschlimmern Sie ihre Lage nicht!

Schafranoff: Wie heisst du?

Walgus: Jaan Walgus.

Schafranoff: Wie wagst du es, den Aufruhr anzustacheln?

Walgus: Das habe ich nicht getan.

Schafranoff: Wie, du hast es nicht getan?! Ich habe doch selbst gesehen, wie du an der Spitze der Bande dort vordrangst!

Walgus: Ich habe sie nicht dazu getrieben, noch sie geführt. Das täuscht dich!

Schafranoff aufgebracht: Dich? Was fällt dir ein, mich zu duzen?

Walgus: Dieselbe Frage richt’ ich an Sie.

Schafranoff: Noch besser! Ein Volksverhetzer verlangt, dass man ihn als Herrn behandelt!

Walgus: Ich bin ein freier und gebildeter Mann.

Bergedorff fährt lebhaft dazwischen: Gebildete Männer verhetzen das Volk nicht!

Walgus: Mein Ziel und meine Aufgabe sind die Bildung des Volkes. Gewaltsame Empörung habe ich nicht gepredigt.

Staatsrat: Das waren aber doch recht gefährliche Ideen, die Sie uns neulich vortrugen, und dem Volke haben Sie das alles ganz anders mundgerecht gemacht.

Schafranoff: Sie nennen sich einen gebildeten Mann. Sie wissen, dass wir in einem Zustand leben, der solche Reden und Taten doppelt gefährlich erscheinen lässt. Wir haben die allerstrengsten Weisungen gegen solche Unruhestifter. Man wird Sie nicht mit Handschuhen anfassen. Was ihre Bande sündigt, werden Sie büssen müssen.

Walgus: Ich werde mich verantworten können. Sie werden das Volk nur reizen. Ich warne Sie.

Schafranoff: Diese Drohungen schaden Ihnen nur.

Friedrich nervös vermittelnd: Er meint es damit nicht so, wie es klingt. Die Erregung – drückt es schroffer aus.

Bergedorff: Aber die Tatsachen! Zu Schafranoff: Ach, machen Sie kurzen Prozess!

Schafranoff mit Ruhe: Ich werde meine Pflicht nicht versäumen. Mehr kann und werde ich nicht. Die Sache ist ernst. Ich werde Sie dem Rigaer Kriegsgericht übergeben.

Linda tritt erschreckt einen Schritt nach rechts vor: Kriegsgericht?! Aber – untersuchen Sie doch erst! Es – kann ja nicht sein …

Friedrich wie wortlos: Nein – ich denke …

Schafranoff zu Linda: Frau Baronin, im muss leider nach meiner Order handeln. Ich bin berufen, Ruhe zu stiften. Die Seele der Unruhen muss zuerst getroffen werden.

Man hört draussen wieder Lärm. In der Veranda ist es ziemlich dunkel gegen den Schluss dieses Verhörs. Überhaupt geht die Dämmerung sehr allmählich vor sich, wie es besonders nördlichen Gegenden eigen ist.

Bergedorff: Die Bande rückt wieder an!

Schafranoff zu den Soldaten: Obacht auf die Fenster!

Die beiden Soldaten die zu den Seiten von Walgus standen, wenden sich ebenfalls den Fenstern zu.

Linda nähert sich im Dunkeln ihrem Bruder Walgus; sie hat ein geöffnetes Federmesser in der Hand.

Baronin tritt mehr nach rechts, um etwas draussen von der Menge zu erspähen.

Ein Flasche kracht rechts durch die Scheiben herein.

Baronin tritt erschreckt zurück: Mein Gott! Das Fenster – zertrümmert!

Friedrich drängt sie beiseite: Zurück, Mama!

Wieder kracht eine Flasche herein.

Staatsrat: Heiliger Nepomuk!

Schafranoff zu den Soldaten: Scharf zielen. Wenn noch eine Flasche kracht, schiessen!

Walgus steht dumpf brütend dicht an der Tür.

Linda ist dicht hinter ihn getreten; während der folgenden Worte und der allgemeinen Aufregung schneidet sie die Schnur hinten durch.

Staatsrat zu Schafranoff: Geben Sie doch erst schnell Schreckschüsse ab!

Schafranoff zu den Soldaten: Erst über die Köpfe weg schiessen!

Ein Fenster und die Tür werden leise geöffnet.

Die Soldaten geben Schüsse ab.

Walgus flieht nun hinaus.

Bergedorff der es zuerst bemerkt und gar kein Interesse an dessen Rettung hat: Der Mann ist raus!

Die Leute empfangen Walgus mit Geheul.

Mart: Schlagt den Verräter tot! Schlagt ihn tot!

Friedrich entsetzt: Sie töten ihn noch!

Linda: Mein Bruder! Sie stürzt hinaus, wie in instinktivem Trieb, ihn zu retten.

Im demselben Augenblick knallen ein paar Flaschen herein und fallen Schüsse, wie den Soldaten die Order gegeben war.

Friedrich stürzt seiner Frau nach.

Staatsrat ausser sich: Linda!

Schaffranoff ruft den Soldaten zu: Halt!

Soldat zu dem Offizier: Fsje ubjeshali, wasche blagorodije! (Alle sind geflohen, euer Wohlgeboren.)

Tiefe Stille herrscht auf der Bühne.

Schafranoff tritt hinaus.

Friedrich, Schafranoff und der Bursche Ans kommen bald darauf wieder herein und tragen Linda.

Ans halblaut: Arme Baroninfrau!

Baronin: Was ist?

Diener tritt mit einem Armleuchter brennender Kerzen aus dem Hause.

Baronin: Mein Gott!

Staatsrat sinkt wie gebrochen in einen Stuhl.

Friedrich mit abwehrender Handbewegung, dumpf: Still! …

Während er sich über Linda beugt, fällt der Vorhang.

Theaterstück, Reclam-Büchlein, erschienen 1908. Daneben gibt es auch ein gebundenes Buch.

Handlung

Der erste Aufzug beginnt mit einer Taufgesellschaft im deutschen Ritterhaus. Der Hausherr ist Gross­grund­besitzer und Industrieller. Er besitzt eine einträgliche Schnapsbrennerei. Die politische Lage wird aus den verschiedenen Blickwinkeln der Personen dargelegt. Ganz im Standesdünkel mokiert sich die Taufgesellschaft über die estnischen Bauern, Knechte und Arbeiter. Deren Saufen wird als Grund alles Übels gesehen. Eine Abord­nung von Fabrikarbeitern kommt zum Herrenhaus und beschwert sich beim Hausherr über den Aufseher in der Fabrik. Sprecher der Gruppe ist der Volksschullehrer. Grund der Klage: der Aufseher, ein Reichsdeutscher, schlage die Arbeiter beim kleinsten Ungeschick. Man werde streiken, wenn er nicht entlassen wird. Bei dieser Unterredung stellt sich heraus, dass die Frau des Hausherrn, als kleines Mädchen und Vollwaise, von Staatsrat Schnitter adoptiert, die Schwester des Volks­schullehrers ist.

Im zweiten Aufzug vereinen sich die Knechte, Bauern und Arbeiter. Sie diskutieren Ereignisse und Gegebenheiten anderswo und formulieren ihre Forderungen gegen den Gutsherrn: Entlassung des Aufsehers in der Fabrik, mehr Lohn, das Recht im Wald Holz zu schlagen und die Wieder­einstellung der Rädelsführer. Der Gutsherr verwarnt den Aufseher, entlässt ihn aber nicht. Eine Magd bekundet Sympathie für die Forderungen der Leute und wird entlassen. Auch Pächter und der Wirt stellen Forderungen an den Gutsherrn. Die jungen Burschen aus dem Dorf schleichen um den Garten des Gutsherrn. Sie beschliessen die Rosen zu verwüsten. Einer wird dabei erwischt. Linda, die Frau des Gutsherrn, lässt ihn wieder frei – in ihren Augen ein frecher Bubenstreich, angestachelt von den andern. Der Pastor und der Doktor werden beschimpft und gedemütigt. Scheunen werden angezündet. Das Grab des alten Gutsherrn und die Kirche werden verunstaltet.

Im dritten Aufzug werden im Herrenhaus die Ereignisse diskutiert. Man ist schockiert. Die Armee ist aufgeboten worden. Ein Zug russischer Soldaten kommt zum Herrenhaus. Der Pöbel zieht ebenfalls zum Herrenhaus um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Der Volksschullehrer versucht die Wogen zu glätten. Er wird nun von beiden Seiten als Verräter beschimpft. Linda versucht ihren Bruder zu retten. Es kommt zur Konfrontation, Schüsse fallen. Im Durcheinander der Dunkelheit wird sie tödlich getroffen.

Darsteller

Friederike, Baronin Kurküll, geborene Freiin von Brunar zu Brunau
Friedrich, Baron von Kurküll, auf Kurküll und Resna, ihr Sohn
Linda, seine Frau
Fjodor Karlowitsch Schnitter, kaiserl. russ. Staatsrat, ihr Adoptivvater
Franz Körling, Pastor zu St. Georgen
Heinrich Ninipu, Pastor zu Moon
Dr. med. Adolf von der Traenck, zu Jootma
von Bergedorff, auf Mäggimois
Freiherr Ring von Ringgenberg, auf Wannajöggi
Baronin von Ring, geborene Gräfin Drachenstein
Frau von Himmelstjerna, geborene Lindenhaupt, auf Arro
Olga, ihre Tochter
von Lindenhaupt, auf Heidemetz, Exzellenz, russ. General a. D.
Nikolai, sein Sohn
Baron Douglas, auf Kiwwipäh, Exzellenz, Ritterschaftl. Landrat
Baronesse Alexandra Douglas, seine Schwester
Pjotr Jwanowitsch Schafranoff, russ. Premierleutnant
Turmann, der kurküllsche Verwalter
Siegmund, Brennmeister der Spritfabrik, Reichsdeutscher
Der alte Mars, Gärtner Hausbediente auf Schloss Kurküll
Lisa, Kindermagd
Jürri, Diener
Jaan Walgus, Volksschullehrer
Der Leppowirt
Der Kokapächter
Sfepp, Dorfschmied
Ans, sein Sohn
Puhsepp, Dorftischler
Tönno, ein Hofknecht
Die alte Elz, seine Mutter
Mart, Tönnos Sohn Arbeiter der Spritbrennerei
Tödik
Rachul
Maria, Bäuerin
Jürri Knechte
Wachtrick
Ein Soldat
Ein Bauer
Ein Weib
Soldaten, Bauern, Arbeiter

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Feuer im Osten, 1. Aufzug PDF

Feuer im Osten, 2. Aufzug PDF

Feuer im Osten, 3. Aufzug PDF