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Doppelliebe. Novellen aus Estland

Elisàr von Kupffer, 1901 / 1903

 

In sechs Novellen zeigt Elisàr von Kupffer auf, wie Menschen in ihrer Liebe oft zwischen zwei Personen wählen müssen oder zu ertragen haben, dass die geliebte Person auch noch von jemand anders geliebt wird. Darunter auch eine schwule Coming-out-Geschichte Sein Rätsel der Liebe, die eine der ersten im deutschen Sprachraum sein dürfte.

In seiner postum (1943) erschienen Autobiografie Aus einem wahrhaften Leben schildert Elisàr von Kupffer sein Werden und seine Sichtweise des Lebens. Eduard von Mayer hat die Autobiografie, geschrieben vor 1920, ergänzt mit einem Artikel Der Weg der Liebe, der wahrscheinlich um 1940 entstanden ist. Darin schildert Elisàr von Kupffer seine «Lieb­schaf­ten»: seine lebenslange Beziehung zu Eduard von Mayer, seine «Seelen­ver­wandt­schaft» mit Frauen und seinen schwärmerischen Umgang mit Jünglingen. Er sagt darin auch, er sei nicht homosexuell! Es ist davon auszugehen, er meint damit Männer, die handfesten Mann-männlichen Sex haben, er im Gegensatz dazu sieht bei sich eher erotische Verliebtheit. Bei Frauen war diese wohl platonisch, bei den Jünglingen wohl die Freude an den kindlich unvoreingenommenen Reaktionen auf seine Aufmerksamkeiten aller Art.

Doppelliebe kann gelesen werden als Vorstufe zum Klarismus, der Befreiung des Eros von allen gesellschaftlichen Zwängen seiner Jugend und der stringenten evangelischen Lebens­ein­stellung seines Elternhauses.

 

Die weisse Lilie

Kein Hymnus flutet

fürs grosse Herz,

Das still verblutet

Am kleinen Schmerz.

Elisàr von Kupffer: «Leben und Lieben»

 

Zusammenfassung: Walter, ein alter Mann, erzählt die Geschichte seiner grossen Liebe zu Lily. Er kannte Lily aus seiner Zeit als Student in der Stadt. Aus gesundheitlichen Gründen zog er aufs Land und wurde Gutsverwalter eines Barons, der selten auf dem Gut wohnte. Baronin Cornelia, die Schwester des Besitzers, lebte dort einsam. Sie fand Gefallen am Gutsverwalter und machte ihm Avancen. Für Walter wäre das ein gesellschaftlicher Aufstieg, doch er erklärt ihr, dass er sie nie lieben könne wie seine Auserwählte Lily. Er heiratet Lily und sie zieht zu ihm. Baronin Cornelia, tief gekränkt, versucht ein Keil zwischen das junge Paar zu treiben. Nach der Geburt des zweiten Kindes erholt sich Lily nicht und liegt ster­bens­krank im Bett. Vor ihrem Tod kommt die Baronin vorbei und die beiden Frauen bitten einander um Vergebung.

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Arma und Ssilma

Was dem Leben dient, ist gut; was aber

das Leben hasst und mindert, ist böse.

Eduard von Mayer: Bücher Kains, IX.

 

Zusammenfassung: Arma und Ssilma, sind zwei glückliche Frauen im noch heidnischen Estland. Sie sind die Frauen von Olemar, dem Sohn des Ältesten. Es ist die Zeit der Eroberung durch den christlichen Deutschritterorden, den Männern in Eisen. Ssilma beschliesst bei der Verteidigung ihres Landes an der Seite ihres Gatten in die Schlacht zu ziehen. Die Esten unterliegen den Männern in Eisen. Mit der Taufe in einem Fluss wird den Besiegten Gnade gewährt. Ollemar wird zum Ältesten der Esten ernannt, doch er darf nun nur noch eine Frau haben. Die Ritter bestimmen, dies sei Ssilma. Arma wird als Kriegsbeute zurückgehalten. Ein Ritter, jetzt nicht mehr in Eisen, erniedrigt und demütigt sie. Sie kann einen Dolch erhaschen und stösst ihm diesen in den Rücken. Dieser hat noch die Kraft, Arma zu erwürgen. Die Esten kommen in der Nacht zurück und nehmen Rache an den Rittern, die ihre Rüstung abgelegt haben. Ollemar findet Armas Leiche. Ein ausser Kontrolle geratenes Pferd tritt ihn mit dem Huf und er stirbt auch. Ein Scheiterhaufen wird für die heidnische Beerdigung der beiden vorbereitet. Ssilma will auch nicht mehr leben und legt sich neben die beiden. Die in einer Urne eingeschlossene Asche wird auf einem Hügel begraben, damit sind sie wieder vereint im Tod.

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Die süsse Rache

Siehe! die Klinge lässt sich biegen von

starker Hand; aber sie schnellt zurück und

erschlägt was ihren Weg kreuzt.

Eduard von Mayer: Bücher Kains IX

 

Zusammenfassung: Julia, die einzige Tochter des stolzen deutschen Barons auf dem Schloss Rakwere und Hans Kerro, der Sohn des estnischstämmigen Verwalters, waren in ihrer Kind­heit Spielkameraden, denn Standesunterschiede kennen Kinder nicht. Als junge Erwachsene waren sie weiterhin Freunde, sind zusammen mit ausgeritten. Eines Tages kommt ein ent­fernter Vetter von Julia auf das Schloss. Er ist der Meinung, Hans wäre der Stallknecht, welche die Rosse für einen gemeinsamen Ausritt auf Geheiss von Julia bereit mache, obwohl Julia eigentlich mit Hans zum Ausritt wollte. Giulia benutzt das Missverständnis, um Hans zu prüfen. Nachdem der Vetter wieder abgereist ist, reiten Julia und Hans wieder gemeinsam aus. Ein Pferd reisst aus und sie fällt in seine Arme. Das ist wie ein Zeichen und die beiden küssen sich und gestehen sich ihre Liebe ...

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Wenn es schneit …

Eine Romaneske

 

… da erwacht wie ein süsser Kobold

die Regung der Sinne … denn das Leben

ist doch stärker als alle Unwahrheit der

Erziehung.

 

Zusammenfassung: Ein junger Herr ist in den Wintertagen zu Besuch auf einem Herrensitz, wo Frau Antony mit ihrer Tochter Herta und ihrem Sohn Herbert lebt. In der wohligen Wärme des Schlosses fühlt man sich geborgen. Wenn man abgeschieden und alleine auf dem Land lebt, ist jeder Besuch willkommen. Das blutjunge Fräulein, aber auch die noch junge, verwitwete Frau Antony möchte Aufmerksamkeit, wie auch der Knabe mit seinem unartigen Benehmen und seinen Streichen. Es wird von diesem und jenem gesprochen, auch über das Verhältnis von Mann zu Frau. Sind das Zeichen von Liebesbemühungen, echte Gefühle oder nur Zeitvertreib? Man macht eine Schlittenfahrt, zu der die Frau des Hauses den Gast in unüblicher Weise zu sich in den Schlitten bittet. Die Tochter fühlt sich zurückgesetzt. Zum Glück kommt ein Brief an den Gast, die rettende Gelegenheit, sich vom Schlosse zu verabschieden …

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Sein Rätsel der Liebe

… la nature ne désavoue, ne répudie

rien de ce qui nos béatifie …

Georges Eekhoud: Escal-Vigor III. 1.

Honni soit qui mal y pense!

 

 

«Gefällt Ihnen das Buch, das ich Ihnen neulich gab?», fragte Alfred, indem er einen fast zaghaften warmen Blick auf das junge Mädchen warf, das ihm zur Seite ging.

«Ach so … Sie meinen die Geschichte, wo sich die beiden Helden um das Mädchen streiten, die eigentlich ihre Schwester ist? Ja – es hat mir gefallen», entgegnete Hedwig etwas zerstreut.

«Und welcher von beiden gefällt Ihnen mehr, Ippolito der wilde, feurige oder Alessandro der besonnene?»

«Ippolito», sagte sie mit unbefangenen Lächeln … «Ippolito …»

«Nicht wahr?!» Es kam wie ein Ausruf aus dem tiefsten Herzen des Jünglings. Sie fand es auch genau so wie er! Ja, auch er hatte sich an Ippolito begeistert, an dem schönen, leidenschaftlichen Ippolito. Von der begehrten Katherina sprach er nicht, sie stand nicht in leuchtenden Farben vor seiner Seele.

Es freute ihn, dass er mit Hedwig übereinstimmte, denn – er liebte Hedwig. Es deuchte ihn fast, als hätte sie Ähnlichkeit mit einem Ippolito. Sie hatte dunkle Haare, dunkle Augen, einen sinnlichen, etwas breiten Mund und eine eher starke üppige, als zarte Gestalt. – Wenn sie nur nicht so kalt gewesen wäre! Sie kam ihm ja gar nicht entgegen, obwohl er danach spähte, darauf wartete.

Und auch Hedwig streifte ihren jungen Begleiter hin und wieder mit ihren Blicken. Er war so zart, sein graublondes, gewelltes Haar fiel ihm leicht in die klare Stirn; aus dem geist­reichen, ovalen, etwas blassen Gesicht blickten graue, träume­rische Augen, die bräunliche Flecken hatten und bisweilen einen grünlichen Schimmer. Über den vollen roten Lippen war ein leichter, goldiger Flaum. Sie schaute ihn mehr mit neu­gie­riger Bewunderung als tiefster Wärme an. Er war hübsch, fast schön – ja … Aber …

Es schien auch, als ob er sich für sie interessierte; er suchte sie auf, er plauderte gern mit ihr, aber meist sehr klug, sehr ideal, oder in gezwungenen Scherzen. Dann sah er sie so tiefmelancholisch an, dass sie nicht recht wusste, warum. Es war mehr ihr Verstand oder ihr Gemüt, das sich mit ihm beschäftigte, als ihr Herz. Wenn er da war, sprach sie mit ihm, ohne sich zu langweilen; war er aber fort, so empfand sie kein brennendes Verlangen nach ihm.

Da in ihrem Hause – sie lebten meist auf dem Lande – nicht sehr viel jugendlicher Verkehr war, so war sein Umgang ihr genehm; aber ihr Blut geriet kaum in Wallung. Bisweilen schien es ih selbst sonderbar, denn er war doch ein junger Mann und dazu hübsch. Doch es war nun einmal so. Dadurch gewöhnte sie sich an einen ungenierten Umgang mit ihm und sprach mit ihm über Dinge, über dies sie sonst mit einem jungen Herrn nie so unbefangen hätte reden können. Selbst die Liebe war ihr Thema, aber es blieb immer bei dem Gespräch über die Liebe, auch dann, wenn sie ihre eigene Person in Betracht zogen; es wurde dann ein bestimmter Fall an­ge­nom­men und erörtert, aber zu einer persönlichen Erklärung kam es nie. Und doch verlangte Alfred danach. Aber warum tat er es denn nicht? Ja warum? Wenn er das selbst gewusst hätte! Er sagte sich’s oft, heute musst du ihr deine Liebe gestehen; und wenn sie dann miteinander in den lauschigen Gängen des Schlossgartens spazieren gingen, kam es zu den sonderbarsten und fern- und naheliegenden Gesprächen, doch nicht zu einem Liebesgeständnis. Warum war er dann so mutlos? Konnte er nicht ebenso Erfolg haben, wie ein Anderer? Vielleicht doch eher? Hatte Hedwig ihm doch gar bei einer scherzhaften Unter­haltung unbefangen gestanden, dass sie ihn – hübsch fände. Und für klug und geistreich hielt sie ihn auch. Was wollte er noch mehr?

Wie oft gingen die besten Gelegenheiten vorüber, ohne dass er das rechte Wort gefunden hätte! Auch heute wandelten sie wieder einmal ungestört auf den verschlungenen Wegen des kleinen Parkes, die hin und wieder sogar recht versteckt waren. Bisweilen streckten einige Tannen ihre dunklen Zweige mit den hellgrünen Spitzen von hüben nach drüben, als wollten sie recht dicht beisammen rücken; dann mussten auch Alfred und Hedwig sich nähern, oft streiften sich ihre Arme und es durch­zuckte ihn wunderbar. Sie hatte etwas üppig Herrisches, das ihn reizte, es verlangte ihn sie zu küssen.

Was könnte dabei sein, wenn er plötzlich die Arme um ihren Nacken schlänge und …! Sie warf gerade einen fragenden Blick auf ihn und begegnete dem seinen, der wieder tief­sehn­süch­tig-traurig war. Er reckte seine gelbseidnen Handschuhe und schwieg. Dann aber fürchtete er, das Schweigen könnte zu lange andauern und sie veranlassen, das Pro­me­nie­ren auf­zu­geben, und er hatte das unbewusst starke Verlangen, diese Wanderung möglichst auszudehnen, weil er immer glaubte, zu einer Aussprache zu gelangen. Da fiel ihm in der Erregung ein, dass er zwei Gedichte eingesteckt hatte, um durch sie das zu sagen, wozu er sonst die einleitenden Worte nicht zu finden vermochte. Es waren zwei Gedichte, von denen das eine die Liebe im Allgemeinen behandelte, das andre aber die be­son­dere Liebe zu Hedwig feierte. Man weiss, welche Töne und Farben junge Verliebte da gebrauchen.

«Ach, ich hab Ihnen doch etwas zeigen wollen – zwei Gedichte … Eins», verbesserte er sich wider Willen. «Ich weiss nicht, ob es Sie interessiert.»

«O doch.» Sie lächelte freundlich, dann ward sie etwas befremdet, als sie die Röte in seinem Gesicht bemerkte. Seine zarte Haut verriet nur zu leicht die Wallungen in der Tiefe. Er bemerkte ihr Erstaunen und wähnte sich durchschaut … Das eine Gedicht mit den allgemeinen Versen hatte er hervorgeholt und überreichte es ihr; doch biss er sich dabei auf die Lippen aus Ärger über seine Sprödigkeit. Sie nahm das Blatt, las es, und er glaubte, sie müsse ihn nun verstehn … Wie überrascht er war, als sie es ihm mit ruhigem Augenaufschlag zurückgab.

«Sehr hübsch!», sagte Hedwig. «Aber ich glaube, Sie spielen mit Ihrem Weltschmerz.»

War das eine Antwort! Er litt so sehr und sie meinte, er spiele mit seinem Leid! Es kränkte ihn, dass sie ihn immer noch so wenig verstand. Konnte sie denn nicht begreifen, wie sehr ihn die Ungewissheit bedrückte? und sie fand noch kein Wort des Entgegenkommens? Sie liebte ihn also nicht? Und doch dabei diese Freundlichkeit im Blick, wenn sie ihn ansah! War das nicht Liebe? O, diese ewige Qual des Hofmachens! Was erwartete sie noch von ihm? Wenn er ihr seine Liebe ge­stände und sie ihn zurückstiesse? Der Gedanke war ihm enteh­rend, eine solche Tatsache hätte ihn für alle Zeit vor seinen Augen erniedrigt …

«Warum wollen sie nicht glauben, dass ich wirklich nicht glücklich bin, dass ich Grund dazu hätte, vielleicht sehr bedeu­tende Gründe?»

«Sie?!», Hedwig lächelte herzhaft, ungläubig. «Was sollte Sie doch unglücklich machen? Warum denn? Sie können ja allen ihren träumen nachgehen. Sie … Sie wollen sich nur inte­ressant machen.»

Ihr Lachen verwunderte ihn; er fand keine Worte mehr. Er kam sich im Augenblick aufrichtig verzweifelt vor, wie ein Stum­mer, der reden wollte und es nicht konnte.

«Mich werden Sie es doch nicht glauben machen, dass Sie in der Tat so tief unglücklich sind, wie Sie es vorgeben. Wenn Sie diese Absicht vergessen, so schaun Sie ja auch ganz anders aus. Jawohl. Aber Sie glauben, auf die Damen damit Eindruck zu machen.»

«Ach nein! Nein.»

Sie waren in die Nähe des Hauses gekommen. Die grauen Schlossmauern schauten über das Grün der Tannen. Ein klei­ner freier Platz lag am Wege, von Eichen und Silberpappeln umstanden. Die Mittagssonne ruhte mit wohliger Wärme in den Zweigen und auf dem Platze.

Mehrere Gäste waren angekommen. Eben trat gerade eine Gruppe von jüngeren Herren und Damen auf den Platz. Hedwig eilte ihnen heiter entgegen.

«Guten Tag, Herr Baron!»

Mit einer höflichen Verbeugung drückte Roman von Rib­berg ihre dargebotenen Hand. Auch Alfred begrüsste Roman, den er schon kannte. Bald ging das Gespräch scherzend hin und her. Roman hatte sich Hedwig angeschlossen und beide unterhielten sich vorzüglich, ohne ein ernstes Thema zu be­rüh­ren.

Alfred stand stumm zur Seite und betrachtete die Andern mit tiefem Missvergnügen. Er hätte sich auch gerne in ein heiteres Geplauder stürzen mögen, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken; er wusste auch nicht recht, was er sagen sollte. Warum wohl Hedwig nun so kokett lebhaft sprechen konnte? Ob es die Liebe war, dies sie im Gespräch mit ihm befangen macht –, wie er es wurde? War es dann aber Be­fan­gen­heit, wenn sie so ruhig über ihn und mit ihm redete? Jetzt war jedes Mitleiden aus ihren Zügen verschwunden. Wie sie Roman ansah! Er nährte seien Groll gegen den eleganten jungen Mann. Und dabei begann er ihn zu studieren, denn er wollte es doch ergründen, was an ihm so fesselte und ob es berechtigt, wahrscheinlich war, dass sie Roman ihm vorziehen könnte.

In der Tat, Roman hatte eine stattliche schlanke Gestalt, die sich in dem schwarzen Anzug besonders vornehm ausnahm. Ein dunkler Bart mit sacht aufwärtsgedrehten Spitzen bedeckte die Oberlippe. Er lächelte nur mit den Mundwinkeln, während sich eine leise Falte in den Wangen bildete. Die Haare waren an der Seite kaum merklich gescheitelt und von schwärzlichem Braun. Die Augen schienen hinter dem angenommenen Blick gesellschaftlicher Gleichmütigkeit Manches zu verbergen. Die Haut war gebräunt. Sein Gesicht war kein regelmässiges Oval, die unteren Backenknochen dazu vielleicht zu breit, aber inte­res­sant sah er doch aus – mehr als interessant. Und wo war er nicht alles gewesen! Was konnte er nicht alles erzählen und mehr noch halb verschwiegen andeuten! Er – Alfred – kannte von der Welt nichts, eigentlich nur sich selbst … Das glaubte er wenigstens. Ein tiefer Neid schlich sich in seine Seele. Warum war es ihm unmöglich so frei umherzugehen, wie jener? War er daran schuld, dass er nur immer daheim geblieben war! Ach, er sehnte sich so sehr danach, die Welt zu sehen! Wenn nur nicht die Liebe gewesen wäre! diese Liebe, die ihn so unglücklich machte. Er verlor sich fast in seinen trübe und phantastischen Gedanken, ungeachtet dass er von Menschen umgeben war.

Hedwig wandte sich nun an einen andern, der an sie he­ran­trat. Ihre Augen sprühten fast vor Lebhaftigkeit. Alfred ersah die Gelegenheit. So ging’s nicht länger. Er fasste sich ein Herz und trat, so sehr es in Überwindung kostete, auf Roman zu, um ein Gespräch anzuknüpfen.

«Wie hat es Ihnen denn in Rom gefallen?»

«In Rom?» Roman musterte in mit grossen Augen. Be­rühr­te ihn diese Frage im Augenblick so sonderbar? Sie klang hier fast wie eine Gewissensfrage.

Und Alfred stieg die Röte in die Wangen, als er die Frage getan hatte und die forschenden Blicke auf sich gerichtet sah. Er kam sich im Moment wie ein Schulknabe vor; er war ja auch nicht weit davon. Es ward Alfred, als hätte er den Andern mit der Frage verletzt, als hätte er etwas Dummes getan.

«O – man muss sich nur an Italien gewöhnen und be­son­ders an Rom.» Er weidete sich offenbar an Alfreds Be­fan­gen­heit. Er prüfte seine Züge, wie ein Künstler, der sich ein Modell auf der Spanischen Treppe sucht.

Alfred verriet keinen Unwillen darüber; das bemerkte Roman wohl und er liess sich darauf ein, einige Bemerkungen über den Süden zu machen.

«Haben Sie auch den Papst gesehn?»

Roman lächelte. Es kam ihm fast komisch vor, all die naiv-neugierigen und dabei schwärmerischen Fragen auf diesem Platze zu beantworten, der eigentlich zum Krocket-Spiel und oberflächlichen Geplauder bestimmt war, während man umher sprach, scherzte und alles andre tat, nur nicht ernsthaft wurde. Alfred erschien ihm wie ein Knabe, der mit aufrichtiger Wiss­be­gier vor einem fremden Dinge steht und ganz vergisst, dass er doch gekommen ist, um sich zu zerstreuen, zu amüsieren. Es fesselte Roman, denn er liebte die frische eigne Art und er woll­te ihn näher kennen lernen. Dazu musste er ihn auf die Probe stellen. Und indem er ihn schnell musterte, fiel ihm das äussere Wesen Alfreds heute besonders auf, der stille traum­haf­te Blick, die weichen Züge, das leise Zucken seiner Gesichts­mus­keln und der Wechsel seiner Hautfarbe.

«Sie verkehren hier häufig?», fragte er absichtlich plötz­lich.

Alfred ward verlegen. «Ja – »

Roman wandte sich wieder Hedwig zu und begann ihr den Hof zu machen – nicht ohne Absicht. Doch mit welcher?

Alfred beobachtete ihn ferner mit stummen Missbehagen. Einerseits verdross es ihn äusserst, das Roman Hedwig so sehr in Anspruch nahm und dass diese all die offenbaren Hul­di­gun­gen und das Geplauder mit liebenswürdigem Lächeln und leb­haften Worten erwiderte. Jetzt verstand sie es zu reden! Und wenn sie mit ihm sprach, da stockte die Unterhaltung so häufig, da blickte sie so mitleidig lächelnd, dass er geneigt war es für die Melancholie der Liebe zu halten. Aber nun? Nun! Nein, diese Weiber! … Andererseits hatte derselbe Roman, der sie ihm entfremdete, einen nicht geringen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte beinahe etwas Geheimnisvolles in seinem Wesen und so gar nicht das gewöhnliche Äussere der galanten Herren aus der Gesellschaft, weder war er herausfordernd schneidig, noch burschikos nachlässig, noch geziert. Und dazu kam, dass ihn eine Art Nimbus in Alfreds Augen umgab. Roman war längere Zeit in Italien, im Orient gewesen. Was mochte Roman nicht alles kennen, von dem er nur eine dunkle Ahnung hatte! Er hätte gern mehr von ihm gehört und es är­ger­te ihn nun noch überdies, das Roman nur für Hedwig Augen und Ohren hatte, mit der er sich doch nur in oberflächlich tändelnder Weise unterhielt. In dunkler Eifersucht wurde er keinen Augenblick seines Lebens froh. Er fühlte sich so ver­las­sen und zurückgesetzt, dass er sich weit weg in den ein­sam­sten Winkel der Erde wünschte.

Oft hatte Alfred seine Zuflucht in Rausche des Glaubens und Gebetes gesucht, weil er sie weder ausser sich, noch in sich selbst fand. Die angeborene Sprödigkeit und das empfindliche Schamgefühl seiner Natur machten ihn zu einer Mimose, die sich vor dem rauen Winde draussen schloss. Und die Sonne, die seine Blüte in ganzer Fülle geöffnet hätte, fehlte ihm.

Als es Abend war und man nach aufgehobener Tafel zu tanzen begann, das stellte sich Alfred steif an eine Tür des Saales und schaute melancholisch dem Treiben zu. Es war nur ein kleiner Kreis von jungen Damen und Herren, aber man vergnügte sich ganz gut. Alfred sah, wie gefühllos, das Lächeln der Mienen und Lippen, die sich bewegten, als hätten sie eine Welt von Geheimnissen zu verraten: er wusste ja, dass es doch nur eitel Phrasen waren.

«Sie tanzen gar nicht?», fragte Roman, der ihn im Auge behalten hatte.

«Nein. Es macht mir kein Vergnügen.»

«So. Ich dachte, Sie würden die Tochter des Hauses doch einmal auffordern.»

«Nein, danke, ich tanze nicht. Übrigens wird Fräulein von Küllen gar kein Verlangen danach haben; hier sind ja noch andere Kavaliere.»

«So – so … Aber man wundert sich immerhin, wenn ein junger Mann in Ihrem Alter diese Annäherung versäumt.»

«Glauben Sie, dass es die einzige ist?»

«Wenigstens so ziemlich die einzige, wo es uns möglich ist, so nahe in Berührung zu kommen mit einer jungen Dame, die uns sonst nicht schon sehr nahe steht.» Roman sah ihn dabei mit seinen dunklen Augen so merkwürdig an, dass Alfred seinen Kopf etwas senkte. «Die Wenigsten können sich so was erklären.»

Ob Roman es konnte? Er sah forschend in das ovale durch­geistigte Gesicht mit den reichen blonden Haaren, doch ihre Blicke begegneten sich nicht. Alfred schwieg und äusserte keinen Unwillen, und kaum das Roman weiter gegangen war, verliess er den Saal.

Er fühlte sich so beengt, verfolgt, dass ihm das Verlangen nach Tränen die Kehle einschnürte. Warum war er nur so? Warum war er so einsam, so traurig und die Andern so heiter und lebensfroh? – Warum? Warum? Er verstand sich selbst nicht mehr. Er gab Roman mit die Schuld an seinem Trübsinn und Verdruss – Roman und Hedwig …

* * *

Tage vergingen, in denen sich Alfred wehmütigen Be­trach­tun­gen hingab. Hedwig liebte ihn doch nicht; sie verstände ihn nicht. Was konnte daraus werden! Ihn verlangte mehr als je in die Welt hinaus, und doch fühlte er nicht den Mut, allein und frei in die Fremde zu gehen. Die Gegenwart beengte ihn, aber er scheute die Zukunft, und dann begehrte er doch wieder nach der Zukunft. Er hatte sich bis jetzt nicht selbst im Kampf ums Dasein mit andern schlagen müssen; er kannte den Kampf nur in geistreichen Streitigkeiten und Gegensätzen. Aber wer sollte ihm beistehen? Er war ja der Mann, es selbst zu tun — tun zu müssen.

Roman dagegen kannte das Leben, und er war so reich, dass er es ohne allzugrosse Entbehrungen kennen lernen konn­te. Er lebte meist im Auslande und zwar im sonnigen Süden. Wenn er in seine nordische Heimat kehrte, so war das ein sehr negativer Genuss, den er sich bereitete. Die Welt und das Le­ben hatten ihn gereift, ihn zu einem Menschenkenner gemacht. Er verstand es, die Leute mit Worten abzuspeisen und be­herrsch­te seine Empfindungen nach aussen hin, so dass er sich verschieden geben konnte. Er wusste es, oberflächlich und ernst zu sein und dadurch Vielen gerecht zu werden. Die Frau­en glaubten, dass er ihnen huldige und die Männer hielten ihn für einen Lebemann. Er war erst Gesandtschaftssekretär ge­we­sen, hatte – sich aber dann davon losgemacht, um sich ganz seinen kunsthistorischen Studien zu widmen. Rechnet man sein distinguiertes Wesen dazu, so war er wohl der Mann, um den Frauen interessant zu werden und begehrliche Blicke der hoffnungsvollen Damenwelt auf sich zu ziehen.

Auch Hedwig mochte ihn für eine annehmbare Partie hal­ten, denn an Alfred, den hübschen guten Jungen, dachte sie doch nicht im Ernst. Aber wie es so oft geht; man kennt die Menschen eben nicht, denn es ist ja so bequem sich selbst nur zu kennen – und sogar das ist nur selten der Fall! — ja die Mehrzahl kennt nur das, was ihnen täglich in allen Variationen vorgeführt wird. Die gangbare Münze, und wäre sie noch so schmutzig – und gefälscht – findet allemal einen, der sie be­gehrt. Aber die schönste Münze, wenn sie neu geprägt ist, be­geg­net dem Misstrauen der Unwissenden. Und wie viele sind nicht Unwissende des Lebens?!

Hedwigs Geburtstag wurde gefeiert. Roman und Alfred waren natürlich auch geladen. Alfred schwankte, ihm graute eigentlich vor dem Abend des Festtages. Was würde er dort tun? Es würden natürlich noch mehr Personen, als letzthin zu­gegen sein; Hedwig würde für ihn keine Zeit haben; er müsste wieder das ganze Getändel und gesellschaftliche Treiben mit­an­sehen; er müsste sich gar zwingen mitzumachen, oder eine unleidliche Rolle spielen. Und dann Roman? … Wie sollte er ihm begegnen? Er fürchtete, Hedwig würde ihm noch mehr innerlich entfremdet werden, wenn er sie im Dunstkreis der Gesellschaft sähe. Aber wie sollte er absagen? Unter welchem Vorwande? Und dann lockte es ihn doch wieder, selbst zu beobachten, wie alles sich gestalten würde. Kurz er erschien doch an dem Festabend, wenn auch in der gequältesten Stim­mung.

Auch Roman war erschienen. Beide grüssten sich sehr verschieden. Alfred reichte ihm sachte die Hand, ohne ihn anzusehen; Roman dagegen drückte die weiche Hand so fest, das er ein Zucken in Alfreds bleichen Zügen bemerkte.

Auch Roman war kein Liebhaber solcher Gesellschafts- und Tanzabende, aber er machte sie hin und wieder mit, um sich dann mit desto grösserem Genuss in sein gewohntes Leben zurückzuziehen.

Als man zur Abendtafel gehen wollte, bat Roman Hedwig sie geleiten zu dürfen und sie nahm mit einem zufriedenen Lachen seine Tischnachbarschaft an. Alfred war ihnen mit den Blicken gefolgt; auch er hätte es gern getan, aber er fand nim­mer­mehr den Mut dazu. Der Gedanke, Hedwig seine Gesell­schaft anzubieten und sie vor aller Augen zu führen blieb nur ein Wunsch. Wenn sie ihm absagte – vielleicht unter dem Vor­wande, ihre Zusage schon vergeben zu haben – gleichviel, er hätte sich entehrt gefühlt. Aber sie hätte ihm entgegen kom­men können, ihn verstehen lassen, dass sie es erwartete. Doch sie tat es nicht – sie liebte ihn nicht. Im Augenblick hasste er sie beide, Roman und Hedwig.

Sie sassen sich an der Tafel gegenüber. Alfred war sehr zerstreut und unterhielt seine Nachbarin kaum; mochte sie ihn für langweilig halten! Er sah immer wieder zu Roman und Hedwig hinüber. Dann stammelte er doch zwischen einige all­gemeine Bemerkungen, denen er in seinem Verstande nach­spähte.

Besonders verwirrt wurde er, wenn er bisweilen die Blicke Romans auf sich gelenkt sah. Was mochte der von ihm den­ken?! Man musste ihm seine Verwirrung ansehn.

Er stürzte seinen Wein hinunter und schlug ans Glas. Der klirrende Ton zitterte in ihm nach. Das monotone Stim­men­ge­wirr hielt an und das hässliche Geräusch der Messer und Ga­beln wurde schwächer.

Alfred sprach hastig einige feiernde Worte, dann ging er um die lange Tafel herum und wollte mit Hedwig anstossen, aber er verfing sich an Romans Stuhllehne und verschüttete den Wein, wobei er tief errötete.

«Es macht ja nichts», sagte Roman mit wohlwollender Stimme.

«Es scheint kein rechtes Glück werden zu wollen», be­merk­te Hedwig lächelnd, während sie anstiessen.

«Wer sollte vor Ihnen nicht seinen Wein verschütten, gnä­diges Fräulein!»

Während Roman das mit seiner eleganten Heiterkeit sagte, trafen seine Blicke den jungen Alfred, der noch tiefer errötete. Alfred stand, als müsste er noch eine Entschuldigung vor­brin­gen.

«Machen Sie sich deshalb keine Sorgen», sagte Roman, «jetzt hat dieser hässliche Frack wenigstens einen edlen Weihe­guss bekommen.»

Alfred war Roman sehr dankbar, dass er es so scherzhaft nahm, aber er fühlte sich doch noch ungemütlicher, als vorhin.

Die Tafel ward aufgehoben und der Tanz trat wieder in seine Rechte.

Eine Weile schaute Alfred noch zu. Das leichte kokette Gelächter der geschmückten Schönen und Unschönen schien ihm ein sinnliches Spiel zu verraten, das ihn unangenehm berührte. Und sie – sie lächelte wohlgefällig! …

Der schwüle Bannkreis ward ihm unerträglich. Er ging in den Nebensalon.

Da trat Roman herein und näherte sich ihm.

«Sie tanzen wieder nicht?»

«Nein … Es – gefällt mir nicht.»

«Wirklich – und warum?» Roman hatte schon bemerkt, das Alfred solche Fragen seinerseits nicht schroff zurückwies, wie es sonst wohl mancher Kavalier getan hätte.

«Warum? … Ich vertrag es nicht.»

«Und all diese jungen Damen vertragen es so gut.»

«Ja – die Damen! … »

«Sie sind mir vielleicht böse, dass ich so zudringlich bin, aber es interessiert mich.»

«Ach nein. Überdies – ich hasse dieses Tanzen am Ziel vor­bei, dieses Werben, Fliehen und Aufsuchen … Es kommt mir so, wie eine Heuchelei der guten Sitte vor.»

«Wie ernste Gedanken! an einem Tanzabend.»

«Warum soll ich’s auch? Niemand vermisst mich da.»

«Wissen Sie das so genau?» Roman sah ihn forschend an und diesmal begegneten sich ihre Blicke. Alfred wurde ver­legen.

«Nein, niemand.»

«Aber wenn jemand Sie vermisste, einen Tanz mit Ihnen begehrte – dann würden Sie doch nicht nein sagen?»

«Dann …. Aber davon ist ja gar nicht die Rede.»

«Doch … Ich habe Fräulein Hedwig zur nächsten Fran­çai­se aufgefordert und hätte es gern, wenn Sie mein vis-à-vis wären. Wollen Sie nicht eine Dame engagieren?»

«Ich? Ja — aber … »

«Ich weiss, Sie würden lieber Fräulein Hedwig auf­ge­for­dert haben. Leider war sie bisher versagt, und ich musste der Tochter des Hauses die Aufmerksamkeit erweisen.»

Alfred sah Roman gross an, dann sagte er beklommen und zögernd: «Ich möchte nicht.»

«Aber wenn ich Sie darum bitte?» Romans Stimme hatte gar nicht mehr den galanten Gesellschaftston, sie klang warm und bittend.

«Ich will es – versuchen.» Und damit folgte Alfred ihm zögernd.

Als sie den grossen Saal betraten, fragte Roman noch: «Nach diesem Tanz treffen wir uns vielleicht draussen auf dem Balkon?»

«Ja … », erwiderte Alfred, der ganz benommen war.

Im Saal führte Roman ihn zu einer Dame, die er zum Tanz aufforderte. Die Musik begann. Alfred bemühte sich die Figu­ren nachzumachen, wie er sie Roman angeben sah – es tanzten zugleich mehrere Paare sich gegenüber – seine Dame unter­hielt er mit den gewöhnlichen Bemerkungen und auch die ent­rang er sich mühsam. Nun hatte er mit Hedwig eine Figur zu machen, sie sah ihn lächelnd an, wie einen unbeholfenen Kna­ben; er bemerkte in ihren Augen keinen verständnisinnigen Blick, ihre Hände griffen kaum merklich ineinander; die ihre war feucht. Nun hatte er mit Roman die Hände zu wechseln, das war ein fester Druck! Ein schneller Blick, ein tiefer Blick!

«Sie kommen?»

Alfred besann sich nicht so schnell; schon stand er wieder an der Seite seiner Dame, der er vergass ein Kompliment zu machen. Roman lächelte. Hedwig verstand dies Lächeln falsch. Sie hielt es für Überlegenheit und es war nur Wohlgefallen.

«Wie haben Sie es nur vermocht, Herr Baron, ihn zum Tanz zu bewegen? Herr Alfred ist ja so komisch blöde für einen jungen Mann.» Und sie lachte, dass ihre Zähne zwischen den langen roten Lippen schimmerten.

«Sehr einfach, gnädiges Fräulein, man muss ihn bloss zu bitten verstehen.»

«Ach, Sie Spötter! Ein Kavalier, den man zum Tanze bitten muss! Sie werden unsern jungen Freund sehr in Verlegenheit bringen. Aber es mag heilsam sein.»

«Ganz gewiss, gnädiges Fräulein», erwiderte Roman iro­nisch. «Ich habe eine gute Menschenkenntnis.»

«Jawohl, damit prahlen Sie immer. Kein Wunder, wenn man so in der Welt geabenteuert hat und sich interessant ma­chen kann. Aber ob Sie sich doch nie täuschen?» Sie lä­chel­te schalkhaft, streitlustig.

«Sie meinen, in Ihnen? Sie werden eine Weltdame, die vieles ihren hohen Ansprüchen zum Opfer bringt … Ach so viele arme Männerherzen – und solche, die es sein wollen!»

Sie musste ordentlich lachen, da er zuletzt einen ab­sicht­lich kläglichen Ton anschlug.

Der Tanz war zu Ende und Alfred eilte auf dem Balkon hinaus. Die laue Luft der Sommernacht war ihm eine Er­qui­ckung nach der dumpfen Schwüle im Saal. Er atmete auf im einsamen Halbdunkel. Sein Herz klopfte heftig und dabei war ihm unsäglich öde zu Mute. Er hätte den Rest der Nacht ganz allein sein mögen. Ob man ihn drin vermissen würde? Er war gar nicht aufgelegt, gesellig zu reden. Aber Roman? … Viel­leicht vergass er ihn. Wie sonderbar! Er musste an ihn den­ken …

Da legte sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter.

«Sie sind mir doch nicht böse?»

Alfred wandte sich um und sah in Romans beschattetes Gesicht. Ein sanfter Lichtstrahl fiel auf Alfreds blonde Haare und erhitzte Wangen.

«Ich glaubte, Sie würden mir böse sein, in der Meinung, dass ich Ihnen Konkurrenz mache. Verzeihen Sie, dass ich davon offen mit Ihnen rede – aber … Sie gestatten doch, dass wir uns freundschaftlich stellen?»

Alfred war so überrascht und befremdet, dass er keine rechte Antwort fand.

«Oder hegen sie noch Misstrauen gegen mich – Un­wil­len?»

«Nein – nein», stammelte Alfred und überliess dem Be­wer­ber um seine Freundschaft die Hand.

«Ich versichere Sie, dass sich nichts wider Ihre Wünsche im Schilde führe. – Und ich kann somit annehmen, dass kein Schatten des Verdachtes mehr zwischen uns liegt?»

Alfred fühlte mehr und mehr, dass er seinen ver­meint­lich­en Nebenbuhler nicht ganz richtig beurteilt hatte. Er liess seine Hand in der Romans und schwieg.

«Ich darf also hoffen, dass sie mich als ihren Freund betrachten wollen? Wenn auch zehn Jahre oder gar mehr zwischen uns liegen sollten, dass tut doch nichts.»

«Nein, gewiss nicht … Herr von … » Er verschluckte seinen Namen fast ganz. «Ich danke Ihnen. Aber wir kennen uns doch schon einige Zeit – wozu diese Förmlichkeit? Nennen Sie mich einfach Roman und gestatten Sie mir – Sie Alfred zu nennen.»

«Bitte.»

«Sie sind sehr zurückhaltend, und da tun sie recht. Man kann in der Wahl seiner Freunde nicht vorsichtig genug sein.»

Diese Worte setzen setzten Alfred noch mehr in Erstaunen. Eben bot er ihm die Freundschaft an und zugleich warnte er ihn davor, seine Freundschaft leichtsinnig zu vergeben!

«Ich habe eigentlich nie einen Freund gehabt.»

«Welches Wort ist auch mehr missbraucht, als dieses», warf Roman mit Eifer ein. «Aber wollen wir nicht einen Gang durch den Garten machen? Der Abend ist wunderbar, und hier kann uns doch jeden Augenblick jemand stören.»

«Gern.» Alfred war es recht; ihm war schon etwas leichter zu Mute geworden und hinein wollte er nicht. Der Gang mit dem interessanten Mann hatte einen eigenen Reiz für ihn. Er wollte einiges erfahren. Sie stiegen die Treppe hinunter und traten in die dunklen Gänge. Die Blätter der Eschen zitterten unmerklich. Der Himmel war klar und nur im Zenit und im Norden sah man einzelne grössere Sterne. Tief im Grase ver­steckt leuchtete hier und da ein Glühwurm.

«Ach wie schön muss es sein», sagte Alfred mit leichtem Seufzer, «wie schön wenn die Erde lange in solchen blühenden Zustande ist! Wenn Sie nicht, wie bei uns im Norden, solange in Schnee und Eis erstarrt. Wie lange währt’s, und die Blätter fallen ab!»

«Sie sehen schon den Herbst kommen, wo der Frühling sich erfüllt hat! Solche Melancholie ist schädlich.»

«Es mag sein. Aber ob die Menschen nicht auch anders sind, wenn die Natur anders ist? Wer nicht hingehört, leidet darunter.»

«Gewiss, gewiss … Aber ein Teil der Schuld tragen wir selbst. Wir gehen so blind durchs Leben.»

«Wie meinen Sie das?», fragte Alfred lebhaft, der mehr und mehr auftaute, so dass er fast das Parkett vergass, dass er eben verlassen hatte.

«Die Menschen nehmen nicht das, was das Leben ihnen bietet, wozu es sie bestimmt, sie wollen durchaus etwas er­ja­gen, was nicht ihr Teil ist – und dann nennen Sie sich un­glück­lich, wenn es nicht so kommt. Unser Handeln ist vor­wie­gend zweckwidrig – bisweilen allerdings durch Zwang.»

«Zum Beispiel?», Alfred wurde noch lebhafter.

«Am besten verstehen wir alles durch uns – an uns. Aber ich weiss nicht, ob ich mit ihnen so offen reden darf? … »

«Oh gewiss!»

«Wenn Sie es ausdrücklich gestatten.»

Der höfliche und ergebene Ton fesselte Alfred vollends. «Gewiss. Ich habe längst das Verlangen gehabt, mit ihnen ein­mal menschlich reden zu dürfen.»

«Und sie hielten mich für einen Unmenschen.» Er lachte erheitert. «Alfred, – wie eigen warm berührte es den An­ge­re­de­ten! – Sie glauben doch Hedwig zu lieben?»

Hätte der aufgehende Mond ein helleres Licht, so würde Roman die jähe Röte in Alfreds Zügen bemerkt haben, aber er dachte sich’s wohl und bemerkte das Zucken in den Mund­win­keln.

«Sie fühlen die Regung, die man Liebe nennt und sie wis­sen es nicht anders, als dass Sie das Mädchen lieben müs­sen. Hedwig ist hübsch – ja … Aber Sie tun wenig oder nichts, um den Zweck der Liebe zu erreichen, nämlich wiedergeliebt zu werden.»

«Wieso?»

«Sie erwarten, dass Hedwig ihnen entgegenkommt. Wel­ches Mädchen tut das! Nun ja doch, es geschieht, aber auch nicht auf die Dauer, ohne dass der Mann, den das Weib liebt, wenigstens anderen Frauen gegenüber der Man ist. Und – Sie? Sie fliehen jede andere. Sie hängen sich an das eine Ideal. Sie wollen von ihm begehrt sein. Zum Beispiel: Sie fliehenden den Tanz und schauen traurig, verdriesslich zu. Statt anderen Frau­en den Hof zu machen und dadurch zu prüfen, ob die Geliebte Eifersucht verrät, harren Sie beiseite, ob ihnen das Glück nach­geht und verwünschen die Weiber – den Tanz. Die Weiber sind eben nur Weiber – das ist ihre ganze Schuld. – Doch sagten Sie nicht selbst, Sie mögen nicht den Tanz, das Werben, Fliehen und Aussuchen … Hab ich Sie verletzt? Soll ich schweigen?»

«Nein, nein», sagte Alfred hastig, nervös.

Roman wusste, was er tat. «Sie scheinen unglücklich – wenn man in Ihre Augen sieht, so glaubt man bisweilen, Sie müssten das tiefste Leid bergen … Und was ist es?!»

«Ach ich weiss es selbst nicht, warum es so sein muss, warum ich so bin! Es ist natürlich dumm von mir.»

«Das ist sehr einfach gesagt, lieber Alfred. Aber Sie blei­ben doch derselbe, bis Sie sich erkennen. Sie verabscheuen das Kokettieren des Weibes, das sich aussuchen lässt – umwerben, um zusagen oder auch versagen zu können. Das tränkt Sie, das wollen Sie nicht. Nun ja. Aber wenn jemand zu Ihnen käme und bäte – berührte es Sie dann auch so unangenehm?»

Alfred schwieg. Er senkte seinen Kopf.

«Ihr Schweigen ist mir eine Antwort. Als Sie mir heute die Bitte erfüllten, hat es sie verletzt?»

«Nei–n … » Er war immer unruhiger.

«Die Frauen fühlen es, dass Sie sich ihrem Bann entziehen und darum spenden sie ihnen keine Gunst. Den jungen Mann, der es meidet, um sie zu werben, strafen sie durch Gleich­gül­tig­keit. Er mag noch so schön, so liebenswert sein, sie ziehen ihm einen hässlichen Kavalier vor. Und darunter leiden Sie!»

Alfred atmete tief auf: «Sie wollen damit sagen, dass ich unmenschlich bin?»

«Und das würde Sie entrüsten, weil Sie es so gewohnt sind. Lassen Sie sich von einem Freunde belehren, der das Leben kennt.» Roman war nachdenklich, er erwägte, in welche Worte er das kleiden sollte, was er auf dem Herzen hatte.

Alfred war fieberhaft gespannt.

«Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumt – ja – und woher sollten Sie mehr wissen, als ihre Gesellschaft Sie gelehrt hat, in dem eingeschlossenen Kreise! in einem Kreise, der es selbst nicht mehr weiss, wo er heuchelt.»

«Sie wollen es mir nicht sagen, wie kna­ben­haft, wie kind­lich ich Ihnen vorkomme, wie sie mich verachten.»

«Keinen Augenblick! Nein, nein das sollen sie nicht den­ken!» Fast leidenschaftlich war Romans Beteuerung. «Hie Mann – hie Weib! so sagt man – aber so ist es nicht. Wie die Natur ineinander übergeht, die Pflanze in das Tier … Sie haben doch hier in der Gegend eine kleine Blume bemerkt – an sum­pfi­gen Stellen – die sich schliesst, wenn sich kleine Insekten hineinsetzen, und diese tötet?»

«Ja.»

«Nun, so gibt es auch beim Menschen vielfache Über­gän­ge. Was hier äusserlich eine Pflanze scheint, ist in seinen Bedürfnissen doch schon fast Tier. Was hier Mann scheint, ist doch in seinem Empfinden nicht nur das, was man insgemein männlich nennt – sondern auch weiblich.

Alfreds Wangen glühten. Ein Zittern ging durch seine Glie­der. Wohltuend strich ihm jetzt der Nachtwind über sein un­be­deck­tes Haupt. Hin und wieder war eine freie Stelle und das Licht des steigenden Mondes tastete über die kleinen Rasen­plätze mit dem Zierbeeten.

«Sie verlangen nach Hedwig und doch bleibt Sie ihnen gleich fern. Oder ist es nicht so?»

«Ich weiss nicht … Ich glaube … »

«Lieber Alfred – was Sie eben befremdet das kenn’ ich; ich rede nicht von ungefähr so zu Ihnen. Es gab eine Welt und gibt heute noch eine, in der das nicht so unverständlich seltsam ist. Sie wollen selbst begehrt sein, Sie schätzen und pflegen ihr Äus­se­res, und Sie sind noch jung … Aber das ist mehr ein weib­lich­es Verlangen; das ist es, was Ihrem Glück fehlt.»

«Ich weiss nicht, was ich von mir denken soll!»

«Dass sie ein liebenswerter junger Mann sind, der um seine Vorzüge willen begehrt sein möchte, weil er nur so em­pfin­det, fühlt, weil die Natur ihn so geschaffen hat.»

Was Alfred so lang gequält hatte, ward ihm nun ver­ständ­lich, obgleich ihn die Erkenntnis selbst befremdete. «Aber was soll ich! … »

«Es ist wahr, Alfred, Sie wären nicht der Erste und Letzte, der an dieser feiner Natur zugrunde ginge, weil der stumpfe Wahn der Unwissenheit sie hier verfolgt. Wäre ihnen die Er­kennt­nis verschlossen geblieben, das Glück wäre ihnen deshalb doch nicht gekommen, denn die Natur waltet auch blind; und wie Ihr Empfinden Sie bis jetzt meisterte, so würde es auch ferner tun. Sie hätten sich eines Tages doch erkannt und dann – dann wäre vielleicht kein Ausweg mehr gewesen. Wieviel Ehen wurden nicht so ein gebrochenes Glück!»

«Und nun – nun! … Oh ich bin elend!»

Sie waren an einer Laube angekommen, die an der Grenze des Gartens war. Dahinten lag das Feld und noch ferner der Wald – alles im tiefen Schweigen, in violetten Halbschatten und gelblichen Licht; nur die Wachtel schnarrte im Felde – Alfred stürzte in die Laube, setzte sich auf die Bank und begrub sein Gedicht in den Armen, indem er bitterlich weinte. Eine Weile stand Roman neben ihm und schwieg, dann strich er mit der Hand über Alfreds Kopf.

«Alfred! Alfred! Hör doch!»

Keine Antwort.

«Alfred, du sollst ja nicht unglücklich werden – wenn du nur willst … hör mich bloss! Du sollst es dir bedenken. Ich ver­steh dich. Es musste so kommen. Auch ich habe bittere Er­fah­run­gen hinter mir.»

Alfred hörte wohl, aber noch immer regte er sich nicht.

«Wenn du nicht hörst, muss ich glauben, dass du mir grollst – mich hassest.»

«O, ich bin elend!»

«Nein, das sollst du nicht sein.» Er neigte sich zu ihm und sprach halbflüsternd: «Wenn du nur willst, Alfred – ich bin ja vermögend – was ich kann, steht dir zu Gebote. Wir gehen fort von hier, wenn du willst – in den Süden, nach Italien, nach Rom, in den Orient, wohin du willst. Dort ist auch eine andere Welt. Dort verfolgen dich keine grausamen Gesetze. Du woll­test doch dahin? Ich will dir erzählen, wie es dort ist.»

Allmählich richtete Alfred den Kopf auf. Ein Moment des Schweigens. «Und ich dachte, Roman, du wärst mein Feind!»

Es zog wie Leben in Alfreds Seele. Er sollte in die Welt, in die er sich sehnte! Aber allein?

«Ach Du!», sagte Roman und fasste ihn an beiden Hand­ge­len­ken. «Du weisst es ja nicht, wie es ich gelernt habe, hier zu spielen. Jetzt kann ich’s. Und ich liebe trotz allem die Welt. Ich weiss, dass ich viele Feinde habe, aber ich liebe die Welt den­noch. Ich weiss, viele würden sagen: Du solltest lieber sterben, aber ich lache ihrer und lebe und liebe das Leben –, Du konn­test es natürlich nicht wissen; aber ich ahnte es, ich wollte dich prüfen. Und sieh, es ist mir gelungen! Also willst Du es an­neh­men, willst Du hinaus? Es wird dir erst fremd sein draussen … Aber sage, bist Du am Ende nicht hier auch ein Fremder ge­we­sen? In deinem Alter ist man sonst kein Hypo­chon­der und Welt­feind. Willst Du?»

Wieder atmete Alfred tief auf. «Aber ... Du?», fragte er zögernd.

«Ich? – Wenn Du erlaubst, so gehen wir zusammen.»

«Zusammen … ! Also nicht allein. Ja – aber … », stam­mel­te Alfred, als besänne er sich, ob er so etwas annehmen dürfe.

«Kein Aber! Wenn Du nur willst, so gibt es kein Aber.»

«Ich will mich an den Gedanken gewöhnen.»

«Wer lässt jetzt um sich werben!», sagte Roman scherz­haft. «Aber nun wollen wir den Vertrag besiegeln.» Er hielt doch immer seine Hände fest und küsste ihn auf den Mund. Eine warme Blutwelle zitterte durch Alfreds Leib; er fühlte sich plötzlich, wie geborgen, als hätte man ein böses Urteil von ihm genommen. Er liess es wie träumend geschehen, dass Roman ihn zu sich zog, auf sein Knie.

«Verzeihst Du mir, Alfred?»

Statt aller Antwort legte Alfred seinen Kopf auf Romans Schulter. Eine Weile sass er so halb liegend; Roman küsste seine heisse Wange.

«Armer Junge! Du hast dich gewiss viel gequält. Und wa­rum? Warum?» Die letzten Worte sprach er kaum hörbar vor sich hin. Ein Windstoss fuhr durch das Laub der Akazien. Alfred richtete sich erschrocken auf.

«Es ist ja nichts. Nur die Natur flüstert – die versteht uns. Du fürchtest dich vor den Menschen? Auch das soll anders wer­den. Du hast dich gefunden – Du wirst deine Welt finden.»

«Ach Roman, wie dank ich dir! … Dass ich so dumm war!»

«Wie solltest du! Du musstest ja auch um dich werben las­sen.»

Roman war glücklich, einen jüngeren, schönen und ihm eben­bürtigen Freund gefunden zu haben; mehr als einmal hatte er seine Neigung unwürdigen geschenkt.

«Alfred – wir gehören jetzt zusammen?»

«Ja, – aber die Meinen?»

Du bist jetzt mündig und kannst tun, wie dir beliebt. Geld brauchst du nicht; das habe ich.»

«Komm!», sagte Roman nach einer Pause. «Lass uns ge­hen! Wir verweilen schon geraume Zeit, obgleich sie mir allzu schnell verflogen ist. Aber jetzt mutig! Du kämpfst nicht mehr allein gegen alle – gegen dich selbst. Nun willst du den Mut finden, heiter zu sein, wie ich es bin.»

Sie gingen wieder durch die Gänge zurück. Der Mond stand voll und leuchtend an den Himmel. Alfred erschien die bekannte Plätze wie ein erstorbenes Heim, das sehr nach vielen Jahren wieder sah.

«Du lebst, Alfred», sagte Roman heiter und drückte seinen Arm fester.

Nun lächelte auch Alfred.

«Und das ‹gnädige Fräulein› wird dich nicht mehr so unschuldig quälen?“

«Gnädig? Ha! Ich hab’ das Wort nie aussprechen können. Ich bin doch kein Sklave.»

«Ja, Liebster, wer mit Frauen umgeht, muss das Schmei­cheln und demütige Prahlen lernen, sonst straft man ihn mit Ungnade, wie dich.»

Sie stiegen zum Balkon hinauf. Da stand auch Hedwig mit einem Herrn.

«Ah, Sie da, Herr Baron! und Herr Alfred!»

«Ja, wir haben nachgeholt, was wir längst versäumten: wir haben Freundschaft geschlossen. Herr Alfred wird mich ins Aus­land begleiten.»

«So – so! … » Hedwig war nicht wenig erstaunt. Alfred gewann in ihren Augen. Warum sie wohl der Weltmann mit solch knabenhaften Träumer verbunden hatte?!

«Ja ja, es ist so, gnädiges Fräulein. Nicht wahr, Alfred?»

«Ja. Und ich freue mich sehr.»

 

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Weib um Weib

Ersatz für manches bietet die Welt,

für Liebe bietet sie nichts.

August Graf von Platen, Gaselen 133

 

Zusammenfassung: Baronin Nataly von Harder, eine junge und geistreiche Frau, die ihren Gatten ein Jahr lang betrauert hatte, wollte nun wieder in der Welt leben, insofern in der kleinen Universitätsstadt von einer solchen die Rede sein konnte. Sie gab einen Empfangs{-)abend, unter den Gästen Walter, ein junger, attraktiver Professor, doch niemand wusste genaueres über seine Familiensituation. Hatte er keine anderen Interessen als die Wissen­schaften und seine Bücher? War er ein Feind des weiblichen Geschlechts? Hatte er eine unglückliche Liebe durchlebt? Doch das war überhaupt nicht so. Er, Robert Walter, hatte ein Semester Medizin studiert und wusste, dass Gesundheit zuerst kam. Deshalb hatte er beschlossen, ein gesundes Mädchen einfacher Herkunft zu heiraten, das ihn in seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht stören würde. Er hatte sie am Strand getroffen, sie war hübsch, gesund. Jula, seine Frau war estnischer Herkunft, die Tochter eines Bauern, sie besorgte ihm den Haushalt und sie war sein Weib. In einem ungrammatischen Deutsch unterhielt er sich mit ihr. Doch für eine Teilnahme an gesellschaftlichen Leben war sie nicht die Richtige. Das war sein Geheimnis. Die Frau Baronin hatte ihm erzählt, dass sie im Sommer ans Meer fahren. So beschloss er nun auch dorthin zu fahren. Seine Frau er­mun­tert er, mit einem jungen Mann, mit dem sie freundschaftlich verbunden ist, zu verreisen. Am Meer trifft er die Frau Baronin und sie beginnen einander regelmässig zu sehen. Er schlägt seiner Frau nach dem Sommer vor, sich scheiden zu lassen. Sie willigt ein. Jetzt kann er die Baronin heiraten. Aber der Zauber dauert nicht lange: Der Mann, der nun den Vorwürfen der Frau Baronin unterworfen ist, schliesst sich zunehmend ein und vertieft sich in seine wissenschaftliche Forschung über die Skythen.

Im nächsten Sommer fährt Baronin Nataly allein ans Meer. Sie bleibt lange fort. Da erhält sie die Botschaft, ihr Gatte sei plötzlich gestorben. In seinem Sterbezimmer liegt die Geschichte der Skythen und darunter hatte er geschrieben: «Mein Werk ist vollbracht.» Nataly legt Trauer an, sie wand mit Eleganz den schwarzen Schleier um ihren schlanken Hals und ihre Augen schimmerten feucht mit bezaubernder Melancholie.

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Doppelliebe – Novellen aus Estland,
Umschlag der 2. Auflage, 1903
Titel der 1. Auflage 1901
Titel der 2. Auflage 1903

Escal-Vigor

Nebenstehendes Zitat ist aus dem Roman Escal-Vigor, einem der ersten modernen Romane, in dem eine schwule Beziehung beschrieben wird.

Georges Eekhoud, geboren am 27. Mai 1854 in Antwerpen, gestorben am 29. Mai 1927 in Schaerbeek, war ein frankophoner belgischer Schriftsteller und Anarchist.

1899 erschien sein Roman Escal-Vigor. Darin wird die Liebe zwischen Männern thematisiert. Das Buch löste einen Skandal aus und die Staatsanwaltschaft von Brügge klagte ihn an wegen «Angriffs auf die öffentliche Scham­haf­tig­keit». Bekannte französische und belgische Schrift­steller setzten sich zu seinen Gunsten ein und plädierten für die künstlerische Freiheit, einen solchen Roman zu schreiben. Im Gerichtsprozess wurde der Autor frei­ge­spro­chen. Eekhoud gilt heute als einer der wichtigsten belgischen Schriftsteller seiner Zeit.

Escal-Vigor ist der Name eines Schlosses, wo der Deichgraf eine Beziehung zu einem unbeliebten und verstossenen Bauernjungen aufnimmt. Die Parallelen zur neben­ste­hen­den Novelle sind offensichtlich und haben eine soziale Sprengkraft, die auch im Werke von Elisàr von Kupffer zu beobachten sind.

 

Escal-Vigor, die deutsche Übersetzung von 1903, erschienen im Max Spohr Verlag.

Es gibt einen zeitgenössischen Kommentar zum Buch von Dr. jur. Numa Praetorius, 1901, im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Vol. 3.

Dr. jur. Numa Praetorius ist ein Pseudonym für den Strassburger Juristen Eugène Wilhelm, 1866–1951.