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Aus einem wahrhaften Leben

Vorwort des Herausgebers

Ich habe 45 Jahre lang als Freund, ununterbrochen und unmittelbar, das Leben Elisarions (von Kupffer) teilen dür­fen; ja, als er am 31. Oktober 1942 starb, waren es über 51 Jahre, dass wir einander kennengelernt hatten und bald Freunde geworden waren. Die geistige Zielsetzung des Lebens ver­knüpf­te, über starke Gegensätze der Tem­pe­ra­men­te hinweg, und verband uns in steigendem Masse wie zu einer Doppel­ein­heit.

Den Bericht seiner Jugend «Aus einem wahrhaften Leben» hat Elisarion bis zum Jahre 1902 ausgeführt; mein ent­spre­chen­der «Wie ich wurde» geht bis 1898. Die darauf­fol­gen­den Zeiten sind durch sein Lebenswerk – dichterisch, den­ke­ri­sch, bildnerisch — beurkundet; und so das Meine in dich­te­ri­schen, philosophischen, wissenschaftlichen Ar­bei­ten.

Immerhin hoffe ich, dass meine Lebenszeit mir noch ge­stat­ten wird, eine «Chronik dieser 45 Jahre nie­der­zu­schrei­ben, um zu belegen, wie unsagbar viele und bittere Wi­der­stän­de Elisarion zu bestehen hatte und wie er ihnen mit unentwegter seelischer Energie die — un­wahr­schein­li­che — Verwirklichung seines geistigen Wollens abgetrotzt hat.

Da Elisarion die Texte dieses Baches in Zeitabständen – zwischen seinen malerischen Arbeiten – geschrieben hat, gibt es etliche Wiederholungen; ich habe sie unverändert stehn gelassen, um nichts zu «überarbeiten»; ebenso gelegentliche «baltische» Wortwendungen, die nicht mehr oder nicht überall geläufig sein mögen. Elisarion sprach übrigens die deutsche Muttersprache – mundart-freies Hochdeutsch – ohne jede baltische Klangfärbuug und Betonung.

In der letzten Zeit vor seinem Tode hatte Elisarion, so­zu­sa­gen als einen wesentlichen Teil der doch nicht mehr zu vol­len­denden Lebensgeschichte, seinen «Weg der Liebe» auf­ge­zeichnet. Ich schliesse diese Blätter dem Haupttexte an, sie schliessen würdig diese Urkunde eines «wahr­haf­ten Lebens» ab.

 

Aus der Lebensstätte Elisarions in Minusio

den 18. Juni 1943

 

Eduard von Mayer

Die Wahlsprüche meines Lebens

Jetzt weiss der Leser, aus welcher Menschenart und -mischung ich hervorging, wo geistige Begabung, künstlerische Begabung, musikalische von Seiten meiner Mutter, religiöse Anlage, Ver­stand, Vernunft, Energie und viel Herzensgüte sich zusam­men­fan­den. Da erbte mein Eigenwesen vielerlei, leider aber neben aller Fähigkeit, wie sich zeigen wird, auch physische Zartheit. Und dazu kam viel Krankheit, so dass der Schaffenswille erst recht alle seelischen Kräfte anspannen musste, um nicht zu versagen, so dass von neurasthenischer Willensschwäche keine Rede sein kann. Und dazu kamen politische und soziale Un­ge­rech­tig­kei­ten, die allein genügt hätten, einen zarten Menschen zu lähmen. Wenn ich mein Leben überblicke, so war es bisher ein Wunder, inmitten von Wirrnissen. Zwei Wahlsprüche be­zeich­nen mein Leben: «Es ist, wie es ist», das heisst, die nüch­terne Einsicht in die harte Erfahrungswelt. Und der andere Spruch: «Halt aus, und du wirst Wunder sehen!» Gott gebe, dass ich damit bis an das Ende dieses Lebens bestehen möge. Zweimal las ich schon in Lebenserinnerungen, die Verfasser sprächen nicht gerne über sich selbst und redeten deshalb sehr viel über andere, die ihnen begegneten. Ich meine: über nie­man­den hat man ein Recht, so deutlich und eingehend zu berichten, wie über sich selbst – wenn man etwas über sich und sein Werden zu sagen hat. Nur wer sich selbst etwas bedeutet, im tiefsten Sinne, und sich darüber klar wird, kann auch den andern etwas bedeuten. Es gibt eine falsche Be­schei­den­heit, nach Art der chinesischen Zeremonien. Und es gibt eine Art Mimikry, wo sich der Autor reichlich bemüht, sein wahres Leben im bunten Kreis der andern zu verstecken; es wird wieder mit Vorsicht Theater gespielt, um bei der Nachwelt geduldet und gelobt zu werden. Das ist nicht meine Aufgabe. Entweder meine Lebensbotschaft in Geist, Ethik und Kunst erfüllt sich und wirbt doch noch den Menschen und gibt ihnen eine neue Kraft der Wahrhaftigkeit und Duldung, das heisst, des möglichen Friedens einer Freigemeinsamkeit, oder – mir liegt an dieser falschen Nachwelt des Abstieges so wenig wie ihr an mir.

Gelt – das klingt nicht höfisch und nicht demokratisch? Soll es auch nicht. Ich gebrauchte schon seit 1919 das Wort «eu­de­mo­kra­tisch» will heissen: die Guten, Tüchtigen aus dem ganzen Volke, ohne zufälliges Ansehen, sollen zu Wort und Ansehen kommen. Aristo-demokratisch. Wird das möglich sein? – Und wie? … Durch Überwindung des Machtgedankens und der Vergewaltigung. Im Religionsleben sind wir seit Jahr­hunderten von Kämpfen so weit gekommen, dass man sich im Religiösen, im Glauben «ziemlich» frei bestimmen kann. Auch die Ethik, Moral, mit ihren Eigengesetzen wird darin wohl einbezogen werden müssen. Und dann auch die Staatswahl auf jedem Territorium ohne Staats«hörigkeit», wie sie noch heute herrscht, als eine verschleierte Art von Leibeigenschaft. Re­li­gions­freiheit – Moralfreiheit – Staatsfreiheit. Aber – eine gute Erziehung mit Aberziehung der Rüpelei und taktlosen Rauflust. Also eine aristokratisierte, geadelte Freiheit. Nur das könnte noch der Weg zu einem menschenwürdigen Dasein werden. Sonst – wird der Homo Insapiens zu einem halbgebildeten Sport­affen.

Geburt – ein Opfer der Freude

Das Haus, in dem ich geboren wurde, lag, wie erwähnt, in länd­licher Einsamkeit; fast ringsumher schweifte der Blick Tan­nen­wäl­dern nach, auf der einen Seite trat der Wald bis an den Garten heran. Der grüne Vorhof, durch einen Zaun begrenzt, reichte bis an die Landstrasse. Da stand ein überdachter Zieh­brunnen von zwei Tannen gehütet; oft habe ich in seinen Grund geschaut. Die Stallung, in der sich Wagen, Pferde und einiges Vieh befanden, lag jenseits der Strasse, so dass sie nicht ins Auge fiel. Auch auf den Landschlössern war das Sitte, solche Bauten der Notwendigkeit möglichst den Blicken durch Bäume zu verbergen. Rückwärts des Hauses schweifte der Blick im Sommer über ein Ährenfeld; im Winter habe ich dort bis­wei­len das Nordlicht leuchten sehen, und besonders ist mir der rotgrün schimmernde Arktur in Erinnerung, der fern und tief über dem Walde stand. Ausser Tannen gab es viel Erlen, sonst war der Garten nicht sehr gross und hatte auch nicht viel Obst­bäume.

Sophienthal hatte man das Haus genannt, obwohl man eigentlich nicht einmal Hügel sah, aber es war wohl eine Art Senkung, fast unsichtbare Mulde, deren arge Wirkung sich darin äusserte, dass hin und wieder Grundwasser entstand, so dass der Keller unter Wasser geriet. Ich erwähne das, weil ich, und nicht bloss ich, infolgedessen an Fieber gelitten habe; man hat es Malaria genannt. Und wirklich verlor sich das, als wir später in das Landschloss Jootma überzogen, was für mich von grosser Bedeutung wurde, aber leider etwas spät, denn bis zu meinem elften Jahr hat diese Tatsache auf meine Gesundheit schlecht gewirkt.

Getauft wurde ich von Pastor Paulsen zu Ampel oder Gross-Marieen auf die Namen Elisàr August Emanuel. Meine Taufzeugen waren: Herr Viktor von Henning zu Jootma, Fräu­lein Alla von Fock zu Taps, und an erster Stelle Herr August von Kurssel zu Koik, nach dem ich den zweiten Namen erhielt. Das war ein ganz sonderlicher Herr, aus altem Geschlecht, das auch in Frankreich und Schottland vorkommt, der bei Ge­le­gen­heit meiner Taufe den Ausspruch tat: «Meine andern beiden Taufsöhne endeten schlimm (der eine, ein Sohn des Pastors, nahm sich das Leben, der andere wurde wahnsinnig), hoffen wir, dass es diesem Taufsohn gut geht!» Er wurde bisweilen so aufgeregt, dass er seine Leute hinter einer vergitterten Schran­ke empfing, wie es heute wohl in Banken üblich ist. Einmal als er bei uns war, und ich noch ein kleiner Bub, äusserte ich den Wunsch nach einer Bilderbibel. Solch seltener Wunsch eines Kindes müsste erfüllt werden, meinte er, hat mich aber wohl missverstanden, denn statt der ersehnten Bilderbibel erhielt ich ein unansehnliches Neues Testament ohne Bilder, mit einer Widmung von ihm. Der bilderfrohe Knabe ward sehr ent­täuscht, aber es tut mir doch leid, dass das Büchlein verloren ist. Doch hat der wunderliche Herr mir zur Taufe eine Summe von etwa 1200 Mark (500 Rubel) gestiftet, die für mein spä­te­res Studium auf Zinseszins gelegt wurden. Von meinem andern Taufvater erbte ich einen schönen Waschbärenpelz, den ich öfters auf Gemälden später verwandte, bis er ein Opfer der Kriegs­motten wurde.

Mein Vater – des Klugen blinder Glaube

Mein Vater Adolf von Kupffer war ein überzeugter Christ, der sich so unbedingt auf Gottes Erdenallmacht verliess, dass er sich niemals zu einer Feuerversicherung veranlasst fühlte. Dieser Glaube mag für ihn eine grosse Kraft bedeutet haben, weil er sich der absoluten Fügung Gottes in die Arme warf, nachdem er zuvor ein Buch in Berlin veröffentlicht hatte, in dem er mit viel Verstand vernunft- und naturgemäss Gottes Sein und Wirken zu beweisen suchte. Nachher verwarf er selbst sein Buch (das gut geschrieben war), weil sein heller Verstand das Vergebliche dieser Beweise einsah, und ergab sich in die­sem Punkt dem absoluten Glauben. Credo, quamquam adsur­dum sit. So trat er auch in die Ehe und zeugte Kinder, alles in Gottvertrauen, obwohl er als Arzt und herzlicher Mensch sich das eigentlich besser verboten hatte, denn er war seit jenem Sturz als Primaner leidend, nervenleidend, las des Nachts lange und schlief erst gegen Morgen ein, was natürlich arg genug war, da er doch seine Praxis als Arzt ausüben und seine Fahrten machen musste.

Er stand spät auf, manchmal erst gegen elf Uhr vor­mit­tags. Aber er war so beliebt und hochgeachtet, dass er trotzdem viel begehrt wurde und seine Praxis eine immer ausgedehntere wurde, auch im buchstäblichen Sinne, da sie zeitweise sich auf 30 Kilometer erstreckte, ja sogar bis Reval reichte, wohin er von der Gräfin Sievers gerufen wurde. Um seine Tätigkeit er­fül­len zu können, gebrauchte er Morphium in Einspritzungen, und ich habe selbst als Knabe gesehen, wie meine Mutter ihm solche machte. Überdies rauchte er sehr stark, bis 50 Zi­ga­ret­ten am Tage.

Schweren Herzens berichte ich das über meinen Vater, der sonst ein hochachtbarer, gütiger Mann war, von festen sitt­li­chen Grundsätzen. Dieser Fall beweist aber, wie das Gott­ver­trau­en in einen Allmächtigen auch in die Irre führen kann. An den Folgen haben wir Kinder zu leiden gehabt, und ich be­grüs­se es, dass nun doch der Begriff der Eugenik, der gesunden Zeugung, immer mehr an Boden gewinnt. Es ist wahrhaftig Zeit, dass der mittelalterliche Wahn schwinde, Kin­der­er­zeu­gung wäre unter allen Umständen moralisch und wün­schens­wert. Alles was ich im Anschluss an Krankheitserlebnisse zu berichten habe, wird auch erklären, warum ich, obwohl ich kein Homosexueller und kein Feind der weiblichen Reize bin, immer mehr mich darin bestärkte, keine Ehe zu schliessen, in deren Folge es Kinder gegeben hätte. Ich selbst habe, trotz vielen Leidens, alle Narkotika prinzipiell gemieden.

Mein Vater war ein schöner und liebenswerter Mann, hatte grosse graue, lebhafte Augen und einen dunkelblonden Voll­bart und war, wie gesagt, sehr beliebt, und selbst ein Verehrer anmutiger Frauen. Mein Vater war überhaupt ein Mann, der einen lebhaften Schönheitssinn besass, den ich einmal auch erlebte, wo es sich nicht um ein weibliches Wesen handelte. Als ich mit ihm die Generalin von Kämpfert, geborne Freiin von Wrangel, besuchte, da sahen wir dort ihren Pflegesohn, den bildhübschen Prinzen Andronikoff, einen kaukasischen Knaben von 16 Jahren, den er herzlich umarmte und mit freudigem Lächeln küsste. Es freut mich, dass ein so ausgesprochener Frauenverehrer von sittlichem Ernst, wie mein Vater, auch da Augen und Sinn offen behielt, entgegen allen blassen Theorien. Ja, mein Vater, mit seinem Bart und den lebensvollen Augen, hatte doch auch etwas von einem altgriechischen Typus, wie ein Sophokles, ein griechischer Dichter oder Philosoph oder vielleicht ein Hippokrates. Ich sage das gern, wo ich doch auch scheinbar heftiger Ankläger gegen ihn werden musste, wegen der Zeugung in unhygienischem Zustände. Als so lebhaften, lebensheitern Menschen habe ich ihn später, nach 1884, besser kennen gelernt, als er nach einem Blutsturz Morphium und Nikotin an einem Tage aufgab und nach einer überstandenen Krisis ein gesünderer Mensch wurde. Aber in jenen Jahren wurden seine vier Kinder geboren, und damals habe ich ihn eigentlich wenig gesehen, da er, wie gesagt, spät aufstand, dann seine Fahrten antrat und sich abends mandrinai müde auf einem Sofa einschlief, während meine Mutter ihm noch oft spät bis in die Nacht Gesellschaft leistete. Dadurch kam ich in meiner Kindheit spät zur Ruh, gewöhnte mir später noch an, bis in die Nacht hinein geistig zu arbeiten und habe mich selbst in viel späteren Jahren systematisch umerziehen und ein sehr geregeltes Leben führen müssen.

Trotzdem mein Vater Landarzt war, ging er nie zu Fuss, sondern machte alle Besuche im Wagen, bis 1884 fuhr er win­ters sogar in einem geschlossenen Schlitten.

Kind – in der Wirrwelt

Ich hatte, wie erwähnt, schon als Kind viel unter Krankheiten zu leiden, und wenn ich erzähle, dass ich mit fünf und sechs Jah­ren Hirnhautentzündung (Meningitis) und Gelenk­rheuma­tis­mus hatte, so staunt wohl jeder Arzt, dass ich überhaupt noch lebe und so viel habe leisten können. Ich weiss nur, dass ich während ersterer Krankheit öfters rief: schneidet mir den Kopf ab ! – weil ich so furchtbare Kopfschmerzen hatte. Wie mir viel später ein Arzt sagte, ist das eine Krankheit, bei der von 1000 einer am Leben bliebe und dann gewöhnlich ver­blö­de­te. Als ich zu dem Bürgermeister von Muralto äusserte, es wäre ja allerdings schon beinahe eine Art Wahnsinn, ein sol­ches Riesenwerk, wie meine «Klarwelt», ohne Auftrag zu schaffen, da entgegnete Dr. jur. Beretta, es wären aber nur gewisse «Verruckte», die die Menschheit vorwärts brächten. Freilich ist es sehr anormal und verrückt, die Menschen, die in ihrer «Tumbheit» hindämmern, zu einem höheren Leben er­wecken zu wollen, wobei man doch statt Dankbarkeit aller­meist nur offene Bekämpfung und heimliche Feindschaft erntet, bis vielleicht aus dem Martyrium einmal für einige etwas Gutes entsteht, um dann wieder von schlauen Machtmenschen miss­braucht zu werden. So ist es. Beweis: das Schicksal von Jesus und die Geschichte des Christentums.

Zurück zu meinen Jugendleiden! die manchen die Augen öffnen werden, welche seelische Energie und Meisterung des Körpers dazu gehörten, dass ich trotzdem eine Menge studierte und nachher Werke auf Werke schuf. Auch der Gelenk­rheu­ma­tis­mus blieb nicht ohne Folgen. Eine gewisse Schwäche des Herzens hatte ich schon als Knabe, sodass ich nie grosse Mär­sche leisten konnte und, bei meiner Empfindlichkeit der Nerven, mich auch bei allen Jugendspielen und Treiben fern hielt. Dazu erkrankte ich mit etwa acht Jahren schwer an Scharlach, infolgedessen ich mit einem Ohr schlechter hörte. Bis zu meinem 16. Jahr sah ich sehr gut, dann trat nach den Masern eine wachsende Kurzsichtigkeit ein, derzufolge ich später vom Militär frei wurde; aber sie wurde immer lästiger. Trotzdem habe ich mich bemüht, ohne Gläser zu leben. Nur wenn ich weiter sehen musste, benutzte ich ein Einglas, das ich versteckt in einer Hand hielt, um unbemerkt sehen zu können. Auf einem Bilde habe ich das später mit scherzhafter Phantasie verwandt: der Jüngling in silberblauem Knabenkostüm vor moosgrünem Vorhang mit einem erhobenen Einglas. Dieses Bild erregte besonders bei englischen Besuchern Beifall. Wenn ich als Knabe im Sande spielte und Festungen baute, so er­krank­te ich mehrmals an Mittelohrentzündung, die überaus schmerzhaft und auch gefährlich ist. Wie gesagt, Stiefmutter Natur hat vieles getan, um mich aus ihrer Welt zu schaffen, darum konnte ich sie meinerseits mit Recht als «Wirrwelt» empfinden, und später trotz meiner Liebe zur Anmut, wie sie ja aus all meinen Werken spricht, auf Zeugung verzichten und doch zu harmonischer Einsicht kommen. Obwohl ich meine Mutter mit Hochachtung liebte, wurde das Weib als «Zeu­ge­rin» für mich etwas Sekundäres, von zweiter Bedeutung, was wohl dieser Natur und Welt angehört, aber nicht in das Bereich glückseligen Ideals. Darum sind auch auf meinen künst­le­ri­schen Werken die Merkmale irdischer Mutterschaft nie betont. Das ist manchmal, ganz fälschlich, als «homosexuell» ange­spro­chen worden, aber nur von solchen, die verbildet, mit bestimmten Vorgedanken oder Verdrängungen vor mein Werk traten. Gerade Frauen und junge Mädchen fühlten sich un­mit­tel­bar angezogen und beglückt, auch echte Männer. Am we­nigs­ten boten meine Werke ausgesprochenen Homosexuellen, die das stark Männische suchen, wie es bei Michelangelo der Ausdruck seines Verlangens war, namentlich in Nebengestalten seiner Gemälde. Zu dieser Gruppe gehören auch solche Hetero­se­xuel­le, die, selbst schüchterner Natur, die Ergänzung in energischen Frauen suchen. Auf dieses Gebiet werde ich noch eingehender zurückkommen müssen, da es von meinen Fein­den mit wohlberechneter Absicht ausgenutzt worden ist, um die ideale Botschaft meines Werkes vor törichten und unauf­rich­tigen Menschen zu schädigen. Trotz erwähnter Krankheiten war mein geistiges Leben sehr rege. Meine einzige Schwester Friederike, gewöhnlich Frieda genannt, sieben Jahre älter als ich, hatte eine angenehme Hauslehrerin, Fräulein Marie Klein. Zu der kam ich als Fünfjähriger im geheimen, um bei ihr Lesen zu lernen. Und zwar lernte ich das schnell bei der Lektüre von «Max und Moritz», dem bekannten humorvollen Buch von Wilhelm Busch, obwohl ich selbst durchaus keine Anlage zum Lausbuben hatte. Und zu Weihnachten 1877 überraschte ich meine Eltern, die nichts davon wussten, indem ich ihnen aus dem Roman «Johannes Gnades Selbsterkenntnis» vorlas, der in der Familienzeitschrift «Quellwasser» erschienen war. Mit meinen ersten Lebensjahren will ich die Leser nicht aufhalten. Erstaunlich genug ist es, dass man beim Erscheinen in dieser Welt so wenig überrascht ist und einem so wenig davon haften bleibt, was erwähnenswert ist. Erzählen will ich nur, was meine Mutter mir mehrmals mit lächelnder Zufriedenheit berichtete, dass sie nie Sorgen hatte, wie ich vor fremdem Besuch er­schei­nen und mich betragen würde. Ich wäre von selbst gegangen, schon mit zwei Jahren, um mein neues schottisches Jäckchen anzuziehen und nachher wieder von selbst gegangen, es scho­nend auszuziehen und das alte statt dessen anzulegen. In diesem schottischen Röckchen wurde ich auf einer Reise in Reval photographiert, und ich habe den Kopf auf dem Bild der «Weihnachtsmadonna» meiner Mutter verwendet.

Meine Mutter – duldende Liebe

Meine Mutter war eine Frau von edler, stiller Schönheit, dun­kel­blond mit grauen Augen, nur sah ich sie leider schon in frühen Jahren leidend. Sie war nicht, was man ein «Weibchen» nennt, nicht von jener den Mann umschmeichelnden Art, aber auch gar nicht herb, sondern von jener edlen, anmutigen Weib­lichkeit, die bloss ruhig beglücken will und wohl weiss, was ihr zusteht und was sie zu tun hat, um Gatten und Kindern ein schönes Heim zu bereiten, in dem sie alle betreut und man von ihrer reichen Tätigkeit wenig laut werden spürt. Nie habe ich einen Wortwechsel oder gar Streit zwischen meinen Eltern erlebt, es war eine Liebesehe und zugleich eine wahre Ehe bis in den Tod. Nur erprobtes Leiden konnte mich von Ehe und Nachkommenschaft zurückhalten, da ich gar keine «Jung­ge­sel­len»-Natur bin. Einige Jahre lang lebten sogar meine beiden Grossmütter, die Mutter und die Schwiegermutter im Hause meines Vaters, und doch gab es nie Zerwürfnisse, dank der Güte meiner Mutter, und wohl auch meiner mütterlichen Gross­mutter, die eine sehr friedfertige Frau war. So bin ich im Frieden aufgewachsen, von Liebe betreut. Meine Mutter war nicht bloss mit Mann und Kindern liebevoll, vielmehr gegen alle, auch gegen ihre Dienstboten, die sie in deren Krankheit pflegte, wie einen Kutscher in dessen schwerer Leidenszeit. Sie verstand es, vorzüglich zu lenken und gehorsame Achtung zu gewinnen. Sie war nicht bloss eine Namensschwester der hei­li­gen Elisabeth von Thüringen. Mir war sie selbst eine heilige Elisabeth. Besonders hing ich an meiner Mutter, der ich alles anvertraute. Meinen Vater sah ich, wie gesagt, nur wenig in jenen frühen Jahren, so dass eine gewisse Fremdheit zwischen ihm und mir herrschte, obwohl er mir nie hart begegnet ist und ich eigentlich nie gestraft worden bin. Dazu gab’s wohl auch keinen ernstlichen Anlass. Wir alle vier Kinder hingen mit Lie­be an unsern Eltern. Das erstgeborne Kind war meine Schwes­ter Frieda (1865–1928), äusserlich meinem Vater ähnlich, der ich besonders in viel späteren Jahren nahe trat. Zweites Kind war mein Bruder Johannes (1867), in dem sich mehr die Anla­gen eines Ingenieurs entwickelten. Dann kam ich, 1872, und 1877 mein Bruder Adolf, nach dessen Geburt mein Vater den ehelichen Umgang einstellte, mit Rücksicht auf die immer zartere Gesundheit meiner Mutter. Dass mein Vater physisch darunter gelitten hat, da er seiner christlichen Ethik gewis­sen­haft nachlebte, habe ich später von ihm selbst erfahren, be­son­ders als nach 1884 seine Gesundheit eher erstärkte.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers

 

Wahrheit oder Dichtung?

Auf dem Meridian von Delos

Normannisches Muttererbe

Aus väterlich geistigem Geschlecht

Baltische Art

Das letzte Jahrhundert meines Zweiges

Die Wahlsprüche meines Lebens

Geburt – ein Opfer der Freude

Mein Vater – des Klugen blinder Glaube

Kind – in der Wirrwelt

Meine Mutter – duldende Liebe

Tante Mathilde von Maydell

Die geistige Freundin des Kindes

Der erste Tod

Heimschulung

Balten – keine Russen

Hinaus ins feindliche Leben

Der erste Schultag!

Der Bühne erster Zauber

Ein heiterer – ein seltener Christ

Karl I. Stuart?

Der Verzicht auf das Krönungsfest

Der Einzug in Schloss Jootma

Wieder in Reval

Erste religiöse Bedenken

Schwere Erlebnisse

Eltern und Sohn

Russischer Machtwahn und Demokratie

Der zweite Tod

Name ist nicht «Schall und Rauche

Wenn Buben reif werden

Erotisch – nicht sexuell

Agi, die Frühgeliebte

Das Jubiläum meines Vaters

Seelenadel

Die arme Dame

Zwischen Jootma und Lechts: Elisar und Agi

Wandlungen

Letztes Schuljahr in Reval

Ich und die russische Welt

Gedanken, die voraneilen

Sankt Petersburg, das alte kaiserliche

Die Lotterie des Examens

Eine Fügung: Eduard von Mayer

Sankt Annen in Sankt Petersburg

Ein schweres Jahr

Vor der Berufsentscheidung

Die Universität und der Idealist

Liebe, Leid und Torheit

In der Familie des russischen Popen

Der einsame Studiosus Juris

Liebesprobleme

Der junge Denker und Seelenarzt

Vor dem grossen Entschluss

Das Elend männlicher Jugend

Neues Erwachen

Dem Schicksal entgegen

Der Auswanderer

Am Tode vorbei

Falsche Heiligkeit

Selbstwerdung

Aus dem Karneval

Über die Alpen

Erster Zauber des Südens

Schwermut in München

Von München nach Estland

Entfremdung

Fernensehnsucht und nahe Liebe

Berliner Universitätszeit

Meines Vaters Tod

Ich lächle dieser Tränenwelt

Die Tragik des Aufrechten

Tiefstand des Lebens

Lebensbund und Italienreise

Ein Intermezzo – Zwischengedanken

Im deutschen Sommer

Eine männliche und mannhafte Arbeit

Ein kleiner Genius

Ein Spielhagenabend

Liebendes Erwachen

Neapel und Pompeji

Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur

Von Süden nach Norden, von Norden nach Süden

Ein Winter in Rom

Der neue Glaube

Ein Mensch wie Du – kein Zerrspiegel

Erlöste und Unerlöste

Rhythmus der Sprachen

Wunderkräfte des Lebens

Fino von Grajewo

Meine Dramenschicksale

Berlin – Kur – und bunte Ferienwochen

Lichte Wochen am Genfersee

Noch ein Versuch in Berlin

Warum ich nicht geheiratet habe

Schwere Prüfungen

Zur Gesundung des Liebeslebens

Die Aufgabe Europas! – oder Untergang

Florenz: ein Haltepunkt meines Lebens

 

Der Weg der Liebe