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An Edens Pforten

Sufische Gedichte mit Erläuterungen, erschienen 1907. Nachfolgend die Einleitung von Elisàr von Kupffer, einige ausgewählte Gedichte und die Erläuterungen zu den Gedichten. Die Gedankenwelt von Elisàr kommt in diesen Erläuterungen zum Ausdruck und geben Hin­weise auf die Konzeption und Idee des Rundbildes «Klarwelt der Seligen».

Den Frauen reichen Herzens,
die ganze Menschen
darbringen und hegen
und fördern wollen.

Einleitung

Als Dante, der grosse Dichter, Patriot, Menschenkenner und Ketzerrichter, seine «Vita Nuova» schrieb, versah er fast jeden der wenig mystischen Verse mit einem Kommentar.

Dante — in der Zeit des mystisch-geschulten Mittelalters! Was bleibt einem heute im technisch-geschulten Mittelalter übrig?! Man müsste am Ende einen Kommentar ohne Verse schreiben, die man dem Leser selbst zu machen überliesse. Wer liest noch Poesie? — Die Männer?! Schlagsahne dünkt sie ihnen. Wäre sie das, dann könnte sie ja nicht ausgeliehen werden. Ja, Schlagsahne! — Das ist Geschmacksache. Aber die Dichtung kann auch feuriger Wein in geschliffenen Gläsern sein — ein reifes Elixier für reife Menschen. Ein ganzer Mann, ja mehr als das – ein ganzer Mensch gehört zum Dichten. Und recht hat die bekannte Dichterin Isolde Kurz, wenn sie in tiefer Erkenntnis behauptet («Im Zeichen des Steinbocks», 1905), dass nur diejenigen Männer und Dichter der Menschheit ganzes Wesen — auch die weibliche Seele — erschlossen haben, die universeller fühlten und dachten. Heute, wo der Mann in der Technik fast untergeht, ist die Frau das strebende Element, selten noch der Jüngling; darum kehrt sie noch zum Strom der Dichtung zurück, um sich in Trost oder Begeisterung tragen zu lassen. Viele, sehr viele Männer schätzen heute jeden Strom fast nur nach der Zahl seiner Pferdekräfte.

Blut der Persönlichkeit sollte in den Adern der Dichtung kreisen und aus ihrem Duft der Odem der Erde hauchen. Sollte eine solche Sprache dann langweilig sein? Mitschaffende Sinne gehören freilich zum Verstehn. Erst wenn die technischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts verdaut sein werden und die Flegeljahre dieser wachsenden Kräfte hinter uns liegen, werden wir erkennen, dass Kunst und gebundene Sprache Kraft sein kann, dass sie uns nicht weniger not tut, als die doch metaphysischen Hypothesen der Wissen­schaft. Ich bitte höflichst den Zweifelnden, mein Werkchen: Heiland Kunst (Heft 3 der «Lebenswerte») zu prüfen. Der Erkenntnis eine Bresche – aber auch der Religion und Kunst! Doch Worte sind geprägte Werte, die einen herkömmlichen Sinn haben, der dem, was ich meine, widersprechen kann; und so muss ich hier auf «Olympia und Golgatha» (Heft 1 der «Lebenswerte») verweisen. Ebenso auf «Klima und Dichtung» (Grenzfragen der Literatur und Medizin), wo ich der sozialen und tellurischen Ätiologie der Dichtung nachgespürt habe.

Ich weiss, es wird leicht schief angesehn, wenn man im eigenen Interesse plädiert. Mir scheint diese Ansicht das, was man effeminiert nennt, doch richtiger sklavisch nennen sollte. Ein Mann — vielmehr überhaupt ein freier Mensch soll sich selbst vertreten können. Die Sklaven im alten Rom mussten durch ihre Herren vor Gericht vertreten werden. Dem Leben dient nur, wer den Glauben an sich oder seine Botschaft hat und sie in bescheidener Zuversicht vorträgt — sollte er auch dabei irren. Auch der Mut zum möglichen Irrtum kräftigt das allgemeine Leben mehr, als ein schielendes Tasten.

So wagte ich es, für die Kinder meines Geistes und Herzens selbst einzutreten und ihnen einige Erläuterungen am Schluss mitzugeben, damit die, denen Charakter und Wesen meiner Kinder fremd däucht, sie mit freundlichem Verständnis aufnehmen und scheinbare Unarten verzeihen.

Und die Schönheit? … Dieses Wort ist heute so missverstanden und im ganzen so ober­flächlich gewertet, dass ich oft Gefahr lief, völlig schief beurteilt zu werden. Ziffern bei den Gedichten deuten auf die entsprechenden Erläuterungen.

Des Menschen Seele träumt seit unendlichen Zeiten von einem «Eden», wo Gesundheit, Jugend und Schönheit — diese dreieinige Blute des ewigen Lebens — nimmer welken. Auch die «schöne Seele» ist kein pietistischer Wahn, sie strebt nach Vollendung und fernerer Gestaltung ihrer leiblichen Form. Wohl denen, denen solche Träume zu ethischer Gewiss­heit, zu persönlichem Glauben werden! Das ist es, was unsrer Kultur not tut. Wenn die Stimme unseres Herzens laut wird, wenn wir mit wachsender Kraft wider die Stürme ringen, um unsere Sehnsucht zu gestalten, dann wird uns wohl, dann gelangen wir «An Edens Pforten» — unseres Edens. Bisweilen gelingt uns ein Flug in dies gelobte Land; dann bleibt uns die Erinnerung «Aus Edens Reich». Alle Lebensweisheit — «sufisch» nennen sie die Kommentatoren der persischen Dichter — entquillt dem Leben selbst. Offener Sinn schaut bisweilen bis auf den Grund dieses Bronnens und die Flut ist wohl klar, wenn sie nicht von Krücken und Stelzen durch den Staub der Strassen getrübt wird. Freude und Ehrlichkeit sind es, durch die unser Leben geheiligt wird. Sie sollten uns auch manchen Feind wert sein. In Olympia und Golgatha bin ich heimisch geworden, aus beiden Welten kann eine kommende erstehen, vielen zur Freude, zum Leide nur den Feinden der Freude und Ehrlichkeit.

Um das schöne Haupt von Florenz wand ich einen Kranz von «Florentinen»; ich wünschte, sie glichen den lebenden Blumen. Möchten sich germanischer und apenninischer Geist, die einmal das bunte Zeitalter der Renaissance schufen, noch ferner zur Blutbrüderschaft vereinen, – zum Hellenen ergänzen, zu ernster Tiefe und lebensheiterem Sinn.  

Das Heim ist auf

Das Heim ist auf. Willkommen, meine Gäste!
Und herzlich! wer nicht scheut mit eignen Sinnen
Auch hier im Tausch des Lebens zu gewinnen.
Bescheiden grüssen euch des Heimes Feste,

Die glühend um der Erde Schönheit minnen
Und selbst der Tränen lächeln. Sonnenhelle
Ist ihnen liebstes Licht. Aus frischer Quelle
Kredenzen wir in frischen Blumenblättern.

Ja, herzlich grüss ich selbst euch an der Schwelle,
Die Töne deutend, die zu dunkel schmettern,
Und wilde Vögel, die im Laube klettern.
Als Freunde mögt ihr auch ein wenig schelten –

Nur lasst im Ganzen mir das Ganze gelten.
Das Heim ist auf und offen seine Welten.

Clarens

In deinen hellazurnen Wasserschleiern,
Umblauter See, in deinem Ätherbilde
Entträumt mein Geist in selige Gefilde,
Erwacht in mir ein paradiesisch Feiern.

Savoyens Berge, sonst getürmt zum Schilde,
Wie luftger Geister ferne Mauern schwinden;
Wo See und Himmel bräutlich sich verbinden,
Unendlich Eins in wolkenloser Treue,

Ersteht des Glückes ungetrübt Empfinden.
Und sieh, da taucht aus dieser Welten Bläue
Die helle Insel, wie das Land, das neue,
Das ich so lang, so lang gesucht auf Erden!

O träume zu! Eh’ unsre Himmel werden,
Muss unsre Welt so traumhaft sich geberden!

Erläuterung

Mein Lieb, du hast die Natur der Tauben

Aus braunen Augen blickst du mich an,
Treuherziges Reh, in meinem Bann.
Da kräuselt sich leise die Bogenlippe
Und lockt so verführerisch: nippe, nippe! …
Lässt einige Perlen lächelnd schaun –
So süsser Mund – zum Küssen, traun!
Du küssest mich wieder so leise, so zart;
Es liegt etwas Scheues in deiner Art.
Und will ich neckend dich umschlingen,
Du gibst dich herzlich ohne zu ringen.
Du lässest der Knospe die Hülle rauben.
Mein Lieb, du hast die Natur der Tauben.
Von keuscher Liebe warmen Blicken
Lasst sich dein Liebreiz gern umstricken;
In freier Schönheit, so zart und weich,
Sind deine Formen an Freuden reich.
Du mochtest mir ganz deine Liebe schenken,
Ganz, ohne an Gold und Silber zu denken.
Nichts, nichts als nur geliebt zu werden –
So dünkt auch dir’s ein Eden auf Erden?
Wer wollt das im Land der Zypressen glauben!
Mein Lieb, du hast die Natur der Tauben.

Ihr, meines Herzens schwellende Gewalten

Ihr, meines Herzens schwellende Gewalten,
Gleich Göttermenschen längst verflossner Tage
Aus unsrer Leiber kurzer Blütensage;
Mögt ihr noch einmal lebend euch gestalten!

O schöne Welt, die ich verborgen trage –
Den Rhythmus deiner seelenvollen Glieder,
Entfalt ihn einmal noch im Reigen wieder!
Noch einmal lass die Jugendkräfte sonnen!

Das Spiel der Muskeln sing dem Auge Lieder!
Der heitre Mund, ein unverschlossner Bronnen,
Berg, wie noch andre, hunderttausend Wonnen!
Noch einmal, Leben, spend uns deinen Segen!

Es ist kein Wahn! ihr könnt euch wiederregen,
Wie jenes Bild, das mir im Arm gelegen.

Erläuterung

Villa Albani IV, Hermaphroditos

In Aphroditens üppig schöner Fülle,
Doch wie der Götterbote leicht bewegbar, –
So lehnst du da, vom Liebeshauch erregbar,
Des Götterwesens reiche Doppelhülle!


In dir sind Mann und Weib, doch unzerlegbar.
Im weichen Ebenmasse deiner Glieder
Eint sich der Welt gespaltne Seele wieder.
Des Mannes Stürmen ward zu holdem Winde,

Des Weibes Sehnsucht singt befreiend Lieder –
Ein reifer Jüngling lächelnd gleich dem Kinde –
An dem ich alle Reize wiederfinde,
Du Formverkünder froher Zukunftwelten!

Nur niedrer Wahn kann dich beschimpfend schelten
Und eigne Armut dir mit Hass entgelten.

Erläuterung

In Pompeji

Die Schönheit naht, sie sendet ihre Boten,
Der Frühling jubelt in zerstörten Mauern,
An allen Zweigen frische Knospen lauern.
Lebendig wird es in dem Reich der Toten.

Hör auf, mein Sinn, hör endlich auf zu trauern!
Denn Christus lebt in deinem Opferherzen,
Und Dionysos deinen heitren Scherzen,
Und deiner Liebe – Eros-Aphrodite.


Lass dir dein Glück von keinem Feinde merzen!
Erwache, Welt, der ich den Gruss entbiete
Und bete an, vor dem die Sehnsucht kniete,
Dein Seelenheim, dein himmlisches Verlangen!


Leer deinen Kelch, an dem die Lippen hangen,
Und ward er auch vergiftet, ohne Bangen!

Erläuterung

Ganymedes

Der Adler steigt gleich hymnischen Gesängen,
Im Blau der Lüfte herrschen seine Schwingen.
Er segelt frei zu fröhlichem Gelingen
Des Knaben süsse Last in seinen Fangen.

Und Schelmerei und Liebeslust umschlingen
Den kühnen Räuber, übermütig biegen
Die Kniee sich im Flug und üppig schmiegen
Sich tief ins dunkle rauschende Gefieder

Die jungen Glieder. Helle Lust zu siegen!
Wie strahlt sie froh aus dieser Mythe wider.
Die Augen auf! so steigt dir Gott hernieder.
So lass auch dich von seinem Fittich heben!

Herz, lass uns kühn zu unsern Himmeln streben
Und jubeld frei ob allen Wolken schweben.

Erläuterung

Fête des Vignerons

O rauscht er wieder mal im Herbstgelände,
Der Frühlingswind der Liebe! In den Saiten
Der Seele rauscht ein Wunderlied. Es maiten
Der Jugend Tage. Sehnsucht ohne Ende!

O Dionysos, lockst du in die Weiten
Der Phantasie, der reichen wunderbaren?
Du schöner Gott, der du mit heitren Scharen
Das Winzerfest am blauen See begnadest!

Mit goldgem Lachen bist du eingefahren
Im Waadtgelände, und im Glanze badest
Du dich, der du das Herz zur Freude ladest!
Doch wen beschwingt des Lachens holder Schauer?

Bin ich nur ewig jung? Aus sanfter Trauer
Weckt mich der Stürme ewig junge Dauer.

Erläuterung

Stürme der Liebe

Stürme des Frühlings, Stürme der Liebe,
Sehnsuchtberauschend in träumenden Zweigen
Hör ich euch Lieder der Zukunft geigen.
Stürme des Frühlings, Stürme der Liebe,
Denen sich lauschend die Wipfel neigen,
Weckt mir der Stunden jauchzenden Reigen!
Stürme der Liebe! …

Wolken des Frühlings, Wolken der Liebe,
Blumen und Gräser beschattende Herden,
Lasst doch gesellt uns Wanderer werden! –
Wolken des Frühlings, Wolken der Liebe,
Regenschauernde Kinder der Erden,
Träufelt die Tränen süsser Beschwerden!
Wolken der Liebe! …

Sonne des Frühlings, Sonne der Liebe,
Nebelzerreissend, in blauenden Gründen
Seh ich dich lachende Farben entzünden!
Sonne des Frühlings, Sonne der Liebe,
Leuchtest den Knospen die Reife zu künden,
Wolle dich glühend der Seele verbünden!
Sonne der Liebe! …

Der Abend deckt

Der Abend deckt mit veilchenroten Schwingen
Den blauen Hügel jenseit brauner Dächer …
Die Sonne taucht in einen Purpurbecher –
Und dunkelnd, gierig sie die Berge schlingen.

Der Abend breitet nun den bunten Fächer
Tief in den Himmel aus, in tausend Farben,
Ein stolzer Märchenpfau … Wie Feuergarben
Erglühn die Wölkchen hoch — noch eine Sage

Des hellen Tages. Lebewohl! — Sie starben …
Schon naht die Nacht mit stummem Flügelschlage
Und weckt des Herzens ungestillte Frage.
Die Sterne öffnen blinzelnd ihre Lider.

Und – zart umschlingt mich schmeichelndes Gefieder...
Dein Arm! Der Liebe morgenfrische Glieder!

Erläuterung

Leidende Schönheit (Sankt Sebastian)

Die Welt ist düster, selbst die Sterne schlafen
Fern hinter jener dunklen Wolkendecke.
In Wipfeln klagt der Wind, dass ich erschrecke.
Die Pfeile brennen, die so oft mich trafen,

Mir deucht, dass ich die Erde nie erwecke –
Ach, nie erweck aus ihren Finsternissen,
Umsonst verwundet wurde und zerrissen,
Weil ich das Ziel der Harmonie verkündigt!

Allein, mein Gott, du schaust in mein Gewissen
Und weisst, dass ich an Wahrheit nie gesündigt
Und nie den Nächsten um sein Recht entmündigt;
Du weisst, dass ich mit Blut mein Wort bezeugte –

Dass Deiner Schönheit Sonne allen leuchte
Die selbst das Dunkel vor dem Tode scheuchte.

Erläuterung

Siegende Schönheit

Dazu das Bild: St. Michael von Raffael


Wenn wild die Fluten an die Mauern schlagen
Und wenn die Stürme mit den Wolken ringen,
Dann regen sich am mächtigsten die Schwingen,
Ins Reich der Sehnsucht ihren Flug zu wagen.

Und selbst dem Schwachen will es dann gelingen,
Die Tore seines Kerkers aufzubrechen,
Des Herzens eigne Sprache laut zu sprechen.
Dann stehen Edens Tore einmal offen.

Doch ehe sich die Elemente rächen,
O lass uns, Gott, auf Deinen Boten hoffen,
Und dass der Dämon von dem Speer getroffen –
Der düstre Dämon dieser Welt bezwungen!

Der Einklang freier Mächte sei errungen
Und Deiner Schönheit Hohes Lied gesungen!

Erläuterung

Fleur de Miel

Honigduftende Blume du,
Sanft umschmeichelt vom Windeshauch,
Deines Kelches beseelten Trank,
Spend ihn dürstender Biene!

Schwellend wurzelt im Erdenreich
Deines Köpfchens erblühter Stiel;
Wandelst irdischer Säfte Macht
Zaubernd süss in den Gliedern.

Neig dein rosiges Antlitz mir!
Nippen lass mich das Morgenrot
Dir vom üppigen Wangenblatt,
Dir von flammenden Lippen!

Erläuterung

Eduard von Mayer gewidmet

Breit zu Häupten die Krone mir,
Liebster Baum, der so oft mir lieh
Schatten wider die Sonnenglut
Heisser stechender Tage!

Braust auch wild im Geäst der Sturm,
Schüttelst Nadeln und Früchte du
Drohend nieder, von Groll erfasst –
Immer kehre ich wieder.

Immer such ich das traute Heim
Deines rauschenden Schatten auf,
Deiner Zweige erprobtes Dach
Liebster Baum dieser Erde!

Erläuterung

Begegnung

Ein tiefer Blick!
Ein stummer Gruss!
Ein halbes Lächeln!
Und ach! – kein Kuss?

Ei Schelmenschönheit,
Ein Narr schon wüsst:
Du wurdest gerne,
Ich gern geküsst.

Zwei Schritte näher! …
Ein freundlich Wort! …
Ein süsses Lachen –
Und ach! … schon fort?

Dein Schritt, noch zögernd
Schon folgen muss!
Verwandten? – Fremden!
Ein letzter Gruss! .…

Du neidische Welt! –
Und muss das sein??
Nein! — nein, nein, nein!
O sind wir Narren!

Erläuterung

Wer bist du Fremdling

Wer bist du, Fremdling? fragt ihr mich am Ende.
Wenn ich es wüsst, ich wollt es euch vertrauen.
Ein Fremdling dieser Welt und dieser Gauen,
Und lieb sie doch und ihrer Schönheit Spende.

Dem holden Schmerz der edelsten der Frauen
Und starkem Trieb in freudefrohem Manne
Dank ich des Lebens arme – reiche Spanne.
In meinen Adern lebt das Blut der Goten,

Der Mutter Schauen und ihr Stolz der Tanne;
Des Vaters freier Sinn, feind allem Toten.
In meiner Seele spür ich Hellas Boten.
Und doch in allem fühl ich Eignes wagen.

Wer bist du, Mensch? Wer will das kündend sagen!
Genug: ich bin! Und Kommendes wird tagen.

Erläuterungen

Wer eine freundliche Stunde erübrigt, der wird mir wohl eine kleine Plauderei über die Verse dieses Buches nicht verargen. Auf Anregung von Freunden der Dichtung entschloss ich mich dazu. Wenn man sich nicht persönlich kennt, ist es schwer, sich ganz zu verstehn, auch bei scharfem Geist und geneigtem Sinne; darum ist es gut, man spricht noch ein wenig hin und her, wie es entstanden sein mag, wie man es sich dachte und wie man fühlte. Ich bitte darum, nach der Erläuterung nochmal das Gedicht zu lesen.

1Florentine V: Clarens
Es ist ein heller Sonnentag. See und Berge sind wie ein blauer Hauch. Der Horizont schwindet im Dunste. Es ist als ob die Erde ihre Schwere verlöre und als ob das Jenseit – ein Eden – herabstiege. Das ist die bräutliche Verbindung von Wirklichkeit und Ideal. Es ist als ob die Flut, auf der unser Lebensschifflein treibt, geradenwegs in den Himmel überginge. Nur die helle Insel taucht aus dem Blau, wie eine Verkörperung des Landes, das unsre Sehnsucht ist – unser Eden (vgl. Florentine XXI).

Gedicht

4Breite die Flügel, breite sie aus
Vgl. die Entstehung in Klima und Dichtung – ein Beitrag zur Psychophysik von Elisàr von Kupffer (Heft 4 der Sammlung: Grenzfragen der Literatur und Medizin, Herausgeber Dr. S. Rahmer, Verlag Ernst Reinhardt in München).

5Mein Glück ist nicht von dieser Welt
Niemand erreicht hienieden ein vollkommenes Glück, um so weniger, als wir in einer Verbildung leben, die die gesunde Entwicklung unsrer eingebornen Eigenschaften mit Gewalt verkümmern lässt. Da zieht sich wohl die Seele in den Dom ihres Innern zurück. Für jeden liegt ja zuletzt die Welt seiner Sehnsucht in einer Zukunft, an die alle die glauben, die wie Goethe mit Lorenzo von Medici sagen, dass auch für dieses Leben tot ist, wer kein anderes hofft. Und da ist zuerst: der Dreiklang von Gesundheit, Jugend und Schönheit, die den Wechsel, die Geburt und damit den Tod ausschliessen. Da ist ferner die lustvolle Harmonie des ungeteilten Wesens (vgl. Florentine XXVII u. Erl. 19), die den Kampf der Geschlechter ausschliesst. Für diese zukünftige Welt – das Reich Gottes – bleibt ein ehrlicher, unverzagter Kampf: wenigstens ein heroisches Glück. Die innere Gewissheit einer zentralen dynamischen Macht, die die kleineren Mächte unsres Leibes bändigt und wie alle Mächte in der Natur unvergänglich ist, einer Macht, die sich selbst wieder gestalten wird, muss und will – das ist der Kern dieses Credo. (Vgl.: Die Märchen der Natur-Wissenschaft, Sammlung Lebenswerte Nr. 2, Verlag Hermann Costenoble, Jena.)

6Der Baum des Lebens
Eine alte Mythe und ein lebendiges Gleichnis. Wer je eine Frucht von diesem Baume pflückte, die Frucht seiner individuellen Seligkeit, den kann ein Scheinglück nie mehr befriedigen, mag er auch noch so reich und angesehn werden oder im Taumel der Masslosigkeit sich einen Glücksrausch «erkaufen» wollen. Dagegen, auch in trüben Verhältnissen, kann er tiefglücklich sein, wenn ihm das individuelle Glück bleibt – die Frucht vom Baume seines Lebens.

7Florentine VII: Ihr, meines Herzens schwellende Gewalten
Die lebensvollen Empfindungen des Menschen treiben in einem erhöhten Augenblicke das Blut in stärkeren Wallungen durch den ganzen Leib, so dass er sich selbst zu enge wird und nach Liebe, Leben und Wirken verlangt. Da erwachen die Bilder einer lebens­froheren, ausgeglichneren Kultur (Hellas), wo sich der göttliche Keim im Menschen­leibe gleich einer Blüte entfalten durfte; es erwacht gleichsam die bunte Sage einer schönen Zeit. Aber heute muss diese Welt in uns verborgen bleiben. Der göttliche Keim, die unvergängliche Zentralmacht unsrer Persönlichkeit – oder wie wir es nennen mögen – zeigt sich vollendet in der Harmonie der einzelnen Teile, der Gliede rund seelischen Regungen: in der Schönheit. Und wenn solche in Bewegung treten, wie in jeder edlen Handlungsweise, und in jeder Anmut des Leibes, z.B. in schönen Festen und Spielen, in den Siegestänzen der Hellenen, so ist es Rhythmus. (Vgl.: Klima und Dichtung über den Rhythmus und die Musik des Weltprozesses.) Immer mächtiger regt sich der Drang, diese Welt noch einmal erstehen zusehn. Wie das Ohr die Töne wahrnimmt, so das Auge den wechselnden Fluss der Linien, die am schönsten im freien Spiel des Leibes sind. Aus dem allgemeinen Akkord erklingt dann zuletzt die Saite persönlich erlebten Glückes.

Gedicht

7aFlorentine VIII: Die Hügelketten bräunen sich und dunkeln
Der «Silberstrom» bedeutet die sogenannte Milchstrasse. Die Sterne sind Augen des Himmels, und hübsche Augen, die uns anblitzen, sind auch Sterne. Mi vuol baciare, Signorino (sprich: mi vuól batscháre, Ssinjorino).

7bFlorentine X: Es blieb ein Traum zurück in meiner Seele
Die Welt persönlichen Glückes, sofern sie nicht dem Zeitgeist bekannt und verständ­lich ist, scheint oft begrabne Vergangenheit oder ein Traum, der an unserem Blut und Leben zehre – und ist es doch nicht. Und das warme Leben, das individuell und lebendig beglückte, dünkt fast ein «schöner Schatten» … Und doch ist das persönliche Glück für jeden die allerrealste Wirklichkeit, dessen beraubt das eigne Leben aufhört – Leben zu sein.

8Florentine XI: O holde Zeit der ich soviel verdanke
Alle Liebe bleibt ein Geheimnis – ich meine die tiefsten Gründe, warum sich zwei Wesen anziehn, warum ihr Beisammensein sie beglückt und erhebt. Die Liebe ist die Mutter grosser Taten gewesen. Darum sage ich auch in Priesterin Mutter (Heft 5 der Lebenswerte): «Liebe ist das Wesen der Mutterschaft.» Wer in der Liebe etwas Unedles sieht, der ist ein niedriger Mensch und nie des Grossen fähig. Die Leidenschaft der Liebe schafft wohl Leiden, aber aus ihr wird die Läuterung geboren. Ich rede von der Liebe und nicht vom Triebe, der roh wird – wo er gemüt- und seelenlos ist. Welch eine Kraft aus der Liebe erwächst, weiss nur der, der sie selbst gefühlt und erfahren hat. Die Opferfreude ist eins ihrer edelsten Kinder. Alles Leibliche ist ja nur der Ausdruck der inneren Mächte, so ist auch jegliche physische Gewalt der Liebe ein notwendiger Ausdruck verborgener Kräfte, die auch die Wissenschaft nur ahnen kann.

8aFlorentine XIII: Toskana, meine Seele ist gefangen
Arance (sprich: arántsche) = Orangen. Son dolci! vuole? si? (spr.: ssōn dóltschi! vuỏle? ssi?) = sie sind süss! Wollen Sie? Ja?

9Florentine XIV: Villa Pucci ob Signa
Wie ein schönes Schloss der versunknen Renaissance heute verloren und ungenützt träumt – so viele Herzen unsrer Zeit, die sich in innere Einsamkeit zurückziehen. Verlorne Freude – vergangne und solche, die heute sein könnte – überläuft uns wie ein Schauer. Es wird vielleicht einer oder der andre einwenden: «Welch oberflächlicher Hedonismus! Als ob der Genuss Alles oder das Höchste wäre!» – Freude ist mehr als Genuss. Einen Trauernden trösten ist auch Freude. Das soziale Elend lindern ist auch Freude. Durch Leiden innerlich reifen ist auch Freude. Jemanden persönlich mit Liebe beglücken, wie sich selbst, ist auch Freude. Freude ist überhaupt der Welt höchste Erfüllung. Und das sollte oberflächlich sein?!

10Exzellenz Josef von Koenig
Wirklicher Staatsrat, Direktor der deutschen St. Anna-Schule in St. Petersburg, unter dem ich meine Gymnasialstudien beendigte; gewiss einer der liebenswürdigsten und freundschaftlichsten Leiter der modernen humanistischen Schule, dessen frei- und reinmenschlichem Geiste ich nicht genug Hochachtung zollen kann.

11Es kommen die Soldaten mit Musik

Vgl. Klima und Dichtung, wo die Entstehung ausgeführt ist.

12Florentine XVI: Am Spiel- und Sportgelände
Vgl. Erl. 7 und Florentine VII. Soviel regt sich heute.

13Florentine XVII und XVIII
Der Lügengeist unsrer Zeit verketzert die freie Schönheit als oberflächlich, banal, ge­schminkt, dumm, schwül; als verhängnisvoll für die soziale Entwicklung. Auch das ist eine Lüge. Keine Kultur ist durch Harmonie und Schönheit zu Grunde gegangen – auch nicht Hellas, mögen selbst europäisch frisierte Neugriechen derartiges behaupten! Hellas ging äusserlich zu Grunde, weil stärkere Eroberermächte Makedonien und Rom an seinen Toren aufkamen. Innerlich bereitete sich der Niedergang durch folgendes vor: Um 500 waren alle guten Plätze am Mittelmeere besetzt; der Überschuss an Men­schen blieb im Lande, der Überschuss der Arbeitskraft ging hinaus, im Lande bildete sich eine ziellose Massenwirtschaft heraus, besonders in den jonischen Industrie- und Handelsstädten, wie Athen; mit dem Auslande stellten sich internationale Beziehungen ein. In solcher Ochlokratie mussten sich überdies Konflikte zwischen der Masse und starken Persönlichkeiten herausbilden. Das untergrub Hellas, in dem diese Männer die internationalen Beziehungen benutzten, um den äusseren Feind hineinzuziehen – wie Hipparch, Pausanias, Themistokles, Alkibiades. Den alten Vorwurf vom Schönheit­kultus als Verderber des Volkes und Staates darf nur noch ein Jünglingsvereinler ohne Bildung erheben. Sind etwa die «frumben» altfränkischen Boeren auch am Schönheit­kultus zugrunde gegangen?! – oder nicht vielmehr am Anwachsen Englands und der Entwicklung der Minenindustrie?! Geh. Medizinalrat Dr. Paul Näcke (Hubertusburg) bestreitet (Heft 3, 1906 Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie) ebenfalls die lächer­liche Behauptung, dass die alten Hel­le­nen an Degeneration zu Grunde gegangen seien, geschweige denn an erotischen «Pseudo-Entartungserscheinungen», wie er sagt. Nach Professor Ross, dem Entdecker des Malariakeimes, sind die antiken Hel­le­nen der aus Asien eingeschleppten Malaria erlegen, die noch jetzt in Griechenland häufig ist. Auf 960 000 Malariakranke kamen (1905) 6000 Todesfälle.

Die Schönheit, in tieferer Erfassung, ist das Gleichgewicht der Kräfte. Schönsein heisst nicht bloss ein albernes Frätzchen haben, geschminkte Wangen und ein Schmoll­mäul­chen. Man schaue Goethe an, welche Hoheit in seiner Schönheit lebt, welcher Geist! Noch seine enthüllte Leiche ergriff Eckermann durch ihre Schönheit; und er starb mit 83 Jahren! Wie ein giftiges Insekt, tötet der Dämon der Lüge die Schönheitblüten und raubt uns den Duft und Saft, die wir wie die Falter nur einen kurzen Frühling und Sommer leben (vgl. auch Heiland Kunst, Nr. 3 der Lebenswerte). Aber geheim ist alles gestattet. Wenn wir das Reich des Scheins und der Masse nicht hindern, können wir hinter verschlossnen Läden jeder Masslosigkeit fröhnen. Diesen Lügengeist muss der Ehrliche schroff zurückweisen. In einer bitteren Stunde ist es einem, als ob der Dämon unserer Verbildung recht behielte, wenn eine Stimme uns sagt: «Nur gemeine, frivole Gründe wird man in deinen Bestrebungen suchen, weil man nur das Gemeine ver­steht.»

14Auf der Schönheit Pfaden
Vgl. Erl. 5, 7 und 13. Der Schönheit folgend, wo und wie sie einem entgegentritt, und ihrem Masse selbst nachlebend, spürt der Mensch ihre lebendige Kraft, die leider so schnell schwindet und heute auf Erden so wenig gewertet ist. So flüchtig leider die Schönheit im einzelnen ist, so ist sie doch Sinnbild, Vorahnung und Ziel dessen, was wir als Ewigkeit verehren in dem Dreiklang: Gesundheit, Jugend und Schönheit. Wie ein frischer Quell ist sie für uns, der reinigt und stählt – wenn man ihn nicht selbst zuvor besudelt, durch Feilheit, wo das Herz nicht dabei ist oder durch Missgunst, weil es einem selbst versagt geblieben ist (vgl. Florentine XLV).

15Florentine XXI: Der blinde Vogel
Auf den Felsen über den Wassern im Herbststurm gedichtet. Tief unter der drän­gen­den, vorwärtsstrebenden Seele bleibt immer die stille Insel der Menschlichkeit und Liebe. Wie ein Vogel treibt sie dahin, den sein Heimattrieb in die Ferne steuert und der für alle nahen Ziele blind ist. Was sie trägt, ist der mächtige Flügelschlag ihrer Sehn­sucht.

16Florentine XXII: Versuchungen I
Vgl. Erl. 13: Kinder der Natur und Wolke Kümmernis – vgl. Klima und Dichtung: Lenz des Lebens, – vgl. Erl. 7: Das Reich der Toten – in der landschaftlichen Natur und im er­starr­ten Menschen leben. Fiesole – betone Fi–ésole (nicht Viehsóhle, wie man es von Frem­den hört), ein Städtchen auf einem Berge über Florenz.

17Florentine XXIII: Versuchungen II
Frau Clara Salbach, die berühmte Hofschauspielerin in Dresden nahm lebhaftes Inte­res­se an meiner Tragödie der Schönheit, in der sie mitwirken wollte. Aber der Drama­turg lehnte es schliesslich mit der – Begründung ab, man könnte sehr wohl mit dieser Dichtung einen Versuch der Aufführung machen, doch hätte in der vorhergehenden Saison ein Stück keinen Erfolg erlebt, das in einer ähnlichen Epoche spiele.

18Florentine XXIV–XXVII
Villa Albani: Dieses Heiligtum der Kunst in Rom, das vom Fürsten Don Giulio Torlonia wie ein vereinsamter Harem gesperrt wird, selbst den höchsten Personen –, ward mir durch die liebenswürdige Fürsprache der berühmten Akademikerin Gräfin Ersilia Lovatelli, geb. Prinzessin Caetani, geöffnet. Der Geist der Schönheit – vgl. Erl. 5, 7, 13 und 14: Verwandte Jugendbilder, weil sie mich anmuteten, als ob ich mit ihnen heimisch gewesen wäre. «Der Götter Jüngster», Antinous, weil die letzte religiöse Schöpfung des schon erstorbnen Altertums (vgl. auch Auferstehung, irdische Gedichte S. 21 und 94). Um die alten Wachslichter in den Kronleuchtern spielt das Licht des Abends. Gelbe und rote Farben vermengen sich wie ein glühender Akkord – schön wie der Heilige Sebastian auf dem Gemälde an der Wand (vgl. auch Erl. 38). Dies Gedicht erschien zu­erst in der «New-Yorker Staatszeitung».

Gedicht

Florentine XXV: «Jener Wahnsinn» prüder Heuchelei – auch Vieler in der Moderne. Viele der alten Kirchenfürsten waren nicht borniert, wie ihre modernen Erben oder sonstige Freigeister.

Florentine XXVI: In der Villa des Kardinals Albani war auch Winckelmanns Heim. Es ist ja noch immer moderne Sitte, die hellenische Kultur zu preisen, namentlich vom Katheder, und doch sie zugleich als heidnisch und unsittlich zu beschimpfen. Diese Menschen sind für jeden Glauben tot (vgl. Florentine XLV). Als ob jemand etwas Edles und Grosses leisten könnte und dabei – ein Schwein sein!! «Der geistig-sittliche Kern der Dichtung und der geistig-sittliche Kern des Dichters sind identisch» … usw. sagt Dr. S. Rahmer in seinem eindringenden Werke Aus der Werkstatt des dramat. Genies, 1906, München, Verlag Ernst Reinhardt, Grenzfragen der Literatur und Medizin, Heft 1. Ein fauler Baum kann keine guten Früchte bringen, sagt Christus.

19Florentine XXVII: Villa Albani IV
Was müssen wir «göttlich» nennen? Die Macht, die das Chaos schöpferisch ordnet und streitende Gegensätze vereinigt. Die Griechen verehrten den Eros als Weltenbildner. Irdisch ist die Zerspaltung, die Einseitigkeit. Kann eine reiche göttliche Macht einseitig männlich oder weiblich sein? Müsste sie nicht vielmehr beides enthalten – Araphrodit sein? Damit meine ich hier durchaus nicht die heute soviel erörterte Homosexualität richtiger konträre Heterosexualität ( – die absolute anima muliebris in corpore virili oder umgekehrt – ). Mein «Araphrodit» (der sich mit dem medizinischen Worte «Her­ma­phrodit» nicht deckt) dagegen ist eine harmonische Durchdringung gleich kraft­voller entgegengesetzter Elemente. Nur das erklärt energisch-feinfühlige Er­schei­nun­gen, mit denen die heute geltenden Theorien nichts anzufangen wissen. Jenen Ge­dan­ken haben die Hellenen am tiefsten erfasst, in vielen ihrer Göttergestalten, auch in weiblichen. Und Christus erst recht sieht darin die Zukunft: «Welche aber würdig sein werden, jene Welt zu erlangen … werden den Engeln gleich sein» (Luc. 20, 35 u. 36). Ferner: «Und sahen einen Jüngling (νεανίσκος / neaniskos)» – nämlich den Engel der Auferstehung (Marc. 16, 5). Wir kranken noch immer an der mittelalterlichen Gering­schät­zung des Weiblichen. Daher die Worte: «effeminiert» und «weibisch». Ander­er­seits an einer Vereinseitigung des Männlichen, Araphrodit von Ares und Aphrodite, deren beider Frucht ja Harmoneia, die Harmonie war. Ein solcher Araphrodit ist der Erzengel von Raffael in diesem Buche. Unter dem «Araphroditischen» verstehe ich, wie gesagt, nicht die herkömmliche Auffassung und Darstellung zusammengeschweisster Körperteile, sondern den innerlichen Ausgleich der tätigen, schöpferischen Macht mit der hegenden, formenden und hingebenden. Wo dieser innere Ausgleich stattfindet, streben auch die Formen danach. Solch ein Gebilde bleibt natürlich hier eine sehr seltne Erscheinung und meist ein Traumbild, wie jeder Glauben. Allen Extremen bleibt es aber ein verschleiertes Bild. Selbst wenn sie den Schleier lüften, sehen sie nichts, als die einzelnen Teile – «fehlt leider nur das geistige Band» (vgl. über diese Florentine auch Klima und Dichtung).

20An Gräfin Ersilia Lovatelli Prinzessin Caetani
Donna Ersilia Gräfin Lovatelli-Caetani, aus dem alten römischen Fürstengeschlecht der Caetani (ihr Bruder ist der Herzog von Sermoneta, seinerzeit Minister), das bereits Anfang des XII. Jahrhunderts Papst Gelasius II. und Ende des XIII. Papst Bonifaz VIII. dem heiligen Stuhl gegeben hat; Bonifaz VIII. war der letzte, der Europa als Universal­monarch beherrschte. Sie selbst, eine königliche Erscheinung, ist eine hochgelehrte Frau, eine vortreffliche Kennerin der alten Sprachen, Mitglied der Accademia dei Lincei, und hat verschiedenes veröffentlicht, auch eine kleine interessante Arbeit über den Tod (Thanatos). Ihr Salon ist ein interessanter gastfreier Sammelpunkt des Adels der Geburt, des Geistes und des Amtes.

21Auf dem Wege zum Grabe
Lächelt der Glaube mich an. Nicht ein finsteres Ketzergericht ist der Glaube, sondern die Zuversicht, dass die schönsten Augenblicke des Lebens Wegweiser zur Erfüllung der Welt sind – für die Zukunft jedes Einzelnen. Die Bestätigung dieses Glaubens begegnet mir wie ein schöner Genius auf meinem Pfade.

22Florentine XXVIII: In Pompeij
An einem Frühlingstage, in den Ruinen von Pompeji, klang meine religiöse und ethi­sche Grundempfindung in dieses Gedicht aus (vgl. zu Schönheit, Erl. 5, 7, 13 und 19). Wer die kleine Schrift: Olympia und Golgatha (Nr. 1 der Lebenswerte) gelesen hat, wird mich hier weit eher verstehn. Es ist ein wunderbarer Gedanke im Kern des Lebens Christi. Aus Liebesdrang kehrt die Gottheit bei den Menschen ein, wie auch der reife und tätige Mensch sich immer wieder gedrungen fühlt, die, so ihn nicht verstehn und abweisen, zu gewinnen. Solch ein Leben wird immer ein Martyrium, ein Opfer des eignen Herzens, das nimmer müde wird, zu suchen und zu überzeugen. Zu bele­ben­der Kraft ward die Gewissheit: dieser Heiland lebt auch in deinem liebe- und opfer­freu­di­gen Herzen. Und Dionysos – nicht Nietzsches Natursymbol des Rausches, son­dern der heitre, klare Bringer der Freude, der die Sorgen durch edle Begeisterung scheucht – auch er wirkt in dir fort. Und auch Eros-Aphrodite (vgl. Erl. 19 und Floren­tine XXXIV). Und das ist keineswegs pseudoklassisch gemeint, sondern tiefste physisch-ethische Überzeugung. Auf dieses Credo folgt das sittliche Bekenntnis. Die tiefste Empfindung unserer Seele, ihr Heim, dem sie eine ewige Stätte wünscht, ist das köstlichste Kleinod – unser Heiligtum, das wir von Keinem rauben oder beschimpfen lassen dürfen. Wir sollen das Reich unsres eignen Gewissens kommen lassen. Der Kelch, aus dem wir die Erfüllung unsrer Sehnsucht trinken wollen, wird nur zu oft von Unverstand, Missgunst und Lüge vergiftet; auch das soll uns nicht schrecken. Wenn wir den Kelch unsres Lebens nicht trinken, so verschmachten oder verkrüppeln wir – und das Leben war umsonst. Das Leben soll aber einen Aufstieg bedeuten. Wenn das Leben den Lebenswert verliert, ist es ein totes.

Gedicht

23Florentine XXIX
«Rom» wird an andrer Stelle erscheinen.

24Villa Adriana
Die Ruinen der grossen gartenreichen Villa des Kaisers Hadrian unweit Rom. Wen es interessiert, dieses Gedicht veranschaulicht zu sehn, verweise ich auf die Zeitschrift: Die Schönheit Nr. 3, Jahrgang 1905, wo es zuerst, mit zwei künstlerischen Photographien nach dem Leben erschienen ist.

25Florentine XXX und XXXI
«Paris» die mehr polemischer Natur sind, sollen an andrer Stelle erscheinen.

26Florentine XXXII: Ganymedes
Vgl. Erl. 22. Goethe hat diese Mythe wunderbar gestaltet. Hier geschieht es in andrem Sinne. Der Adler ist der Bote Gottes, der uns über die Erde hinweghilft, und dann in das Reich der Sehnsucht emporträgt (vgl. Olympia und Golgatha, Nr. 1 der Lebenswerte, S. 5: Die Seele Christi … ). Darum erfolgt der Ruf an jedes Herz, sich so emportragen zu lassen, um sein eignes Eden zu erlangen.

Gedicht

26aWie schön du bist!
«Tempel, die auch die Schönheit priesterlich erkoren» – wie es in der olympischen Religion stattfand, wo nicht nur gelehrtes Wissen in den Dienst Gottes trat, sondern wo auch die Schönheit und jugendliche Anmut als göttliche Gnade gewertet wurde, um dem Kultus zu dienen und Freude zu wecken, wie Pausanias berichtet. Ein Rest dieser Empfindung sind die Chorknaben der christlichen Kirche. (Vgl. Florentine XLII)

27Florentine XXXV: Marguerite
«Des Lebens harte Ziele» – die Wellen, die so hart an den Bug des fahrenden Schiffes schlagen. Was uns mit Freude erfüllt und beseligt, sollte uns ein geweihter Bundes­ge­nosse sein. Welch reifer Ausspruch für ein junges Mädchen! Manche werden zu weitem und tiefem Blick geboren, den andere trotz allen Studierens nicht erlangen.

28Florentine XXXVI: Fête des Vignerons
Hier das Fest, dessen Mittelpunkt ein schöner Dionysos ist. Die «Saiten der Seele» sind ihre Gefühle, die durch die Einwirkungen des Lebens, am meisten durch die Liebe, in Schwingung versetzt werden.

Gedicht

29Der Schönheit holder Heiligenschein
Vgl. Erl. 13 u. 14 – Der Heiligenschein ist das Symbol der Vollendung, das Zeichen, dass lebendige Kräfte von dem Wesen ausstrahlen – «Radioaktivität»! «Du lachst» – dein Lächeln ist wie ein Sonnenstrahl … Berge, See und Tal, das ganze Festgelände ist von der Heiterkeit erfüllt, die von dem Jubel ausgeht – auf allen Bergen ist Duft, der Hauch des Sonnentages. Anmutig lächelnd zog der junge Dionysos auf seinem Wagen durch die Strassen und in den offnen Festraum. Möge er einst mit so zuversichtlichem Lächeln am Lebensende von der Welt scheiden. Das ist das Beste, was wir uns zuletzt alle wünschen können. «Ein Lächeln noch in Schmerzen – Ist unsre Heiligkeit.» (Auf­er­stehung, S. 55, auf meine selige Mutter)

30Florentine XXXVII: Der Himmel blaute
Vgl. Erl. 28 und 29 und die eingehende Erläuterung dieses Gedichtes von den Strahlen der Sonne und der Liebe in Klima und Dichtung.

31Florentine XXXVIII: An Gustav Moreau
Gustave Moreau (gest. 1898) ist ein hochorigineller Maler, dessen Werke ich kürzlich in Paris in seinem hinterlassnen Museum kennen lernte. Durch seine fast seherische Auffassung des Lebens, seinen reichen Schönheitsinn und sein Können ragt er unter den Modernen hervor. Er zersplittert sich allerdings zuweilen wie ein Sonnenstrahl im Laubwerk. Klarheit und gesunde Einfachheit fehlt ihm noch oft (wie erst recht dem Dichter Jean Lorrain, der in Moreaus Katalog zitiert ist). In der bändigenden Macht, die zur Harmonie führt, wirkt eben mehr Kraft als in tausend Ochsen-, Pferde- und Ma­schi­nen­kräften.

32Florentine XXXIX: Mein holdes Kind
Die Florentine. In Klima und Dichtung versuchte ich die Entstehung und das Wesen dieser Gedichtform zu ergründen, inwiefern diese meine Umformung des Sonetts vom Sonette abweicht. Die ersten vier Florentinen erschienen in Auferstehung irdische Ge­dich­te. Verlag Kreisende Ringe (Max Spohr). Leipzig, 2. Auflage, 1903.

Florentine IV daselbst (Das lebendige Bild – in der Gemäldegalerie) ist in einer Kritik missverstanden worden, als handelte es sich um ein Bild, das dem Beschauer schein­bar lebendig wird. Das Gedicht sprach aber von einem lebendigen Wesen dort und gipfelte in dem ethischen Vorwurf:

Nur diese Schönheit all die Toren scheuen:
Nur weil sie lebt soll niemand sich dran freuen!

33Florentine XL: Firenze
«Im Altertume» – durch die schmalen Gassen dieser mittelalterlichen Stadt eilt all­täg­lich ihre schöne Jugend, sie eilt besonders, wenn der Bergwind weht. «Florenz» kommt von flos, die Blume, her und führt eine goldne Lilie im Wappen. Man sieht über­aus oft blonde Haare.

34Florentine XLI: Der Abend deckt
Abends verwandelt sich das Blau der toskanischen Berge in veilchenfarbne Töne. Die untergehende Sonne wird rot, als tauchte sie in einen Becher Weines. Die Berge, die nun schon bronzedunkel gegen Westen werden, verschlingen sie gleichsam. Da breitet sich wie ein Halbkreis, wie ein Fächer, im Westen die Symphonie der Regen­bog­en­far­ben aus, von Rot durch Gold und Grün bis ins Blau des Zeniths. Hohe Wölkchen, die noch der Glanz der Sonne trifft, erglühen. Dann wird alles dunkel. Das Auge nimmt nicht mehr Bilder auf und es er wacht in uns das Rätselhafte, Unklare der Däm­me­rung. Die Sterne fangen an zu leuchten. Da – mitten in der träumenden Bewunderung führt die Umarmung junger Liebe in die Wirklichkeit zurück.

Gedicht

35Florentine XLII: Nach Weihrauch duften deine Locken
«Morgengabe» – es war im Altertume, in Athen, Rom (nicht Sparta, wo die Haare lang blieben) Sitte, die Locken, die bei Eintritt der Reife zuerst geschoren wurden, der Gottheit zu weihen.

36Florentine XLV: Aus einer Quelle
Es gibt immer noch Menschen, die in dem Wahne leben, eine Persönlichkeit könnte auseinander geschraubt werden; die ihn für eine Musikmaschine halten, wo man die Scheiben wechseln kann. Manche sprechen sogar entschuldigend von zweierlei Musen, einer braven und einer schief gewickelten – je nachdem was ihnen gefällt oder missfällt. Der Kuckuck hole diese pseudoklassischen Musen!

37Vogel Schelm
Die Melodie der beigegebenen Komposition ist von mir geschrieben, wie mir über­haupt oft mit den Gedichten Melodien kommen. Die Begleitung verfasste freundlichst ein mir bekannter Komponist, Eugen Weller in Jena.

38Florentine XLVI: Leidende Schönheit (Sankt Sebastian)
Vgl. dazu das Bild von Federico Barocci in Olympia und Golgatha, Heft 1 der Lebens­werte). Dieser Heilige ist für mich mehr als eine interessante Erscheinung geworden. Als ich der Kunst des Quattro- und Cinquecento nachging, wurde ich überrascht: in der Gestalt dieses Heiligen (vgl. Erl. 29) sah ich den olympischen Glauben, vereint mit Golgatha, wieder Form gewinnen. Nach und nach reifte mir die Erkenntnis, dass der Heilige Sebastian ein Ausdruck des Gefühles geworden war, dass Schönheit und Harmonie hienieden dem Martyrium unterworfen sind, dass sie eine Vorahnung des persönlichen Zieles jenseit der irdischen Gestaltung bedeuten. Er ist der Märtyrer der Schönheit. Ich hoffe, das in einem grossen Spezialwerke auszuführen, an dessen umfangreichem Material ich schon seit Jahren gesammelt und gesichtet habe. Die Firma F. Bruckmann & Co. in München lehnte diese Veröffentlichung noch ab mit der Begründung, das deutsche Publikum habe dafür kein Verständnis. Sollte dieser Vor­wurf wirklich fast das ganze deutsche Publikum treffen? und auch die wis­sen­schaft­li­chen Anstalten. Aber, wenn ein Geschäftsmann es noch nicht wagt – vielleicht findet sich ein Fürst oder ein reicher Privatmann von tieferem Interesse, der es ermöglichte, dieses Werk mit etwa 100 Illustrationen zu veröffentlichen. Mit einem Risiko von etwa 5000 Mark liesse sich das ausführen, und vielleicht ohne ein Defizit zu bleiben. Ich hätte hier gerne ein paar Bilder eingefügt, aber beim geringen Interesse, das heute der Dichtung entgegengebracht wird, galt es, die Kosten des Buches möglichst nicht zu erhöhen. Kirchengeschichtlich ist St. Sebastian wohl der Schutzheilige gegen Seuchen, aber damit auch der Heiland der Kranken und Leidenden, der die Gesundheit spenden soll – und damit die Harmonie des Leibes und der Seele. Der Pfeil bezeichnet ihn.

Gedicht

39Florentine XLVII: Siegende Schönheit
Als Genius des Sieges der göttlichen, harmonischen Mächte über die chaotischen, zerstörenden und zerspaltenden, habe ich den schönen Erzengel Raffaels diesen Gedichten vorangestellt (vgl. araphroditisch in Erl. 19). Im Kampfe mit Feindschaft und Bosheit wachsen uns die Kräfte wie Flügel – das dürfte mancher erfahren haben. Selbst weniger heroisch veranlagte Naturen gewinnen dann bisweilen die Kraft, eine Sehnsucht ihres Wesens durchzusetzen. Es ist, als ob sich die Tore zum eigenen Eden öffneten, an dessen Pforten wir harren. Die unterjochten Elemente rächen sich, gestaute Fluten brechen im Frühling über die Dämme und Ufer. Aber auch die un­ter­drück­ten Sehnsüchten des Menschen nach Freude und Glück sind solche Natur­ele­mente, die sich in grossen und kleinen Revolutionen Bahn brechen. Besser ist es: ein höherer Bote bringt uns eine Evolution. Der Einklang freier Mächte und Menschen wäre das Ideal, dessen Verwirklichung aber hier nur angestrebt werden kann. Das Hohe Lied göttlicher Schönheit dringt nur zu den Ohren, die da hören. Wer es im Stillen empfand, in seiner Art, wird es sich durch keinen geistreichelnden Witz und Spott rauben lassen. Die tiefsten Gefühle und Erkenntnisse sind ein Heiligtum, in das man die Hunde nicht lassen soll.

Gedicht

40An Tony Weller
Hierzu vgl. Priesterin Mutter, Nr. 5 der Lebenswerte: Das Glück des Kindes ist es, was die wahre Mutterliebe erstrebt. Aber! wie oft wird es ein Kampf gegen des Kindes Glück, wenn die Mutter die Eigenart des Kindes nicht verstehen will oder kann! In dem Hei­lig­tum der Mutterliebe soll sich das Kind gehütet, aber frei entfalten. Den Regungen des Kindes lauschend sollte die wahre Mutter niemals das Althergebrachte im Kinde er­zwin­gen, sondern nur die Triebe der Liebe und des Ehrgeizes in herzliche Bahnen lenken. Eine solche Mutter wird ewigen Dank ernten. Nicht die Geburt eines Kindes ist ein hinlängliches Verdienst, sondern dass dieses Kind durch die Mutterliebe innerlich reife. Wie ich es selbst empfunden habe. Durch der Mütter Geburten sollte eine auf­stei­gende Linie der Läuterung gehn – ein innerlicher Fortschritt.

41Andantino I: Fleur de Miel

Andantino nenne ich diese Form, die ein echtes Fragment Anakreons aufweist, und deren Rhythmus etwas feierlich-anmutiges hat. «Beseelter Trunk» – der Kuss. «Des Köpfchens erblühter Stil» – der junge Leib, der da wächst und was er aufnimmt, in sich verwandelt. Fleur de Miel nannte ich Andantino I nicht aus Französelei, sondern aus realem Grunde.

Gedicht

42Andantino II: Eduard von Mayer gewidmet
«Der schattende Baum» – die treueste Freundschaft eines Menschen, der man in Sonnenschein und Unwetter vertrauen, kann, wie dem Baum, unter dem das Gedicht entstand.

Gedicht

43Andantino III: Dornen wuchsen am schönen Strauch
«Der schöne Strauch» – ist eine junge Liebe, die auch bittre Stunden bereitet hat. Und dennoch: wer wollte dieses empfundene Glück missen! Und so möchte man sie trotz allem segnen und sich noch Früchte von ihr wünschen.

44Andantino IV: Zirp! zirp! singen die Grillen laut
Vgl. dazu die ausführliche Erläuterung in Klima und Dichtung.

45Andantino V: Menschenseele! wie bist du gross
«Schufst den Tempel des Leibes» – weil ich glaube, dass es die unvergängliche Zen­tral­macht der Persönlichkeit ist, die sich selbst zur Gestaltung drängt. (Vgl. Erl. 5.) «Reich im eigenen Reiche» – reich ist der Mensch, wenn er in sich selbst beruht.

46Märchengedanken am See
a) «Blutige Ader» – das langverzitternde Spiegelbild der roten Abendwolke.

c) Im goldgrünen Wasser bildete sich eine reingoldige Stelle, wie ein Weiher der Sehn­sucht. Wer hat den Mut, dahin zu wandeln, über die trügerischen Wasser? Nur die dreisten Tiere und Menschen des Nachtlebens? Nein! Wer den Glauben hat an die höhere Stimme in sich und an sein natürliches Recht.

e) «Die Sichel aus fünfzigtausend Fernen» – der Mond, der 50 000 Meilen fern von der Erde sie umkreist.

f) Vielen wird es ja schon bekannt sein, dass es Riesensterne gibt, die so weit von uns stehen, dass ihr Licht, das wir gerade wahrnehmen, Jahrtausende gebraucht hat, um die Strecke bis zu uns zurückzulegen. So könnte ein Stern schon in Christi Todesstunde zerschellt sein und doch wäre sein Licht, das noch bei Christi Leben von ihm ausging, erst heute in unser Auge gelangt! Chäroneia ist die Schlacht, in der die Heilige Schar und auch die Welt von Hellas unterging (vgl. Erl. 13).

47Begegnung
«Verwandten? – Fremden!» Wie oft müssen Zwei, die zu einander stimmen, aus­ei­nan­der­gehn – weil die Verwandten Anspruch erheben. Als ob nicht die Wahl­ver­wandt­schaft zweier Menschen viel tiefer wäre, als die der sozialen Verwandten, die uns leider oft nur Fremde sind! Die Endstrophe ist gewollt disharmonisch.

Gedicht

48Meine verzauberte Blume

Wie dieses Gedicht an dem Brunnen einer Fontäne entstand, ist in Klima und Dichtung ausgeführt. Die Grundstimmung dieses Gedichtes findet sich auch in meiner dramatischen Märchendichtung, die hoffentlich bald in die Öffentlichkeit treten wird.

49An die – Seligen
Hier fühle ich mich befangen. Ich müsste so eingehend werden, um mich nicht unklar auszudrücken, doch hoffe ich: Dies Lied, das zugleich mit der Melodie entstand, wird bei empfänglichen Naturen Verständnis finden. In unsrer Kultur allerdings sind unsre Pfade erst recht verworren. Zu allen Unzulänglichkeiten der Natur kommen die beiden starren Gegensätze unsrer Gesittung hinzu: Auf der einen Seite der Buch­sta­ben­dog­ma­tis­mus und überkommener kurzsichtiger Schematismus, auf der anderen Seite die Bildungsprotzerei der Verständnislosigkeit, die, was sie nicht mit plumpen Händen greifen kann, einfach leugnet oder bewitzelt. Die Laterne der Vernunft leuchtet halb­wegs in den Verkehrsstrassen des sozialen Lebens, aber spärlich in das Weltall und ins stille Heiligtum des Inneren. In andern Zeiten wird anderes «modern» sein. Es gilt oft den Mut, den Einen unmodern zu scheinen, den Andern gar verwegen. Sollte zu diesem Liede nicht jeder wirklich religiöse Beziehung gewinnen können? Die Töne «spendet» und «rufet» kommen wie aus der Höhe des Himmels oder Kirchenschiffes. Die Töne «Gnade» und «Seele» steigen auf und schweben.

Das längere Gedicht Non possumus musste noch fortbleiben. Diese Dichtung, die ich vor elf Jahren verfasste und im Frühling 1903 aus Florenz dem Papste Leo XIII. über­sandte, veranlasste Seine Heiligkeit noch zu einem Telegramm. Die Dichtung feierte die welthistorische und persönliche Grosse des Papsttumes. Auch heute, wo ich längst eigene Wege gehe, kann ich nicht umhin, Grösse anzuerkennen, wo ich sie erkenne.

Vielleicht werden einige sagen: der Autor fürchtete niemals einen Kommentator zu finden, deswegen wurde er selbst Kupfferphilologe. Aber, wie Goethe sagt:

Ein solcher Vorwurf lässt mich ungekränkt;
Ein Mann, der recht zu wirken denkt,
Muss auf das beste Werkzeug halten.

Es liegt mir wirklich wenig daran, dass der Name Kupffer unsterblich wird, wohl aber, dass die Ideen des Menschen Elisàr leben und wirken. Hellas und die Renaissance haben für diese richtigere Auffassung viele Beispiele. Sophokles, Perikies, Pheidias, Raffael, Michel Angelo, Lionardo sind alles persönliche Namen. Es ist der Mensch, der da wirkt und nicht die Sippschaft.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1
Florentine V Clarens 7
Florentine VI – Verwandte Liebe 8
Chanson de Clarens 9
Was wir nie besessen 11
Wind und Frühling 12
Ich wollt, ich wär ein Bauernbub 13
Helle Abendwolken schlafen 15
Grosse, schöne, helle Freude 16
Breite die Flügel, breite sie aus 18
Mein Lieb, du hast die Natur der Tauben 20
Vorfrühling 22
Mein Glück ist nicht von dieser Welt 23
Wer je vom Baum des Lebens ass 27
Will ich ein Lied auf deine Schönheit dichten 29
Waldgeister 30
Florentine VIIIhr, meines Herzens schwellende Gewalten 32
Florentine VIII – Die Hügelketten braunen sich und dunkeln 33
Florentine IX – «Herz», spricht der Hass 34
Florentine X – Es blieb ein Traum zurück in meiner Seele 35
Florentine XI – O holde Zeit, der ich soviel verdanke 36
An eine junge, reiche und hübsche Dilettantin 37
Florentine XII – Entfliehe nicht wie deines Glückes Stunden 38
Florentine XIII – Toskana, meine Seele ist gefangen 39
Florentine XIV – Villa Pucci ob Signa 40
Florentine XV – Von deinem Liebreiz ward die Seele trunken 41
Sr. Exzellenz Josef von Koenig 42
Es kommen die Soldaten mit Musik 44
Florentine XVI – Am Spiel- und Sportgelände 45
Florentine XVII – Versuchungen I 46
Florentine XVIII – Versuchungen II 47
Florentine XIX – Ob Luzern 48
Der Bote ist kommen 49
Auf der Schönheit Pfaden 51
Florentine XX – Phila 53
Florentine XXI – Der blinde Vogel 54
Schon welke Blätter? 55
Wir alle harren in der Stadt des Lebens 57
An die Flöte auf den Gassen 58
Florentine XXII – Auf den Bergen von Fiesole 60
Florentine XXIII – An Frau Hofschauspielerin Clara Salbach 61
Florentine XXIV – Villa Albani I 62
Florentine XXV – Villa Albani II 63
Florentine XXVI – Villa Albani III 64
Florentine XXVII Villa Albani IV (Hermaphroditos) 65
An Gräfin Ersilia Lovatelli Prinzessin Caetani 66
Auf dem Wege zum Grabe 68
Florentine XXVIII In Pompeji 70
Erwachende Welt 71
Florentine XXXII Ganymedes 74
Florentine XXXIII – St. Gingolphe 75
Wohl spielen die Wogen wie einst am Strande 76
Nach meiner Heimat ziehen diese Vögel 77
In allen Blättern 79
Sum, sum! 80
Florentine XXXIV – Du wecktest mich wie der Beseeler Eros 81
Singe, tanze, springe 82
Deiner Schönheit Zauber leuchte 83
Wie schön du bist! 85
Florentine XXXV – Marguerite 88
Florentine XXXVI Fête des Vignerons 89
Der Schönheit holder Heiligenschein 90
Florentine XXXVII – Der Himmel blaute 91
Florentine XXXVIII – An Gustav Moreau † 92
Florentine XXXIX – Mein holdes Kind 93
Heimatzunge, Heimatliebeslaut 94
Florentine XL – Firenze 96
Stürme der Liebe 97
Florentine XLI Der Abend deckt 98
Mit dieser Welle 99
Blume Eifersucht 100
Ach, ich möcht im Golde wühlen 101
Florentine XLII – Nach Weihrauch duften deine Locken 102
Florentine XLIII – Es strahlt der Saal 103
Florentine XLIV – Erden-Garten 104
Florentine XLV – Aus einer Quelle 105
Vogel Schelm 106
Florentine XLVI Leidende Schönheit 110
Florentine XLVII Siegende Schönheit 111
An Tony Weller 112
Andantino I Fleur de Miel 113
Andantino II Eduard von Mayer gewidmet 114
Andantino III – Dornen wuchsen am schönen Strauch 115
Andantino IV – Zirp! zirp! singen die Grillen laut 116
Andantino V – Menschenseele! wie bist du gross 117
Florentine XLVIII – Mein Königreich 118
Märchengedanken am See 119
Begegnung 123
Meine verzauberte Blume 124
Andantino VI – Sonne – Sonne! erwärmt das Herz 126
An die – Seligen 127
Florentine LI Wer bist du, Fremdling 130
Erläuterungen 131
Fête des Vignerons, Gemälde von Elisàr von Kupffer
Saint Michel terrassant le démon
(St. Michael besiegt den Dämon),
Gemälde von Raffael, Musée du Louvre, Paris
Fête des Vignerons, Vevey
Ödipus und Sphinx, Gustave Moreau
Martiro di San Sebastiano, Federico Barocci,
Duomo di Urbino
Samuel (Miel) Penard