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Aino und Tio

Vorwort von Dr. Eduard von Mayer

 

Die Poesie war der ursprüngliche Ausdruck des Menschlichen im Menschen und ist auch der höchste geblieben – die religiöse Muttersprache. In den «Versen» lebt der Rhythmus des Tanzes weiter, der aus den Pulsschlägen des Empfindens stammt und alle Tätigkeit des unverbildeten Menschen beschwingt. In den dichterischen «Bildern» zittert der grosse Glaube an per­sön­liche Mächte der Natur nach. In den Mythen und Märchen of­fen­bart sich die menschlich echteste Lebensanschauung. Darum können die Sagengestalten immer tiefere Bedeutung gewinnen, darum glückte den Dichtern der grösste Wurf immer im persönlichen Neuerleben der Sagen – wie in den hel­le­ni­schen Tragödien, im «Faust», im Immermanns «Merlin», in Richard Wagners «Tristan und Isolde». Die Märchendichtung beflügelt und bereichert den Menschengeist, je reicher und freier der Dichter ist; sie streitet nich wider das wirkliche Le­ben, nein: sie lässt nur die grossen unterirdischen Ströme des Lebens aufleuchten, und was im Alltag Zufall heisst, be­greift sie als das geheimnisvolle Walten der innersten Natur­ord­nung. So kann sie religiös-prophetische Offenbarung werden.

Hier, in der Dichtung «Aino und Tio», ist es die Fee Linda, die im Nebel, im Mondlicht, im Feuer webt und atmet. Sie kann Hilfe, ja Rettung bringen, wo ein Mensch sich selbst wider die dumme Bosheit einsetzt, die sich in der Ungerechtigkeit äus­se­rer Macht an der frischen Eigenheit des Menschenwesens ver­grei­fen will – an dem lieblichen Geschöpfe Tio, das seinen sprudelnden Übermut und lebensfrohen Sinn von ihr, der ge­heim­nis­vollen Mutter, hat.

 

Es ist Natur, die uns durchwebt.

Was lebt und stirbt, was liebt und hasst,

In jeder Form die Natur umfasst.

Akt IV, Szene 1

Zu einem Aschenbrödel herabgewürdigt und doch kraft ihrer Herzenswärme fähig, das Leben zu retten und Liebe zu er­we­cken, so finden sie und Aino sich, in dem mit Naturgewalt die Ehrlichkeit lebt –, Aino der aus reichem Gefühl alles be­glü­cken will, was Leben heischt, und darum alles verabscheut, was dem Leben sein Recht vorenthalten will. In Tio die duldende, in Aino die schaffende Ursprünglichkeit inmitten der Be­schränk­ung des Lebens – so erwächst vor uns der Kampf des Lebens wider den Stillstand, das ewig alte und ewig moderne, das eigenmenschliche Streben nach dem Recht an Freude. «Aino und Tio» ist das Hohelied des Idealismus, der warmherzig furchtlos den Neidern und Feinden entgegentritt:

 

Natur – verkürzt um ihre Rechte –

Ein Lump, wer da zu kämpfen scheute.

Akt IV

Der Pulsschlag dieses zukunftmodernen Werkes, dessen kraftvoller Geist auch in der frischen, wechselnden Sprache zum Ausdruck kommt, ist gleichsam:

 

Dass jedem Gefühl, im Herzen geweiht,

So sehr es auch unsre Meinung befehde;

Gott selbst den Adelsbrief verleiht.

Akt IV, Szene 1

Natürlich beansprucht dieses Vorwort nicht eine pedantisch-rationale Erklärung dieser Dichtung zu geben, jeder mag selbst daraus schöpfen, was der Dichter noch hineingeheimnist hat, wie Dr. Paul Schlenther das so fein erkannt und so treffend aus gedrückt hat: «Der Reiz der Dichtung besteht darin, dass man genau fühlt, wie gleichmässig und gleichzeitig das alte Märchen und eine im Kampf mit der Gewohnheit abgesondert ringende Seele daran beteiligt sind.» Aber auch ohne diese vielfach tie­fere Bedeutung bleibt die Dichtung von naivem Reiz: nicht nur solchen, die gern hinter die Geheimnisse des Lebens spähen, sagt sie etwas, auch das warme Herz, das ohne Grübeln an den Menschenschicksalen Ainos und Tios gemütvollen Anteil nimmt, fühlte sich schon beim Lesen von ihr erfasst und dürfte auch bei einer Aufführung ergriffen werden; ja selbst der ermüdete und zerstreute Sinn könnte sich mühelos an den wechselnden, anmutigen Bildern und Reigen dieser Szenen erholen.

Doch ich überlasse dem Werke das Wort und dem Leser das Urteil.

 

 

Auszüge aus dem Stück

Erster Akt

Eine einsame Lichtung im Birken- und Tannenwalde, von Farnen und andren Kräutern bestanden. Links im Mittelgrunde eine doppelstämmige Buche, ihr zu Füssen rieselt eine Quelle aus den Steinen hervor.

Es ist später Nachmittag, Libellen und Falter schwärmen lässig im Lichte. Leichte Musik weckt die Stimmung.

Die Bühne ist anfangs leer. Ein altes schlichtgekleidetes Weib, mit einem Kopftuch, aus dem ihre grauen Haare her­vor­sehen, und einem Korb am Arm, kommt durch das seitliche Gebüsch; es ist: Wanna, Tios alte Wärterin. Bald darauf in leichtem Sprunge von der bewaldeten Senkung (links im Vor­dergrunde) ein blutjunges hübsches Mädchen. Sie trägt ein hellgraues, verschossenes Röckchen, das bis an die Kniee reicht; Beine und Füsse sind bloss. Im braunen, kurzgelockten Haar, das ein rundliches Köpfchen umrahmt, trägt sie Mohn­blumen. Ihr ganzes Wesen atmet schelmische Heiterkeit, die bis­weilen plötzlich, aber vorübergehend einer trüben Stim­mung weicht. Es ist Tio – ein Aschenbrödel.

 

Erster Akt, erste Szene

Wanna allein, ruft in den Wald: So komm doch, Kind! Sie pflückt Kräuter. Erfreut: – Die Kräuter hier! Tio trällert von ferne. Ho, Tio! Tio! … folg doch mir! Ei, solchem leichten Jugend­sinne wird selbst Erfahrung nie zum Gewinne.

Tio springt in die Bühne: Da bin ich, mein scheltendes Mütter­lein! Im Walde kann ich doch trällern und singen, muss ich daheim schon traurig sein. Hier kann ich jubeln, kann ich springen!

Wanna: Du hast ein wahres Knabenblut.

Beide pflücken Kräuter, aber Tio etwas lässig.

Tio: Mir gaben die Feen so heiteren Mut. Müsst ich denn sonst nicht gar verzagen, werd ich daheim gescholten, ge­schla­gen. Stiefmutter ist eine Königin, Stiefschwestern stol­zie­ren nach ihrem Sinn, ich muss allein mich mühen und plagen.

Wanna: Mein Mädel, es haben so viele zu klagen.

Tio: Wir beide suchen von früh bis spät, gebückt, nach Kräu­tern an der Erden den eitlen Geschwistern zu einem Bad. Spöttisch: Sie werden trotz allem nicht schöner werden!

Wanna: Nur immer fleissig! der Abend naht, die Sonne sinkt schon hinter den Bäumen. Lass uns nicht länger beim Sprechen säumen! Stiefmutter nennt dich bös und träge und Schelte kriegst du, harte Schläge.

Tio: O Schmach! Am liebsten ergriff ich die Flucht. Entwachsen bin ich doch solcher Zucht. Wenn das meine tote Mutter wüsste! …

Sie wird missmutig und sammelt eifrig Kräuter.

Wanna: Ja – ja – der Himmel dir helfen müsste! Nach einer Pause: Nun ist mein Schnuckchen ganz verstimmt. Wie schnell sich frohe Laune nimmt!

Tio erst schmollend, dann immer heitrer: Du tatest mich erst so gütlich schmälen, und da vergass ich dir was zu erzählen. Ein Eisen von einem Pferdehuf bedeutet doch Glück für den, der es findet?

Wanna: Lieb Kind, wohl ist es geheimer Ruf, dass sich ein Glück mit dem Huf verbindet; und stecken viel Nägel noch drin im Eisen – o ja! …

Tio: So will ich das Glück dir beweisen. Und sämtliche Nägel waren daran. Doch konnt ich das Eisen nicht mit mir bringen – Die Alte, blickt sie erstaunt an. Tio lachend: das ganze Ross noch steckte dran!

Wanna: Du Närrin! Dies Glück kann leicht entspringen.

Tio lebhaft: Es war ein schönes Ross ohne Reiter und sprengte im Wald immer weiter, weiter … Mir schien das Ross verzaubert schier – das müsste den kühnsten Prinzen tragen, und einen schönen … Aufschreiend: Gott! Das Tier! Den wilden Eber – siehst du ihn dort?!

Wanna erschrickt: Wo sollen wir gleich nur Zuflucht suchen?

Tio: Schnell, schnell! Verkriech dich im Schatten! fort! ich klettere hier in die Zweige der Buchen. Wanna versteckt sich hinter der grossen Buche, Tio klettert flink auf den Baum und späht nach rechts in den Wald hinein: Jetzt steht er still, jetzt schielt er her.

Wanna: O, wenn er doch schon vorüber wär!

Tio mit neugierigem Gruseln: Dies grässliche wilde Ungetüm! Im Sicheren lässt es sich schon betrachten. Beugt sich vor: Mir deucht, es blutet.

Wanna: Die Zweige krachten! Bleib still!

Tio: Jetzt wird es gar ungestüm! Nun reibt es sich dort am alten Stamme. Nun kommt es näher! O, liebe Amme! Es wendet sich fort. Da kommt es wieder!

Wanna: Mir fährt der Schreck in alle Glieder!

Tio: O je! jetzt ist es davon gerannt.

Sie klettert herunter, die Alte kommt zögernd hervor.

Wanna: Mich hat die Furcht fast übermannt.

Tio: Das Tier war so hässlich! Mir könnte schaudern …

Wanna: Nun komm und las uns nicht länger zaudern!

Tio sehr lebhaft: Ein feiner Jäger! dort in den Bäumen!

Wanna: Komm! Komm! und lass uns nicht länger säumen.

Tio: Wie er sich schleppt! O Gott! Er blutet Der arme – arme – schöne Mann!

Prinz Aino kommt schwankenden Schrittes von rechts aus dem Walde, sich auf einen Speer stützend. Er ist von schöner, reifer Erscheinung, volles blondes Haar fällt ihm in die Stirn; Antlitz und Wesen sind von herber Sinnlichkeit, die in lebhafte Energie über­gehen kann, aber nie sentimental. Er kann ironisch werden, wie ein Menschenkenner und herzhaft lachen, wie ein Knabe. Er sieht jünger aus, als er ist. Eben ist er verwundet.

Er trägt eine Tracht nach Art der Hochländer, nur nicht gescheckt: einen hellgrünen Hemd-Rock bis zu den Knieen, an den blossen Beinen weissgeränderte, violette Halbstrümpfe und geschnürte Stiefel. Über dem grünen Hemd-Rock hat er eine weisse, lose Jacke ohne Ärmel. Eine kleine lila Kappe mit einer Adlerfeder hängt an einem Bande über die eine Schulter, von der in gedrängten Falten ein veilchenfarbiger Plaid herabfällt.

Das Licht wird immer abendlicher und röter bis gegen Ende der Szene.

Aino auftretend: Mein Ross! … Ach! – die Bestie! …

Tio mehr für sich: Oh! Vermutet hab ich was Böses – Lauter: armer Mann!

Aino erblickt beide: Gott grüss euch! – grüss dich, liebes Kind!

Tio geht auf ihn zu: Ihr schwankt. Hier – stützt Euch, Herr! Er zögert. Geschwind!

Aino: Wie wird mir!

Er legt die Hand auf ihre Schulter.

Tio: Habt Ihr viel Blut verloren?

Aino stockend: Ich stieg vom Ross – und wollte – durchbohren – allein ...

Tio fällt lebhaft ein: Der Eber! Dies garstige Tier!

Aino erstaunt: Du weist?! …

Tio: Ich sah ihn vom Baume hier, nachdem er Euch verletzt. O hielte ich diesen Speer, sie fasst lebhaft seinen Speer, mit erklärender Gebärde: als er da schielte, er lebte nicht!

Aino sieht ihr in die Augen: So zart und mutig!

Wanna: Seid Ihr im Walde ganz allein?

Aino schwankt.

Tio: Wie wird Euch?

Sie stützt ihn.

Aino: Ach! Ich mach dich blutig. Nicht fern mehr … können ... die Andern sein. Mein Horn …

Er tastet nach seinem Jagdhorn.

Tio: Erst muss ich Euch verbinden.

Sie lässt ihn sacht hinabgleiten, bettet ihn und reisst sich ein Stück von ihrem Röckchen ab, um ihn zu verbinden. Er zieht eine Mohn­blume aus ihrem Haar.

Aino: Ihre Augen! …

Tio: Still, mein Ritter, still!

Aino: O Sonne – werd ich dich – wieder – finden – ? …

Seine Augen schliessen sich, er bleibt wie leblos. Die Abendröte erfüllt den Wald. Tio beugt sich besorgt über ihn.

Tio: O Gott! – Ob er noch reden will? Wenn er hier stürbe! …

Wanna: So blase ins Horn!

Tio nimmt das Horn von Ainos Seite und bläst hinein. Andere Hörner antworten. Sie reisst sich noch einen Streifen vom Kleide ab und reicht ihn der Alten.

Tio: Schnell! Tauche den Lappen in jenen Born.

Sie öffnet seinen Hemd-Rock vorne und feuchtet sein Herz und seine Stirn mit ihrem Lappen an. Während sie um ihn beschäftigt ist, kommen Ainos Begleiter. Sie tragen eine ähnliche Tracht. Voran Sselge. ein junger Edelmann, einer jener Menschen, die im Guten Kameradschaft halten, aber nicht den Opfermut der Freundschaft besitzen.

Sselge: Wo ist der Prinz? – Erblickt ihn: Sagt, ob er lebt!

Tio nur halb aufmerkend: Der Prinz?! Ihr wollt ihn mit Euch tragen?

Sselge: Wie kam das? Sprecht!

Tio über Aino gebeugt: Wie das Blut hier klebt!

Sselge unruhig: Wie soll ich Kunde dem König sagen!

Tio behorcht Ainos Herz. Frohlockend: Er lebt!

Sselge holt einen Beutel hervor. Zuwerfend: Habt Dank! Für die Hilfe – da!

Tio wehrt mit natürlicher Empfindung ab. Die Begleiter treten an Aino heran, um ihn aufzuheben.

Tio: Gold, Herr! Mir Gold? Was denn geschah! Auf ihr zerrissenes Kleidchen weisend: Dies bisschen Zeug – ist's Goldes wert?! Pfui Dem! der um Liebe Gold begehrt!

Sie nimmt das Gold und wirft es in die Quelle, Sselge sieht sie erstaunt an; gibt ein Zeichen, den Prinzen aufzuheben, was nun geschieht.

Sselge: Der Himmel geb Euch die Belohnung! Lebt wohl!

Sie tragen Aino fort.

Tio zurufend: O tragt ihn mit Schonung, viel Schonung! …

 

[…]

Zweiter Akt

Ein Turmgemach in der Burg von Nargen, in herbem Stil. Im Mittelgrunde ist eine hohe Fenstertür mit dem Ausblick auf das Meer und eine steile tannenbewaldete Felsenzunge. Links ist ein grosser Kamin, in dessen Nähe eine mit Pelzwerk belegte Ruhebank und einige Sessel; mehr im Vordergrunde ein Tisch mit Spiegel und Zubehör. Rechts vorn ist ein kleineres Erker­fenster, an dem ein Tisch steht, der mit Kräutern und Samen bedeckt ist. Weiter hinten eine Tür. Es ist später Nachmittag.

Leichte Musik, bald wehmütig, sehnsüchtig, bald spru­delnd ausgelassen. Tio, wie im ersten Akt gekleidet, kommt mit einem Strauss Mohnblumen herein.

Zweiter Akt, erste Szene

Tio singend: Herz, warum hüpfest du freudig bewegt? Jubelst nur immerzu stürmisch erregt! Sie tritt vor den Spiegel und steckt sich einige Mohnblumen ins Haar und andre vorn an die Brust, dann zieht sie ein schönes Perlenband aus dem Busen und streift es über die Hand: Herz, warum pochst du so ungestüm bang? Werd seiner nimmer froh mein Leben lang! Sie geht ans Erkerfenster und beginnt die Kräuter und Samen zu sondern. Tauben kommen ans Fensterbrett. Halb singend: O kommt! Gurre, gurre. Helft, Täubchen! Pick, pick. Pfeifend: Tju … tju. Gurre, gurre. Tju … tju … pick, pick. Pick, pick! Kurzes Schweigen, dann fährt sie in trüber Tonart singend fort: Nach dem Wilde spähst, Du Jäger fein. O dass du sähst auch meine Pein! Wär ich ein Reh tief, tief im Wald … Herz­süs­ses Weh – träfest mich bald. Dein Arm mich umfing. Und stürb ich schier! Das Haupt doch hing am Busen – dir! … Sie wirft die Kräuter aus der Hand. Lebhaft, in der Tonart wie am Anfang: Sterben?! Ach, nein, nein, nein! Will es noch nicht. Viel lieber glücklich sein. Glücklich–ch–ch–ch! …

Sie tanzt im Gemach in die Runde. König Nargen, seine zweite Gattin Tigge und deren beide Töchter, Walga und Ebbe, treten in demselben Augenblick ein. Tigge ist eine herrische Frau mit scharfen Zügen und dunklem Haar in rostbrauner Gewandung: engherziges Mutterinteresse für ihre Selbstgebornen. Walga, eine üppige stolze Erscheinung, ebenfalls mit dunklem Haar, in hellroter Tracht; Ebbe schmächtiger und blond, grüngekleidet. Nargen ist ein weicher Charakter, der um des lieben Friedens willen auch da nicht raue Entschiedenheit findet, wo sein Herz ihn dazu treibt; er hat einen kurzen braunen Vollbart. Sein Kostüm ist vorwiegend blaugrau. Die Musik verstummt jäh.

Tigge bleibt entrüstet stehn, Walga blickt höhnisch und Ebbe geärgert, Nargen ist betreten, Tio hält überrascht und verlegen inne.

Tigge schrill: Das nennst du arbeiten, faules Ding!

Ebbe schnippisch: Willst immer tanzen, immer springen!

Walga verächtlich: Und dann dein dummes Sing–sang–sing!

Tigge: So kannst du nichts zu Ende bringen. Dann heiss ich bös und ungerecht.

Nargen begütigend: Es ist die einzige ihrer Freuden …

Tigge abschneidend: ... die schöne Zeit so zu vergeuden. Ei wo, das Mädchen ist träg und schlecht.

Ebbe: In jeden Spiegel guckt sie hinein.

Walga: Das eitle Ding glaubt schön zu sein.

Nargen: Sie ist doch wirklich schlecht gekleidet.

Ebbe: Es ist so recht, weil sie uns neidet.

Walga: Im Walde läuft sie wild umher, doch Kräuter zu pflücken ist ihr zu schwer.

Tio schmollend: Jawohl! Ein Schönheitsbad zu rüsten, such ich mich stundenlang halbtot.

Tigge zu Nargen: Du siehst, sie wagt sich noch zu brüsten. Das ist der Dank für ihr täglich Brot, das sie noch meiner Töch­ter spottet. Sie ist verdorben, falsch, verrottet! wie ihre Mutter, die Zauberin! Und du bestärkst ihren schlech­ten Sinn.

Tio losbrechend, anapästisch: Meine Mutter! …

Tigge: Still! Tu deine Pflicht! Sonst kriegst du heute dein Essen nicht.

Nargen spöttisch-vorwurfsvoll: Ihr selbstgelesnes Linsengericht!

 

[…]

Dritter Akt

Ein einfacher Herdraum in Nargens Burg, der knapp bis zum Mittelgrunde reicht. Das Feuer brennt. Die alte Wanna ist am Herde beschäftigt. Rechts im Mittelgrund ist eine Tür; wenn sie sich öffnet, sieht man in dichtes Grün hinaus. Es wird Abend.

Tio kommt herein. Sie ist als Knappe gekleidet hat einen veilchenfarbnen Rock, ebensolche Halbstrümpfe, gelbe Schuhe, ein orangerotes Jäckchen ohne Ärmel, mit einem weissen Plaid auf der einen Schulter, ein Dolchmesser am Gürtel und ein lila Käppchen mit weisser Schwanenfeder im Haar. Ihr Gang ist zögernd, ihre Miene verstimmt.

 

Dritter Akt, erste Szene

Wanna freudig: Gott grüss dich, Kind! Wohlauf zurück? Wie steht es denn mit unsrem Glück? Besorgt: Was ist dir denn? Wie trüb du schleichst! Tio schmollt trotzig. So sprich! Wie ernst du das Köpfchen neigst! Ich hab dir nicht die Mei­nung verhehlt. Mein Heimchen, gesteh, es war verfehlt? Du hast ihn am Ende garnicht gesehn? Tio nickt bejahend. Wanna erstaunt: Doch … aber unerkannt im Gedränge? Tio schüttelt den Kopf. Dann kann ich den Trübsinn gar nicht verstehn. Ermüdet hat dich des Rittes Länge, du bist nicht an solcherlei Mühen gewohnt.

Tio gepresst: Ach … Gott! ich bin zum Unglück geboren.

Wanna: Wen hätte das Unglück ganz verschont!

Tio dumpf: Ich hab es verloren – bald es verloren …

Wanna: So red doch. Dein Schweigen ist unterträglich; dein Anblick, Tio, gar zu kläglich. Sie holt Tios grünes Alltagskleid hervor: Komm, leg den Rock ab und die Waffe. Starrt sie noch einmal an: Ei, du possierlicher, hübscher Affe! Sie nimmt ihr den weissen Plaid und das Jäckchen ab: Wo ist ein Kleidchen, das dir nicht stünde! Solch junges, hübsches, quickes Blut! Das ist Verzweiflung wahre Sünde! Will ihr das Alltagskleid anlegen: Selbst solch ein Röckchen kleidet dich gut. Plötzlich: Wo ist das Armband? Tio bricht in Schluchzen aus. Das sind die Gründe! Verloren also? … Nun, weine doch nicht! Um einen Schmuck das Herz nicht bricht.

Tio noch unter Tränen: Du kennst ja doch nicht seinen Wert …

Wanna: Die Huld aber derer, die ihn beschert. Wo, wie geschahs?

Tio nach dem Weinen noch schnuckend: Er bat das Band – das er zuletzt mit Gewalt entwand.

Wanna: Wer denn?

Tio: Der Prinz, mir abgestreift ungeduldig beim Tanz ... Als ob sich das schwer begreift!

Wanna: Er tanzte mit dir?!

Tio: Nun ja, wie ich sagte.

Wanna: Gut Glück! Ob er deinen Namen erfragte?

Tio selbstzufrieden: Er weiss, dass ich dieselbe bin.

Wanna schlägt in die Hände: Kind, Kind! und wählte dich aus zum Tanze!

Tio kleinlaut: Mein mein Schmuck und mein Glück ist hin.

Wanna: Du Törin! Glück bedeutet das Ganze. Was sagt ihm denn der Schmuck allein! Er sehnt sich jetzt gewiss nach dem Arme, von dem er das Band gestreift, das warme; und forschen wird er.

Tio halb aufgeheitert, halb trüb: Weiss Gott! nicht finden …

Wanna: Mit Mut lässt sich die Welt überwinden. Du bist so müd. Hier, schlaf dich aus, bevor Stiefmutter noch zu Haus. Sie breitet rechts eine Matte aus, legt das graue Röckchen ihr als Kopfkissen hin und deckt, nachdem Tio sich hingestreckt hat, ihr den weissen Mantelplaid über. Zurechtrückend: So ruht sichs besser. Ich werd dich wecken.

Tio: Lass nicht die Schwestern mich erschrecken! Wanna geht hinaus. Leise Musik beginnt. O Mutter, du liebe Mutter mein! Einschlafend: Mus ich – ich – immer traurig sein …

Tio schläft ein. Einen Augenblick ist tiefe Stille. Es ist dunkel geworden, nur das brennende Herdfeuer wirft seinen Lichtschein. Plötzlich lodert es hell auf und wie die Flamme sinkt, steht Lindas Erscheinung da.

Linda: Liebes Kind, ertrage! Heute noch entsage! Müssen dop­pelt dulden, wo wir nichts verschulden. Oft im Mantel der Sorgen ist unser Glück verborgen. Nacht gebiert den Morgen. Einen Schritt näher, mit prophetischer Gebärde: Wenn das Band zerriss, wenn die Perlen rollen, sie dir helfen sollen wider Kümmernis.

Tio wie im Traum: Wenn die Perlen rollen, sie mir helfen sollen …

Die Herdflamme erlöscht, es wird ganz dunkel.

Der Vorhang fällt

 

Dritter Akt, zweite Szene

Die Bühne verwandelt sich in das Turmgemach, wie es in der ersten Szene des zweiten Aktes war.

Tigge, Walga und Ebbe kommen herein, wie am Anfang des zweiten Aktes gekleidet.

 

Tigge ärgerlich: Ach du! das war ein törichter Streich. Das Fest zu verlassen in kindischer Laune, gerät nicht alles nach Wunsche gleich! «Bleib, bleib!» umsonst ich dir zweimal raune!

Walga in erregtem Ärger: Ach Mutter! schuld ist die dumme Dirne. Mit dieser Frechheit, mit dieser Stirne hat sie mir alles nachgeäfft, hat da süss dumm mit ihm gekläfft. Das sollt ich sehn und kalten Blutes?!

Tigge: Aus Überstürzung wird nichts Gutes. Die jungen Männer sind alle Narren; spann sie nur richtig an den Karren!

Ebbe zu Walga: Jawohl, du machtest die Sache nicht richtig.

Walga: Ha du! Du bist auf einmal so wichtig. Spöttisch: War er bei dir denn so dabei?

Ebbe: Dies Maskenfest war Narretei.

Tigge: Ihr seid zwei rechte Gänschen noch. Als Witwe zwang ich den König ins Joch! Ihr wäret sonst nicht Prinzessinen heute. Und dieser Prinz ist auch eine Beute.

Walga herausfordernd: Besorgte Mutter, lad ihn doch ein! Dann sollst du schon Erfolge sehn.

Ebbe zu Walga: Wart ab, du bist hier nicht allein.

Tigge: Still da! — die Klügste wird ihn erstehn. Die Frauen sollen zusammenhalten: darin bestehen unsre Gewalten. Die Männer sind einander feind, der Frauen Klugheit die Frauen vereint. Nicht jede dabei Seide spinnt, allein das ganze Geschlecht gewinnt.

Ein Edelknabe, wie Tio in vorhergehender Szene gekleidet, kommt herein.

Edelknabe: Frau Königin, er ist gekommen!

Tigge: Wer? Wer?

Edelknabe: Der Prinz!

Tigge ungeduldig: Wo hast Du’s vernommen? Der Prinz von Jerwen? Bist du Dir's klar?

Edelknabe: Frau Königin, gewisslich wahr, er kam mit einer kleinen Schar vor kurzer Zeit in den Hof geritten.

Tigge: Gleich soll der König ihn zu uns bitten.

Knabe ab.

Ebbe: So schnell! Sind wir auch fein genug?

Tigge: Ach was! Seid nur ein wenig klug! Nur immer ver­schwen­den und gar nichts ernten!

Walga: Was meinst du, wenn wir uns etwas entfernten? Wir machen uns so gemein mit Huld.

Bevor sie darüber schlüssig werden, kommt Nargen mit dem Prinzen herein, der wie im ersten Akt gekleidet ist. Seine Verbeugung erwidert Tigge huldvoll, Walga gespreizt, Ebbe geziert.

Nargen: Hier bring ich den Prinzen, voll Ungeduld euch zu begrüssen.

Tigge: Ah … willkommen!

Nargen: Ein Andenken hat sich der Prinz genommen auf jenem Feste: in seiner Hand ward ihm zur Kette das schöne Band, das ihm beim Tanze zurückgeblieben. Nun junger Freund, nehmt selbst das Wort.

Aino zurückhaltend: Es hat mich zu eurem Hofe getrieben, weil eine Blüte an diesem Ort, so hiess es, ihren Ursprung hätte. Die Blume Mohn liess ihre Kette an jenem Abend mir zurück. Ich suche des Festes Königin-Blume.

Tigge gemacht: Da führt zu der Liebe Heiligtums, mein Prinz, Euch Eurer Jugend Glück. Weist auf Walga: Hier seht Ihr den Mohn in anderem Kleide, hier steht die Blume zu Eurem Geschmeide.

Walga beugt sich mit leichtem Lächeln vor, Aino starrt sie wie abwesend an.

Walga: Ihr staunt – Ihr stutzt – es macht Euch verwirrt …

Tigge gedämpft zu Aino: Ich bin gewiss, dass Ihr Euch nicht irrt.

Walga: Ihr seid am Ziele, Prinz, und – zaudert . . .

Tigge mehr zu Nargen: Ein Täuberich, der erst noch girrt. Zu Aino und Walga: Versucht den Schmuck doch!

Walga halblaut zu Tigge: Mutter, mich schaudert!

Tigge leise zu Walga: Sei keine Närrin, geh tapfer vor! Laut: Prinz, Prinz, in der Liebe ist jeder – mit erzwungnem Lächeln: – Tor.

Sie drängt zur Probe. Aino versucht das Band mit innerem Widerstreben an Walga; es gelingt ihm nicht.

Aino hastig: Nein, nein, nein, nein! Es will nicht gehn.

Tigge leise zu Walga: Quetsch deine Hand! Laut: Ihr sollt schon sehn.

Walga halblaut: Es geht nicht, Mutter, mir stockt das Blut.

Tigge gereizt flüsternd: Verrenk den Daumen! So Hab doch Mut!

Aino: So seht, wie sie leidet. Mehr für sich: Es glitt doch so leicht.

Tigge auf Ebbe weisend: Versucht an ihr, da wird es gleiten. Zu Ebbe: Fass dir ein Herz! so ist es erreicht.

Ebbe: Leiht mir die Perlen, die gefeiten; mein Prinz, sie sind für meine Hand, ich halte gewiss dem Zauber Stand.

Tigge: Was zaudert Ihr, die Rechte zu finden! Ihr müsst ver­liebte Scheu überwinden.

Ebbe: Ihr kränkt mich, Prinz.

Aino tritt zögernd an sie heran.

Tigge will nachhelfen: Nur frischer wagen!

Ebbe versucht.

Ebbe halblaut: Es geht nicht, nein.

Tigge halblaut zu Ebbe: Du musst es ertragen. Nur zu! wird auch die Hand verletzt, ein Königreich sie dir ersetzt.

Tigge versuchts mit Gewalt.

Ebbe: O weh!

Wird ohnmächtig.

Nargen sie auffangend: Ihr schwinden die Sinne!

Tigge: So fällt in Ohnmacht gleich die Jugend. Spöttisch: Der Held steht starr dabei. Ein schwaches Blut! Zu Nargen: Führ sie hinaus! An der Luft wird ihr gut. Beim Liebes­wer­ben zu versagen!

Tio kommt in ihrem Aschenbrödelkleid herein. Sobald Aino ihrer gewahr wird, gerät er in lebhafte Bewegung.

Tigge herrisch: Was willst du?

Tio schüchtern: Ich komm nach der Arbeit fragen.

Tio erkennt Aino, sucht sich zu beherrschen und errötet.


Tigge barsch: Zu schlechter Zeit kommst du mich stören. Geh! bis ich selbst dich rufen lass.

Tio zögert verwirrt.

Aino: Nein, nein! Ein wenig weil! …

Er geht auf sie zu.

Tigge befremdet-empört: Wie das?! Will sie des Prinzen Herz betören!

Aino: Dir muss es passen, das Armband hier! Lass mich ver­su­chen die Perlenzier.

Tio zagt.

Walga, die bislang abgekehrt gestanden hatte, blickt nun Tio lauernd an; sie scheint alles zu erraten. Sie wirft ihren Kopf mit trotzigem Hochmut zurück, während Auge und Mund feindseligen Hass verraten.

Tigge: Dies elende Ding, seid Ihr von Sinnen, dies Aschen­brödel wollt ihr gewinnen!? Die! hättet Ihr auf dem Fest verloren.

Tio hebt den Kopf, mit Stolz: Ich bin nicht als niedere Dirne geboren. Ich bin des Königs verstossenes Kind!

Tigge mit Geifer: Zu unnatürlicher Liebe erkoren, ward deine Mutter in Schmach gewinnt! So bist auch du, auch du gesinnt!

Währenddessen fasste Aino Tios Arm ohne auf Tigge zu achten; er legte das Armband ihr an.

Aino freudig, der anderen vergessend: Ich dacht es wohl: dein ist das Band! Liebkosend strich es deine Hand.

Tio tief atmend: O Prinz, ihr stürzt mich ins Verderben!

Aino berauscht: Mein! sollst du sein, ein Reich erwerben!

Tio: O lieber Prinz! …

Sie blickt ihm halb ängstlich, halb vertrauensvoll in die Augen.

Tigge drohend: Du trotzest Befehlen?!

Aino mit tiefer Überzeugung: Dies Armband kann nicht Wahrheit hehlen! Hält Tio fest: Wie schmiegt sich’s an den schönen Arm! Noch minder heucheln deine Augen, ihr Blick ist lieb, ihr Blick ist warm.

Tigge: Zu falschem Spiel nur magst du taugen, du Hexenkind, das uns bestahl!

 

[…]

Vierter Akt

Burghof des Königs Jerwen, wie im ersten Akt, zweite Szene; die zinnengeschmückte Mauer hat an der linken Seite des Tores Steinstufen, die zu einem kleinen Luginsland hinaufführen. Es ist Tag.

Jerwen, Jssa und Kawwal kommen im Gespräch nach vorn.

 

Vierter Akt, erste Szene

Kawwal: Mein König, wie ich mich doch nicht trog, das seht Ihr, zeigte sich in Bälde. Die Biene, die nicht an der Blüte sog, irrt unstet umher in Garten und Felde. Ein junger Mann muss eben lieben. Mit Nachdruck zu Jssa die drei ersten Worte betonend: Steht das nicht in den Sternen ge­schrie­ben?

Jssa: Doch welcher Art die Liebe sei, ob wir sie können an­er­ken­nen, das fragt Ihr wahrlich nicht dabei. Man kann in Unnatur entbrennen.

Kawwal: Hochwürdiger Herr, wer kann das wissen, was die Natur in uns erstrebt! Wo glaubt Ihr denn Natur zu mis­sen? Es ist Natur, die uns durchbebt. Was lebt und stirbt, was liebt und hasst, in jeder Form die Natur umfasst. Auch Menschengeistes hohe Gewalt ist nur Natur in andrer Gestalt.

Jssa pathetisch: Natur! Natur! … die edle nicht.

Kawwal mit leichtem Spott: Hm – sagte das Euch ein Gesicht? Was uns gefällt, wir nennen es edel und weihen es mit unserem Wedel. Der Affe, der in den Spiegel schaut, will sich natürlich schön erscheinen. Wenn Affen nicht vor dem Affen graut, darf drob des Nachbars Katze greinen?

Jssa: Ihr wollt das Alte stets verneinen.

Kawwal: achselzuckend: Der Frühling verneint des Winters Schalten, der Winter – des Frühlings und Sommers Wal­ten, der Frühling kehrt wieder . . . Wer sind die Alten!

 

[…]

 

Jerwen: Erspar mir, dir es abzufordern!

Aino schmerzlich-lebhaft: O Vater, spart dies zu beordern! Spart mir die Schmach. Jerwen bewegt verneinend den Kopf. Der Prinz tritt zurück, die Hand an der Waffe: Nein, nein, nein, nein!

Auf ein Zeichen des Königs wird das Tor geschlossen.

Aino: Wollt Ihr zum Äussersten mich zwingen, muss ich des Lebens Hüter sein! Lebt wohl! Springt über die Mauer, Jöggi ihm nach.

Jerwen will vorwärts: Mein Sohn! … ihm nach! Schwankt: Allein!

Jssa stützt den König, die bestürzten Räte drängen herzu. Kawwal 
ist zum Lug hinaufgeeilt.

Kawwal von oben: Er lebt!

Der König richtet sich auf.

Jssa: Der Wahnsinn leiht ihm Schwingen.

Vorhang fällt

 

Vierter Akt, zweite Szene

Verwilderte Waldgegend. Im Mittelgrunde mehr nach links eine natürliche Felsgrotte. Rechts ein alter morscher Turm, von einem Wassergraben umgeben, über den eine kleine verwitterte Brücke zum Gatter des Turmes führt. Ein grosser, geteilter Eichenbaum steht rechts am Graben und streckt einen starken Aststumpf fast wagerecht aus, nahe bis ans obere Fenster des Turmes, doch so dass man vom Turm aus ihn nicht erfassen kann.

Es ist Abend, das letzte Rot verflammt, Fledermäuse huschen hin und wider. Die alte Wanna kommt in Unruh von links vorn. Während der Vorhang aufgeht und die Szene noch einsam ist, ertönt geheimnisvoll traurige Musik, die dann verstummt.

 

Wanna rufend: O Tio! … Tio! … (Echo: io!) Antwort bald! O Tio! … Tio! … Das Echo schallt so höhnisch. Tio! … Im Hof keine Spur, im Garten nicht. Wo bliebst du nur die ganze Nacht? Ich bin zu alt zu suchen. Tio! … Tio! … (Echo io!)

Sie verschwindet nach rechts hinter den Turm. Es dunkelt. Bald darauf erscheint König Nargen mit einem Ritter.

Nargen: Vergebens such ich nach meinem Kinde, und keine, keine Spur ich finde!

Der Ritter: Die Königin sagt, sie sei entflohn, nach Freiheit ihr schweifender Sinn verlangte …

Nargen: … weil alle Tage ihr Glück bedrohn, weil ihr vor jeder Stunde bangte. Zu lang, zu lang hab ich’s geduldet, ich selbst hab meinen Gram verschuldet. Wehmütig: Hier wars, wo von der Welt geschieden so kurze Zeit mein Glück gewährt, wo meines Herzens innigen Frieden die Liebe ihrer Mutter genährt! Seufzend: Um einen Erben zu er­lan­gen hab ich das herrische Weib gefreit. Von ihr verlockt, in Schuld verstrickt ward mein Gewissen wie erstickt.

Ritter begütigend: Mein Fürst …. wie streng Ihr selbst Euch zeiht!

Nargen abwehrend: Im Wunsch nach Frieden stets befangen versäumte ich Gerechtigkeit … Und doch! kein Erbe ist geboren, – das letzte Kleinod mir verloren! Weh dem! der stets den Frieden sucht: sein Los ist Leid, sein Erbteil Schande. Mein friedlich Herz, ach, sei verflucht!

Ritter: Mein Fürst, Ihr seid doch beliebt im Lande.

Nargen bitter: Ein alter Hofhund ohne Zähne ist auch bei Dieben und Mördern beliebt. Einsiedlertum ich längst ersehne. Mein Reich dem, der mein Kind mir gibt!

Beide gehn nach rechts im Hintergrunde ab.

Der Mond ist aufgegangen. Der Hausmeister und zwei Knechte kommen von rechts vom, sie führen Tio. Ihnen folgt ein betrunkener Wächter, gutmütig, doch ohne Herz, er hat Spiess, Laterne und Horn bei sich.

Tio flehend: Habt Ihr kein Herz? Lasst hier mich frei!

Hausmeister barsch: Was uns befohlen, das must du erdulden.

Tio: Ich kehr nicht heim. Ich schwörs!

Hausmeister: Einerlei!

Tio: Was tat ich denn! Was mar mein Verschulden? Bald sah ich zwei Tage die Sonne kaum!

Hausmeister roh: Hier hast du Licht und Luft und Raum!

Der Hofmeister gibt dem zweiten Knecht den Schlüssel und bedeutet ihn die Turmtür zu öffnen; es gelingt ihm erst, nachdem er sich bemüht hat.

Tio: So tötet mich! Es graut mir minder vor schnellem Tod. Seid doch gelinder!

Erster Knecht: Sie dauert mich.

 

[…]

 

Aino: Ein Käuzchen war es. Was gibst du acht! Im Walde ... das erste Mal, o weisst du? verlor ich das Herz an … Lieb, wie heisst du?

Tio kurz lachend: Ha: Tio. Und du?

Aino: Dein Aino. Du liebst mich?

Tio: Ganz furchtbar! Aino …

Aino: Mein Herz! Du gibst dich …

Tio einfallend: Dir ganz zu eigen! Du ahnst es kaum! Und weisst du, als du im Walde verwundet …

Aino verliebt: Wohl weiss ich, dass ich an dir gesundet!

Tio: ... Da sass ich wie eben in einem Baum.

Aino: Mir ist: es wäre das alles ein Traum. Drückt sie an sich und küsst sie. Lebhaft: Nein, nein! Dann lögen alle Sterne in Her­zens­grund und Himmelsferne!

Tio plötzlich: Mein Band?!

Aino zieht es hervor: Da ist es! An deinem Arm wird es so gerne wieder warm. Legt es ihr an.

Jöggi stürzt hervor: Mein Prinz! Ihr seid verraten! Hell seh ich dort Fackeln leuchten. Schnell! Aino und Tio gleiten vom Baume herab. Jöggi spähend: Von Eurem Vater – Männer in Waffen!

Tio an Aino geschmiegt: O Aino!

Aino: Mut! Bahn heißt es schaffen!

Sselge begleitet von einem Fackelträger und einigen Leuten kommt 
links aus dem Walde. Der Mond geht unter.

Sselge: Der König entbietet Euch Wiederkehr!

Jöggi nach rechts spähend: Da ziehen noch andre Leute her!

Sselge: Der Vater entbietet Euch Wiederkehr!

Tigge, Walga und Ebbe mit Gefolge kommen von rechts im Vordergrunde.

Tigge noch hinter der Szene: Verraten! Der Wächter fast er­schla­gen! Auftretend: Von wem? Wer sollte so Kühnes wagen? Ha! Frei? Befreit! Von Euch entführt! Zu Aino: Ihr liefert sie aus, die uns gebührt!

Aino zieht Tio auf die linke Seite der Bühne hinüber, so dass sich beide Hauptfeinde gegenüber stehn und in der Mitte der Blick auf die natürliche Grotte freibleibt.

Aino: Sich selbst und niemandem sonst ist sie eigen, ihr Los bestimmt ihr eignes Herz.

Tigge: Das wird die Macht der Stunde zeigen!

Tio mit lebendigem Trotz: Ich stürbe lieber!

Walga zu Tigge spornend: Zu langer Scherz! …

Aino: Noch tausendmal mögt ihrs mich heissen!

Tigge: So soll Gewalt sie Euch entreissen.

Während beide eine drohende Haltung einnehmen, kommt Nargen rechts zwischen Turm und Grotte her, gefolgt von Wanna.

Nargen rufend: Mein Kind, mein Kind! Erblickt Tio, überrascht: Ich finde dich doch?!

Nargen bleibt mehr rechts in der Nähe der Turmbrücke stehn. Tigge tritt einen Schritt vor und erblickt das Perlenband an Tios Arm.

Tigge: Das Perlenband! Zu ihren Leuten: Ihr zögert noch? Zer­reiss ich erst das Zauberband, vernichtet ist der Wider­stand!

Hastig greift sie nach dem Bande; ehe Aino wehren kann, zerreisst sie es zurückschnellend. Die Perlen rollen, ein Blitz flammt. Ein kurzes schauriges Arpeggio. In der Grotte steht Lindas Er­schei­nung. Tigge sinkt wie tot in ihrer Töchter Arme. Nargen streckt erschüttert, wie beschwörend die Hände gegen Linda vor.

Nargen: Sie ist es! Meines Lebens Sage … Du bist es, Traum­bild froher Tage! Geheimes Wesen der Natur, o lass mich folgen deiner Spur! Vergib, dass ich so oft versagte, selbst wider dich zu kämpfen wagte! Hier leist ich einen heiligen Schwur!

Linda verschwindet, der Morgen graut.

Nargen bestürzt: Du schwindest? Zürnst du meinem Säumen? Sich aufrichtend: Jetzt will ich einmal König sein! und dann als stiller Büsser träumen. Deutet auf Tigge, zu seinen Leuten: Fort! Fort! Verschüttet mit Erdenschollen! Tigge wird fortgetragen. Nargen weist auf den Turm: Der Bösen Töchter schliesst dort ein!

Ebbe fällt flehend vor Tio nieder. Walga steht finster und trutzig dabei.

Tio zu Nargen: Ach, lass sie ziehn, wohin sie wollen!

Nargen abwehrend: Nein, Kind, ich bin heut hart. Nein, nein! Deutet auf Aino: Wenn dieser herrscht, kann er befrein.

Nargen nimmt seine mit einem goldnen Reifen geschmückte Kappe ab und reicht sie Aino hin. Das erste Morgenrot tagt.

Nargen: Und nun entsag ich meiner Krone, und ihren Dornen, ihrer Frone. Zu Aino und Tio, zum Publikum gewandt: Ihr – dass wir Frohere erzögen – zwingt Keinen wider sein Ver­mögen!

Vorhang fällt – Ende

Aino und Tio, 1907
Seiner Königlichen Hoheit, dem Prinzen
Rupprecht von Bayern gewidmet.
Dichtend Erschautes, tief Erlebtes, die Seele webt es – lang Vertrautes, buntes Gebild – und stllt …

 

Personen

König Jerwen, Ainos Vater, ist ein humaner, energischer Mann, der seine festen Ansichten hat, ohne sie tyrannisch durchzusetzen.

Aino, sein Sohn

Kawwal, der Leibarzt Jerwens, ein im Grunde wohlwollender Mensch, von scharfer Beobachtung, daher leicht überlegen ironisch, doch nie boshaft. Ein freimütiger Kritiker.

Jssa, ein Priester, im Überlieferten begrenzt, doch kein Fanatiker.

Ull, ein Minister Jerwens, nicht ohne Schlauheit; doch rechnet er nur mit den kleinen Instinkten der Menschen. Diese Kurzsichtigkeit macht ihn oft ratlos, sodass ein komischer Kontrast zwischen dem notwendigen würdigen Ernst und seiner Geziertheit entsteht.

Sselge, ein Edler

 

König Nargen, Tios Vater, ist ein weicher Charakter, der um das lieben Friedens willen auch da nicht raue Entschiedenheit findet, wo sein Herz ihn dazu treibt. Er lässt sich leicht ins Unrecht setzen; nur die äusserste Verzweiflung erweckt ihn vorübergehend zur Tatkraft.

Tio, seine natürliche Tochter geheimnisvoller Abkunft

Königin Tigge, ihre Stiefmutter

Walga, die ältere, ist hochfahrend, ehrgeizig und hartherzig, aber auch unbeugsam in der Gefahr.

 

deren Töchter aus erster Ehe

Ebbe, die jüngere, ist weniger selbstbewusst; daher gezierter und empfindsamer.

Wanna, Tios alte Wärterin, eine gute treue Seele, di ohne auf persönlichen Vorteil zu achten, Tio beisteht.

 

Nebenfiguren zweiten Grades

Lindas Erscheinung, Tios Mutter, ein gütiges Naturwesen.

Jöggi, ein unverfälschter, dankbarer und mutiger Knabe.

Wahrsagerin, eine verbitterte, geheimnisvolle Menschenfeindin.

Jöggis Mutter

 

Erster Hofherr, lebemännischer Art.

 von Jerwens Hof

Erster Beamter, Typus eines selbstgefälligen höheren Dieners.

Zweiter Beamter, älterer Mann, wohlwollend und würdig.

Ritter Kerge, männlich selbstbewusst und ein andrer Ritter

 von Nargens Hof

Abgesandter, kühl aufgeblasen, voll von seiner Stellung mit zwei Gehilfen

Erster Hofmann, geschmeidiger Natur.

Hofherren und Hofdamen, zwei Edelknaben

Hausmeister, brutal und unterwürfig.

Sein Gehilfe, roh, aber mitleidig.

Wächter, täppisch-gemütlich und feig.

Magd, blühend derb und patzig gegen Unterdrückte.

Erster bigotter, fanatischer Bauer

Zweiter habgieriger Grossbauer

Dritter alter beschränkter Bauer

Ein keifende Bäuerin

Eine wehleidige Bäuerin

Stumme Typen

Ein Bote, Volk, Tänzer und Tänzerinnen

 

Zeit: Irgendwann, Ort: Irgendwo.

Rechts und links gilt hier stets vom Zuschauer aus.