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Technik und Kultur – Anhang

Anhang I, zu Seite 144

Es liesse sich entgegenhalten: die Geschichte erzählt von grossen gemeinsamen Taten ganzer Völker, von gemeinsamen Lebensordnungen, die ganzen Völkern von einzelnen Genies auferlegt wurden. Z.B. Moses, der seine geniale Anschauung eines einzigen Gottes den Stämmen Israels als nationalen Mono­theismus übergab und sie darin einigte. Oder die Ero­be­rung Palästinas durch diese Stämme. Oder Lykurgs Gesetz­ge­bung. Mohammed. Oder Alexander der Grosse, der ganz Hellas gegen Persien führte; Dschingis Khan, der seine Tatarenhorden von Peking bis Liegnitz reiten liess; Napoleon, der immer neue enthusiastische Heere aus dem Boden stampfte. Bismarcks Schöpfung. Die Kreuzzüge, der Unabhängigkeitskrieg Nord­ame­ri­kas, die Befreiungskriege Deutschlands und Italiens. Aber ist das nun Gemeinleben zu nennen? Missbrauchen wir doch das Wort nicht! Leben heisst eine stetige Entfaltung ineinandergreifender Bewegungen, Taten, Zustände, Gefühle; und Gemeinleben ist stetiger Austausch von Gefühlen und Tätigkeiten. Aber was ein Volk gemeinsam leistet, ist doch höchstens eine Grundlage zum Leben – Landerwerb, Beute, Unabhängigkeit, Ruhm. Und was ein grosser Mann kulturell schafft, kann ein Rahmen für das Leben sein, ein Wegweiser, ein wohlgefügtes Flussbett. Das Leben selbst müssen die Einzelnen erfüllen, mit ihrer Entwicklung und ihrem Austausch persönlichen Tuns. Wenn Kriegsnot und Kriegsrausch vorbei sind, dann rücken die Teilnehmer einander fern – räumlich, seelisch und wirtschaftlich – werden einander gleichgültig, fremd, ja feindlich. Die Nord- und Südprovinzen Italiens sind einander geradezu feindselig, Nord- und Süddeutschland sind trotz des «Reiches» auf vielen Punkten Gegner, die agrarischen und industriellen Gebiete stehen in einem be­greif­lichen Gegen­satz. Und teilt der baltische Baron ein Leben mit dem Jakuten Ostsibiriens, bloss weil Peters des Grossen geniale Kraft sie in einen Staat gezwängt hat?! Und die grosse gemeinsame Le­bens­form von des Genies Gnaden? Sie erst recht muss doch vom Einzelnen im Leben angewandt werden, in seinem eigenen kleinen Kreise mit den wirklich mit ihm Lebenden. Der gleich­ge­sinn­te Stammes- und Glaubensgenoss am andern Ende der Welt bedeutet für sein Leben nichts. Nur wenn sie zusammen kämen, könnten sie einander verstehen, solange nicht das eigne Leben die angeblich gemeinsame Kulturform verändert und differenziert hat. Man denke an den Unterschied des portugiesischen und des polnischen Juden, der Engländer und der Amerikaner. Und die christlichen Sekten! Also mehr als eine schwache Möglichkeit von Gemeinleben über einen räumlich und numerisch engen Kreis hinaus gibt es wohl nicht. Vielleicht kann durch bewusste Zucht der Persönlichkeit in Geschlechtern das persönliche Empfinden reicher und weiter werden, so dass dann das Gemeinleben auf breitere und doch kraftvollere Grundlage zu stehen kommt. Annähernd so waren ja die olympischen Feste, aber doch auch nur dank der starken Freiheit persönlichen Empfindens. Es ist, besonders von den Verehrern der englischen Freiheit (vergleiche Anhang II), behauptet worden, die Hellenen wären nur Staatssklaven ohne Persönlichkeit gewesen –, das ist die Tatsachen auf den Kopf gestellt! Denn wenn auch die «Polis», die Stadt, nicht einfach mit «Staat» zu übersetzen ist, es war der feste äussere Rahmen des hel­le­ni­schen Lebens, doch der Brennpunkt des persönli­chen Daseins – das Liebesleben – war so wenig beschränkt, als es bei so­zia­lem Leben möglich ist. Daher brauchte der Einzelne gar nicht ins Ausland zu gehen. Daher konnten persönliche Empfindungen zu hohen nationalen Gefühlen werden.

Anhang II, zu Seite 156

Die englische Freiheit! Gewiss – es gibt in England keinen Militärdienst. Gewiss – einem Knaben oder Mädchen von 17 Jahren steht frei das elterliche Haus zu verlassen und sich selbständig einen Beruf zu wählen. Gewiss – einem Vater steht frei die 15 jährige Tochter testamentarisch für Lebenszeit unter Kuratel ihres Bruders («Trustee») zu stellen. Schöne Freiheit für die Tochter! Gewiss – protestantische Sekten können nach Belieben aufschiessen. Doch wenn ein Engländer zum Islam überträte und sich frommerweise zwei Ehefrauen nähme, wür­de er wegen Bigamie ins Zuchthaus kommen. Und wenn sich ein Mann in seinem Heim erotisch auslebt, ohne jemand zu schädigen, jedoch anders als die öffentliche Meinung es er­laubt, so geht es ihm wie Oskar Wilde. Ja, wäre dieser ein Anar­chist der Tat gewesen, er hätte den Schutz der Asylfreiheit genossen – so aber wurde er eingekerkert, boykottiert, zu­grun­de gerichtet. Ellis und Symonds haben ihr Buch über «Das konträre Geschlechtsgefühl» in England nicht drucken lassen können. Krafft-Ebings «Psychopathia sexualis» wurde (oder wird noch) nicht über die Grenze hereingelassen. Zolas Werke waren untersagt. Also Zensur! Wer schimpft da noch über den russischen Zensor? England ist unfrei. Wenn ein Mann in zweiter Ehe seine Schwägerin heiraten will, so untersagt ihm das das Gesetz. Also gerade die Sphäre persönlichen Lebens und Glückes ist nicht frei. Das ist sie auch in vielen andern Ländern nicht. Gewiss, aber deswegen ist doch nicht England als freies Land auszuzeichnen, weil die andern auch staats­ty­ran­nisch sind. Der frühe Parlamentarismus Englands hat den Liberalen des Festlandes begreiflicherweise lange Zeit als Ideal vorgeschwebt. Es ist aber nur äussere, politische Freiheit des Bürgers; der Mensch ist geknechtet. Die antierotische Moral ist nun einmal die des Massenstaates. Sie hat mit Christus nichts zu tun: der war ein Lügen-, doch kein Lebensfeind. Sie hat einen ausserchristlichen doppelten Ursprung. Erstens in der Gesetzgebung des Josias, der den Jahvedienst von allen An­klän­gen an den Polytheismus reinigen wollte, und hierin arbeitet der alttestamentliche Paulus weiter. Zweitens in der lebensmüden Philosophie des industriell-demokratischen Athens, des sich zersetzenden Hellenentums. Die Sinnenwelt war zum Greuel geworden. England ist ein unfreies Land, dem geschriebnen Gesetze und dem ungeschriebnen öffentlichen Geiste nach. Es genügt, an die Behandlung zu erinnern, die Byron zuteil wurde, an Shelley, dem die Erziehung seines Kindes entzogen wurde, an Wilde. Und die englische Sonn­tags­schein­heiligung! die Prüderie, die das englische Publikum dem Festlande bescheert! die englische Lakaienetikette!

Ich weiss von einem Herrn, der seinen Freund, einen Ma­ler, nicht zum Familientisch lädt, weil dieser prinzipiell keinen – Frack anlegt. Gut, es steht jedem frei einzuladen, wer einem behagt. Aber das – Achtung der Persönlichkeit zu nennen?! Weit freier ist Italien, wo ebenfalls die Privatwohnung vor poli­zei­li­cher Willkür geschützt ist, wo eine fast unbeschränkte Pressfreiheit herrscht, wo im persönlichen Verkehr gerade die Persönlichkeit und nicht Gunst oder Sippe geschätzt wird. Und in Italien wäre Wilde auch schon im «dunklen Mittelalter» glimpflich weggekommen, z.B. in San Gimignano mit 100 Pisaner Lire (= 700 Frs.) Geldbusse. Ich kenne aber noch ein Land, das England voraus ist – Russland! In Russland gibt es seit 1½ Jahrhunderten die Todesstrafe nicht. Die ordentlichen Gerichte kennen keine Todesurteile – die sind den aus­ser­or­dent­li­chen Gerichten vorbehalten! So ist auch in England amt­lich Freiheit – lies gewerbliche Freizügigkeit –; für die Unter­jochung des Menschen sorgt schon der englische Geist selbst. Wenn den Engländern das entspricht, gut für sie, aber doch kein Grund für das Ausland, solche Leimrutenfreiheit zu lob­preisen. Höchstens wäre das ein Anlass zu sehen, wie aus dieser Form der bürgerlichen Freiheit allmählich die mensch­liche Freiheit entwickelt werden könnte.

Anhang III, zu Seite 204

Dass ein Volk seinen Menschenüberschuss zur Gründung von Ackerbaukolonien verwendet, ist recht und billig, ja wün­schenswert. Eine Kolonie kann sogar ein Kulturaufschwung über die Heimat hinaus bedeuten, z.B. der Dorer, als sie von Doris nach der Peloponnesos gelangten. Aber für die Ein­ge­bor­nen des Landes ist die Kolonie ein schweres Joch. Lächerlich also ist es, wenn der Eroberer das Knurren seines Magens für eine Prophetenstimme in der Wüste erklärt und sich auf den edlen Erzieher der Eingebornen und ihren selbstlosen Heiland hinausspielt. Aber mehr als lächerlich ist es, wenn ein lebender Ethnologe von der «Hebung des sittlichen und geistigen Ni­veaus der Eingebornen» schwärmt, den Handel einen Pionier von Bildung und civilizzazione nennt und dabei in demselben Artikel (im Tag vom 8. September 1906) folgende Tatsachen aufzuzählen weiss: «… dass die Portugiesen in Brasilien die Kleider von Scharlach- oder Blatterkranken auf die Reviere der Eingebornen legten, oder dass die Brunnen in den Wüsten Utahs, welche von den Rothäuten besucht zu werden pflegten, von Nordamerikanern mit Strychnin vergiftet wurden, oder wie in Australien, wo zu Hungerszeiten die Frauen von Ansiedlern Arsenik unter das Mehl mischten, mit dem sie die bettelnden Eingebornen beschenkten, oder endlich wie in Tasmanien, wo englische Ansiedler die Eingebornen niederschossen, weil sie kein besseres Futter für ihre Hunde fanden.»

Worin besteht denn eigentlich die «Höhe» der euro­päi­schen Gesittung? – in Stehkragen, Frack, Gummiartikeln und Kinematograph? Zum sittlichen Werte dieses letzten Kultur­pro­duk­tes vergleiche man folgenden Bericht (Münchner Neueste Nachrichten vom 10. Sept. 1906): «In einem anderen «humoristischen» Bilde wird ein reicher Kaufmann oder See­offi­zier vorgeführt, ebenfalls in Gesellschaft von feilen Dirnen, und wird in ähnlicher Weise beraubt und in bewusstlosem Zustande dann in eine Droschke gepackt, wobei sich bei ihm heftiges Erbrechen einstellt» – das ist humoristisch, witzig, interessant! Ferner gibt es häufig Mord-, Verführungs- und Raubszenen, eine «Gaudi» für die noch unreife Jugend, eine Aneiferung zu ähnlichen Heldentaten! Oder der Kine­ma­to­graph stellt eine widerliche Dame dar, die in eine Kloake fällt und dann von Ratten heimgesucht wird – «der Schmutz der Kloake rinnt auf sie nieder und besudelt sie». Das beweist doch jedenfalls, dass die Technik uns noch nicht menschlich erhöht, auch nicht über den Wilden. Und worin besteht die «Erziehung der Eingebornen»? – im Plantagenbau und «sanften Druck, ebenso wie bei unsrem Schulzwang!!» Für die europäischen Kapitalisten mag die Dividendenhöhe sehr überzeugend sein und ich verarge ihnen das gar nicht. Aber was gewinnt die sittliche und menschliche Erziehung der Eingebornen dabei? Wenn ein Staatsmann das aus Realpolitik sagt, so ist es be­greif­lich. Aber wenn ein die Wahrheit erforschender Gelehrter oder ein Privatmann nur ein mildes Wort dafür hat, so ist es unentschuldbar. Heute wird Multatuli vorgeworfen, er wäre zu düster und pessimistisch in seiner Kritik gewesen, ihn wider­leg­ten schon die reichen Einkünfte, die Holland aus Nieder­län­disch-Indien beziehe. Multatuli hat ja aber auch gar nicht die Kaffeemakler von Amsterdam bedauert, sondern die aus­ge­beu­te­ten Ja­va­ner. Überdies kannte er wohl die Verhältnisse der Kolonien besser, als sein Kritiker. Er war hoher Regie­rungs­be­am­ter und hat Stellung und Existenz seiner Überzeugung ge­op­fert, um die koloniale Ausbeute wirtschaftlich zu bekämpfen.

Oft muss ich an zwei treffende Aussprüche denken, die Geheimrat Prof. Schmoller im Kolleg in Berlin tat: – dass die Geld- und Magenfrage die letzte Triebfeder des sozialen Ge­sche­hens sei, und dass … Aber das hört man nicht gern. Auch sein Auditorium unterliess es hierbei, mit den Füssen den üblichen Beifall zu stampfen.