Technik und Kultur
Gedanken über die Verstaatlichung des Menschen von Dr. Eduard von Mayer
Vorwort
Nur einige Worte zur Weltanschauung dieses Buches, die vielen Lesern befremdlich dünken wird (besonders die Kapitel 7. Das organisatorische Wesen der Persönlichkeit und 32. Die individuelle Naturanschauung).
Ich bin früh geschult gewesen, «energetisch» zu denken, d.h. im Sinne der modernen Physik und der Lehre von der Erhaltung der Energie und der Materie. Ja, ich glaubte noch auf dem Boden der Energetik zu stehen, als meine Forschung längest eigne Wege ging. Erst als meine Weltanschauung – die dynamisch-individuelle – reif geworden war, erkannte ich meinen Gegensatz zur unzulänglichen Energetik. Mit dieser habe ich kritisch-positiv in meinen «Märchen der Naturwissenschaft» (Nr. 2 der Sammlung «Lebenswerte») abgerechnet. Dass es mit der Energetik zu Ende geht, beweisen auch die Untersuchungen und Ausführungen des französischen hervorragenden Physikers Gustave Le Bon. Sein Buch «L’Evolution de la Matière» (Paris 1905) wurde mir eine um so freudigere Bestätigung meiner Kritik der Energetik, als ich es erst nach Abschluss meiner Arbeiten kennen lernte. Es ist ein Parallelismus der Erkenntnis, den ich als Anzeichen sich weit und tief vorbereitender Umwälzungen im geistigen Leben begrüsse. Äusserst treffend sagt Le Bon: «Die wichtigsten Grundlagen, auf denen ganze Wissenschaften beruhen, sind nur annähernde Wahrheiten, ungefähr wahr innerhalb von Grenzen, ausserhalb derer sie alle Richtigkeit einbüssen.»
Lausanne, im August 1906.
Eduard von Mayer
Inhaltsverzeichnis
Seite | |||
Einleitung | 1–3 | ||
I. | Der Segen der Technik | 4–48 | |
1. | Der Verkehr | 4 | |
2. | Die Industrie | 13 | |
3. | Die Waffentechnik | 22 | |
4. | Die Landwirtschaft | 28 | |
5. | Der soziale Komfort | 38 | |
6. | Wissenschaft und Kunst | 42 | |
II. | Die Quellen der Technik | 49–112 | |
7. | Das organisatorische Wesen der Persönlichkeit | 48 | |
8. | Animismus und Technik | 55 | |
9. | Die primitiv-religiöse Technik | 63 | |
10. | Der Zufall und die Technik | 69 | |
11. | Die technischen Urerfinder | 77 | |
12. | Die künstlerische Technik | 82 | |
13. | Die technische Weltepoche | 93 | |
14. | Wissenschaft und Technik | 100 | |
15. | Der technische Mechanismus | 109 | |
III. | Der Geist der Technik | 113–198 | |
16. | Kulturgüter und Kulturwerte | 113 | |
17. | Arbeitsteilung und Arbeitseinheit | 117 | |
18. | Die öffentliche Technik | 122 | |
19. | Der Staat | 129 | |
20. | Die Biologie der Masse | 137 | |
21. | Die Grenzen des Gemeinlebens | 144 | |
22. | Das Werden der modernen Masse | 149 | |
23. | Technischer Geist und Lebensanschauung | 158 | |
24. | Die moderne Erziehung | 168 | |
25. | Unsere Lebensbehaglichkeit | 175 | |
26. | Die Kunst im technischen Zeitalter | 180 | |
27. | Die technische Scholastik | 186 | |
28. | Plutokratie und Mammonotheismus | 191 | |
IV. | Die Technik und die Zukunft | 113–198 | |
29. | Die Notwendigkeit einer neuen Weltanschauung | 199 | |
30. | Unsere sogenannte Weltanschauung | 203 | |
31. | Was ist Wahrheit? | 209 | |
32. | Die individuelle Naturanschauung | 214 | |
33. | Das neue Ziel der Technik | 219 | |
34. | Die Volksvermehrung und die Zukunft der Menschheit | 222 | |
Anhang I, II, III | 233–241 |
Einleitung
Wie all das, was ein Künstler in den Jahren seines Lebens nach und nach geschaffen hat, sein «Werk» heisst, so darf auch, was der Mensch in langen Jahrtausenden geleistet hat, das Menschenwerk genannt werden – und das ist die Kultur.
Mit dem Tage, da der Mensch auf Erden erschien, alle früheren Lebensarten übertreffend, begann die Kultur und wird vollendet sein, erst wenn alle Naturtendenzen von ihm meisterlich zum Ausgleich gebracht sind: dies zuwege zu bringen, ist eben des Menschen kosmische Aufgabe, die lebendige Pflicht seiner reichen Anlagen. Durch die Schwächen seines Wesens, wie durch seine Vorzüge, ist der Mensch unmittelbar darauf angelegt, sich die äussere Natur zu unterwerfen, und in Wahrheit hat die Natur in diesen Menschenkräften und Menschenmängeln einen grossen Anlauf zur Erreichung ihres letzten Zieles genommen.
Dieses Ziel ist ja: die Vereinigung der unzähligen zerstiebenden Naturmächte, der geringeren und schwachen durch starke und bändigende, zu stetigen Gebilden. Was im grossen die Weltsysteme und im kleinen die Atome sind, was im Anorganischen die Kristalle und im Organischen die Pflanzen – das soll im Ethischen die Menschheit werden, nur innerlicher als die Sternenhaufen, vielgestaltiger als die Staubkörnchen, lustbeseelter als die träumenden Blüten: eine Freudengemeinschaft freier Persönlichkeiten. Dies ist der kosmische Kulturgedanke.
Der Mensch ist hinfällig, masslos und befangen – allerdings! – Das ist ja der chaotische Urzustand des Alls, aus dem er stammt, den er aber gerade überwinden soll, in sich und um sich. Und fürwahr, in seines Leibes Schönheit hat er die höchsten Formen verwirklicht; er hat es vermocht, der Natur und dem Leben Zustände höherer Ordnung aufzuprägen: in der Kunst und in der Freundschaft, dieser persönlicheren Liebe von Mensch zu Mensch; es ist ihm gelungen – selten zwar – die tastenden Nebel des Irrtums zu zerteilen und in sich die kristallene Klarheit der Welt zu erschauen. Das beweist, welch eine wegweisende Magnetnadel der Weltentfaltung sein Wesen sein kann. Leider: was er Dauerndes geleistet hat, was er als Lebensgrundlage auch für den rohesten der Menschen erobert hätte, ist gar wenig; selbst, was er für die breite Masse des entwickelteren Lebens erreicht und erworben, ist nicht viel. Was er jedoch – ob auch nur selten und vereinzelt – im Höchsten geschaffen hat, gibt den strengen Massstab für sein ganzes Wollen und Wirken ab.
Diesen Massstab zu befragen, ist Pflicht, sobald es heisst, den kosmischen Wert einer Kultur und ihrer Ziele zu erkennen, vor allem aber auch die lebendige Kraft eines Kulturweges zu ermitteln ehe es zu spät, und danach die Zukunft zu gestalten. Daher muss es sich auch die Technik gefallen lassen, auf Herz und Nieren geprüft zu werden und folgende Fragen zu beantworten:
1. | Was verdankt unser Kulturleben der Technik? |
2. | Inwiefern offenbart sich in der Technik das Wesen der Kultur? |
3. | Welchen Einfluss hat die Technik schliesslich auf die Kulturentfaltung gehabt? |
4. | Wie kann die Technik wieder dem kosmischen Kulturgedanken dienstbar werden? |