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Lebensgesetze der Kultur – Zweiter Teil – Die Werte der Kultur: Unsere Zeit

XX. Die Entstehung der modernen Zeit

Die Unhaltbarkeit der gesonderten Rassen

Die Zeiten ändern sich nur, wenn die Menschen ändern.

Seinen Höhepunkt erreichte das Gemeinleben, wo ein frischer Volksstamm die Vergangenheit hinter sich lassend zum Eroberer und Herren neuen Landes wurde: die zielbewusste und vor den rechten Mitteln nicht zurückschreckende Leitung liegt in Manneshand, die Gemeinschaft der Herren ist innerlich fest gegründet und kann daher dem einzelnen reichliche Frei­heit gewähren, gewiss, dass niemand aus ihr hinausstrebt. Aber auf dieser Höhe kann das Gemeinleben nicht stehen bleiben; es mag zwar einige Jahrhunderte bestehen, grosse Bauten zu ewigem Denkmal errichten, reiche Kulturwerte schaffen, aber dann sinkt es auch schon wieder hinab. So ist es dem Hel­le­nen­tum ergangen, so im wesentlichen dem Römertum, so dem Ger­manentum.

Die Hellenen unterwerfen sich nicht nur Hellas, sondern auch die Pelasger, die Dorer später nicht bloss die Peloponnes, sondern auch den Achaierstamm, derselbe Achaierstamm wird auch samt Attika von den Ioniern unterjocht. Unter dem Her­ren­stande lebte also das Volk der Urbewohner. So machte sich auch jener kühne Heilige Frühling Latiums, jene Schar von Albalonga, die sich am palatinischen Hügel niederliess, so machten sich die Römer zu Herren erst des umliegenden Berg­kran­zes, dann ganz Mittelitaliens, dann des ganzen tyrrhe­ni­schen Beckens, aller Mittelmeerküsten, aller Gebiete, die der Wüsten-, Wald- und Gebirgsgürtel umschliesst, der südlich von Nordafrika sich dahinzieht, durch Arabien bis an den Kaukasus hinanlangt, dann durch die südrussische Steppe in die ger­ma­ni­schen Wälder übergeht und am Niederrhein das Meer er­reicht. So schwärmen auch immer erneut die Germanen aus und überfluten nicht nur das ganze slavische und keltische Mitteleuropa, sondern auch die Halbinseln des Mittelmeers, überall die Herrschaft an sich reissend; aber eben nicht bloss die Herrschaft über das Land, sondern auch über die Leute.

Diese Herrenvölker bestimmten nun die ganze innere Gestaltung des Gemeinlebens in den untertänigen Gebieten, sie schieden sich von der Stammbevölkerung, die mehr oder min­der rechtlos ihnen zu fronden hatte: hierin wechseln die Ver­hält­nis­se ausserordentlich je nach den geschichtlichen, Vor­gän­gen der Eroberung und den sich entwickelnden Zielen des Herrenvolkes. Die Dorer in Sparta mit ihrer strengmännlichen, kriegerisch-adligen Verfassung standen den Unterworfenen anders gegenüber, als die weicheren Ionier; die Herrschaft Roms war immer die einer Stadt, die durch Beamte oder bes­ten­falls Ansiedler ihre sich selbst verwaltenden Tribut­staa­ten schröpfen liess; die Germanen zogen überall in hellen Haufen ein und siedelten sich auf den Hügeln des Landes mitten unter den Unterjochten an.

Und doch ist der Verlauf nicht ein gar so verschiedener: immer wird am Ende das Herrenvolk aus seiner Vormacht­stel­lung gedrängt, immer tritt allen Ehegesetzen und Rassezielen zum Trotz die Vermischung der Herren mit den Unterworfenen ein, immer schwächt sich die Herrenrasse und kann dem Aus­gleich nicht widerstehen, der ihren Untergang und das Ende ihrer Lebensgestaltung bedeutet. Die Spartaner haben sich im­mer­hin fünf Jahrhunderte rein erhalten, aber gleich die eben­falls dorischen Messener vermischten sich mit den Achaiern und verloren allen politischen Halt; die Ionier in Attika kämpf­ten zwar lange, aber die wirtschaftlichen Zustände, Gewerbe, Handel, Schiffahrt, stärkten die Achaier so; dass sie die alte Herrschaft wiedergewannen und den Herrenstand der Ionier aufsaugten. Die Römer mussten es dulden, daß die Italiker sich die Gleichberechtigung erzwangen, und dass das Blut und die Sitten aller Welt in die römischen Adern drang, bis die Kraft des Römertums entartet war. Die Germanen haben sich, so sehr sie sich dagegen gesträubt, doch ebenfalls nich halten können, sondern sind zu lauter Mischrassen geworden: die Angelsachsen und Normannen mit der keltischen Vor­be­völ­ker­ung zu Engländern, die Franken zu Franzosen, die Menge der germanischen Stämme zwischen Donau, Rhein und Elbe durch keltische und slavische Mischung zu Deutschen, die Ostgoten, Longobarden und Normannen der Apenninenhalbinsel mit den Latinern, Etruskern und Kelten zu Italienern, die Westgoten und Sueven mit den romanisierten Keltiberern zu Spaniern: alles selbst längst nicht einheitliche Völker, je nach dem bunten Muster der alten Unterschicht in zahllose Abarten gespalten und gesondert, wie in gleicher Weise der süd­eng­li­sche Bauer den nordenglischen nicht versteht, der Provenzale nicht den Landmann der Normandie, der Friese nicht den Bayer, der Sizilianer nicht den Venezianer. Nichts ist also so unbestreitbar wie die völlige Blutunreinheit unsrer euro­päi­schen Völker; kaum in Skandinavien, vielleicht in Süd­schwe­den, ist ganz reingermanisches Blut.

Der Verlauf war ja ganz naturnotwendig. Selbst in Ge­gen­den, wo die Eroberer einen reinen Ackerbau vorfanden und alles Land in eigenen Besitz nahmen, die Unterworfenen zur Fron zwingend, wieviel mehr anderswo, wo es schon Städte und ein entwickeltes Gewerbe gab, da musste die niedere Rasse sich doch allmählich wieder durchsetzen.

Die Eroberungen gehen ja in erster Linie doch um Nah­rung, um den Unterhalt des Überschusses an Menschen, den ein Volk los zu werden hat, der sich dann eben durch die Welt schlägt, bis seine Kraft sich neues Land und neues Brot findet. Die zweite Aufgabe erst ist es, nun den Ertrag möglichst nutz­brin­gend zu gestalten; die dritte, den Bestand der Rasse zu sichern. Letzteres bestimmt die trennenden Gesetze, wie sie vor allem der Ehe gelten, aber gleichfalls der Besitzverteilung des nutzbaren Bodens, der Ausbreitung der kriegerischen Herren über die Landlose des ganzen Gebiete, dem Grundsatz des persönlichen Eigentums an Land und Leuten.

Zunächst liess sich mit dem immer grösseren Anwachsen der Bevölkerungszahl nicht die volle herrenrechtliche Ge­stal­tung des Erwerbslebens aufrecht erhalten. Der Boden, zu­nächst, wurde wieder einmal zu eng, und wenn auch ver­ein­zel­te Auswanderungen und selbst. grossartige Kolonisationen stattfanden – wie die Hellenen nach Grossgriechenland übersiedelten; wie die Römer überall ihre Ackerbürgerstädte hinpflanzten und die Gracchische Reform gerade dem hun­gern­den römischen Proletariat, den nichts – als – Kindererzeugern, die karthagische Flur eröffnen wollte; wie die deutschen Bauern westwärts bis nach Brasilien und ostwärts bis an die Wolga gezogen sind – so blieb doch die grosse Masse des Volkes, wo sie war. Aber da denn doch die Lebensmittel be­schafft werden mussten und die immer mehr zersplitterten Land­lose, ob adligen oder bäuerlichen, besonders aber letztere, den einzelnen Familien nicht mehr genügen konnte; da der grundbesitzende Herr auch nicht über eine bestimmte Menge Arbeiter hinaus in seinem Landwirtschaftbetriebe beschäftigen konnte – oder wenn er sie doch zu beschäftigen gedachte, auf neuen Landerwerb ausgehen musste, der andern wiederum das Land entzog: so waren jedenfalls eine immer steigende Anzahl arbeitswilliger und erwerbsbedürftiger Arme darauf an­ge­wie­sen, andre Gebrauchswerte, als die der Nahrung, herzustellen, die dann im Austausch ob im Inlande oder im Auslande, wieder Lebensmittel einbrachten.

So entstand aus der volkswirtschaftlichen Ausnutzung der alten Handfertigkeiten das Gewerbe, das in immer steigendem Masse auf auswärtigen Absatz arbeitet und, weil es nicht durch den augenblicklichen und gegenwärtigen Verbrauch geregelt wird, zu einem von jedem unmittelbaren Lebenszwecke ent­äus­ser­ten Erwerbsbetriebe neigt; es steuert auf die reine und un­be­schränkte Gütererzeugung für den Welthandel zu und wird, immer weiter um sich greifend, über kurz oder lang zum fast einzigen Lebensinhalte und Lebensmittel des Staates: ein not­wen­di­ges – Übel.

 

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