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Lebensgesetze der Kultur – Dritter Teil – Die Zukunft der Kultur

XXIII. Des Menschen Tun

Von der Persönlichkeit

Die Entwicklung der Kultur hat gerade durch die Fülle der Macht, die dem Menschen über die Natur geworden, ihn fühlen lassen, wie klein er dem Ganzen seiner Umwelt gegen­über­steht; und dieses Gefühl seiner Ohnmacht weckte in ihm die grossen religiösen Ideen. Die gewaltigste dieser, das Al­lein­got­tes­tum hat den Menschen erst recht entwertet, hat ihn zur Sache hinabgedrückt; der ebenso machtvolle Pantheismus sieht in ihm eine flüchtige Welle des Urgeschehens, der Mate­ria­lis­mus nennt ihn ein Zufallsgebilde des Staubes. Forscht man aber diesem Staube nach, sucht man das Meer, das diese Wel­len trägt, steigt man zu der Gottheit auf, welche diese Sachen geschaffen, dann tastet man an das bare Nichts, an das Gegen­teil alles menschlich Fassbaren und Fühlbaren, ob das nun die winzigen starren Atome sind, oder eine Kraft unbestimmbaren Wesens, oder die Allwissenheit, Allmacht und Allgüte, die doch nur eine Aufhebung der Wirklichkeit sind, wie diese ein Hohn auf sie ist. Aber nein! Gott ist nicht ein Begriff der Gegen­men­schlich­keit, sowenig als die Kraft, die durch das Weltall kreist, unbestimmt ist oder die letzten Staubkörner unsrer Erde tot sind. Lebensfülle herrscht in ihnen allen; welche Lebensfülle aber, das weiss nur der Mensch, der sich selbst begriffen hat.

Nur die Persönlichkeit des Menschen ist der Schlüssel, der die Tore des Jenseits aufschliesst; und dann wird es heller lebensvoller Tag.

Ich nenne Persönlichkeit des Menschen, in weitestem Sinne, die Innenmacht, welche das Ganze seiner stofflichen Teile und ihrer Mächte zusammenhält und zu gerade diesen Formen zwingt, gerade zu dieser Betätigung drängt. Per­sön­lich­keit ist für mich die höchste irdische Stufe der schöp­fe­ri­schen, bildenden, gestaltenden, ordnenden, das Gewimmel der Welt in grosse Gemeinschaften gliedernden Urmacht, die unsre Sprache als Gott bezeichnet und welche die Hellenen als den Eros Demiurgos verehrten, in schier unglaublicher Hellseherei in der Liebe die ewige Neubetätigung dieser Urmacht er­ken­nend. Und weil sie schöpferisch ist, beweist auch die Per­sön­lich­keit immer neu ihre göttliche Verwandtschaft, ihre Gottes­kind­schaft, um diesen Ausdruck tiefsten religiösen Empfindens zu brauchen.

Zwar auch das niederste Gebilde besitzt eine Innenmacht: denn sonst wäre es gar kein Gebilde, sondern ein zu­sam­men­hang­lo­ses, formloses Chaos von Einzelmächten; und nur Kraft dieser Innenmacht besitzt es überhaupt seine Gestalt. Aber beim Menschen gewinnt diese Innenmacht eine unendliche Bedeutung, weil er ihrer bewusst werden kann und sie durch diese Erkenntnis ihn weiter und leichter lenken kann. Das Tier besitzt das Bewusstsein der Umwelt, jeder gesunde Mensch das Bewusstsein seiner selbst als Person, als einheitlichen Ge­bil­des. Aber erst dann erfüllt sich der Mensch, wenn er diese seine Einheitlichkeit nicht gedankenlos als gegeben hinnimmt, sondern in ihr den notwendigen Ausdruck seiner Innenmacht erkennt: da erwacht er zur Persönlichkeit. Jeder Mensch besitzt ja eine Persönlichkeit, nur das die meisten sich nichts von dieser Goldader ihres Wesens träumen lassen, der allein lebendige Werte entnommen werden können. Und das zieht eine scharfe Grenzlinie zwischen Mensch und Mensch.

Persönlichkeit im engeren Sinne nenne ich daher nur das Bewusstsein der eigenen Innenmacht, der eignen inneren Notwendigkeiten; Persönlichkeit ist Wesensbewusstsein und dann auch der Ehrenname derjenigen Menschen, die es be­sit­zen. Da es aber nicht im entferntesten allen Menschen eignet, vielmehr eine der stärksten Abweichungen von Mensch zu Mensch bedeutet, so müssen besondere Bedingungen hier obwalten und an der Gestaltung mitwirken.

Persönlichkeit ist das Bewusstsein des eig­nen Wesens, das tiefe Gefühl der eig­nen inneren Notwendigkeiten, ist der Wille zur Entfaltung der eig­nen Natur, zur Verwirklichung der eig­nen Grundkräfte. Die Persönlichkeit steht also auf eignen Füssen, mag auch der Boden das Werk fremder, ge­schlech­ter­lan­ger Massenarbeit sein; die Persönlichkeit wurzelt in sich selbst, auch wenn ihre Blütenkrone über den Wald des Ge­mein­le­bens aufragt; die Persönlichkeit hat ihren Schwerpunkt im eignen Inneren und wie auch die äusseren Zustände wären, ihr Ge­sche­hen und Werden hat Stetigkeit. Die Persönlichkeit ist somit eine Überlegenheit des inneren Geschehens über die äusseren Ereignisse, der innren Macht über die äusseren Kräf­te, der Innenwelt über die Aussenwelt.

Persönlichkeit ist eine wesentliche Steigerung des Grund­verhältnisses der innern Mächte, deren Gefüge das Gebilde erschafft; sie ist die unbedingte Oberherrschaft der Inn­en­macht über die Grundkräfte des Menschen.

Diese Grundkräfte sind es, von denen jede einzelne Be­tä­ti­gung des Gebildes ausgeht, sie sind seine Eigenschaften; und so findet die Persönlichkeit ihren Ausdruck, ihre Ver­wirk­lich­ung in der organischen Einheit der Eigenschaften des Men­schen, in der Art, wie er sich durch sie an der Umwelt ver­wirk­licht.

Kultur und Aristokratie

Das Gemeinleben muss ja Gemeinlebensformen haben; die den gemeinen Nöten die erprobte Bahn weist; aber sie ent­spre­chen ihnen eben nur soweit, die Sitte ist nur so lange eine Kul­tur­kraft, als das Gemeinleben sich lebendig aus den Ein­zel­zel­len seiner Menschen zusammensetzt, nur so lange, als Le­bens­ein­heit und Blutreinheit bestehen. Gerade weil und wo sie als Lebensart einer Rasse den Empfindungen all und jedes ent­spre­chen, können die Sitten ein natürlicher Ausdruck sein, jedem gemäss und ganz dem Spielraum seines Einzellebens angepasst; keiner fühlt sich bedrückt, keiner strebt hinaus, niemand braucht gezwungen zu werden. Zersetzt sich aber die Rasse und mit ihr die Kultur, dann verwandelt sich das leichte Joch der mannigfaltigen Sitten in den Zwang der einen Sitte, in die nicht mehr natürliche, sondern erkünstelte starre Herr­schaft auch nicht mehr einer oder der andren Lebensform, sondern der erbgewohnten Nachahmung. Sitten sind etwas Positives, sie haben Lebensinhalt, die Sitte ist rein negativ, sie ist nur die Verneinung jedes Einzellebensrechtes.

Darum ist die «Sitte» der Götze unsrer und jeder ihr ähn­lichen Gesittung, die nicht mehr aus lebendiger, innerer Ein­heitlichkeit quillt, sondern durch mechanische Er­werbs­ver­bän­de fast mehr gesprengt, als zusammengehalten wird, also der demokratischen, bürgerlichen, der Geldzeiten. Gewiss ist auch die Aristokratie, die Kultur des auf Blut gegründeten Her­ren­rechts, an Sitte gebunden, ja eigentlich organisch tiefer mit ihr verwachsen, als die Demokratie. Nur dass die Sitte der Aris­to­kra­tie in ihrer Blütezeit auf führende, zielbewusste Herrschaft der durch ihr Blut Auserlesnen über die Masse ging; und wenn da der einzelne Herrengenosse zum Gehorsam gegen seine Standessitte, seine Rasselebensform verpflichtet war, so war es eben Kriegsrecht und vor dem Feinde gehörte sich Ge­schlos­sen­heit und Aufopferung der eignen Ziele; hier hatte Sitte einen lebendigen Inhalt, hier bedeutete sie eine Kraft, eine Kulturmacht.

Die Demokratie aber erkennt keine Auserlesenheit an, und gerade weil sie sich gegen eine auserlesene Minderheit em­por­ge­kämpft hat, ist sie grundsätzlich Herrschaft der Mehrheit, darum längst nicht der Einheit! und ohne nach Zweck und Umständen zu fragen, verlangt sie eins und einzig die blinde Anerkennung der Mehrheitshohheit als solcher, nicht um des Gemeinlebens willen, sondern aus blindem Herdensinn. Daher lässt die Demokratie den einzelnen nur soweit gelten, als er sich der Mehrheit unterordnet; wehe ihm!, wenn er abseits von der Menge tritt.

So stellen sich hier die beiden Grundkräfte der Kultur widereinander: das Gewordne und das Werdende, das Starr-Dauerhafte und das Quellend-Lebendige, die Geschichte und die Entwicklung. Denn der lebendige Fortschritt geht nur von den Funken überlegner Persönlichkeiten aus, die Mehrheit ist durch Gemeingefühl, Nachahmung und Gewohnheit an das Gegebne, Gewordne, Erstarrte gefesselt; fortschrittlich – was so heisst – war die Demokratie, die im erwerbenden Bürgertum gross gewordne Mehrheit, nur als sie die Ketten des erstarrten Standesunterschiedes brach: im wesentlichen ist sie es ganz und gar nicht. Was sie noch an Veränderungen wünscht, soll doch nur der weiteren Übermacht der Menge, der Sitte dienen, der Unterwerfung der auserlesenen Persönlichkeiten, noch einmal sei es gesagt, nicht im grossen Interesse einer wichtigen Gemeinsache, sondern ein für allemal, grundsätzlich.

Schon diese Zukunftsaussicht muss alle Menschen, die sich Persönlichkeiten wissen, aristokratisch-empfinden lassen, selbst wenn der Tageskampf unsrer verrotteten Gesittung oft alle Rollen vertauscht. Denn stolze Eigenkraft ist von jeher das Merkmal des Adels gewesen. Aber auch er ist Gemeinleben und hat sich selbst an das Erwerbsleben versklavt: so tritt auch in ihm die Persönlichkeit zurück; nur dass doch der ganze Stand trotz seiner Mängel als Persönlichkeit empfindet und längst nicht bloss aus wirtschaftlichem Eigennutz sich gegen den alleinseligmachenden Scheinfortschritt von der Menge Gnaden stemmt. Daher scheint der Adel mehr rückschrittlich, als er es ist. Rückschritt und Fortschritt sind ja nur Verhältnisworte, wie auch Aristokratie und Demokratie; notwendig zwingt die Vorwärtsbewegung des einen Gegners in der Richtung seiner Ziele den andren zur Rückbewegung. Was aber keine Worte sind, ist die wirkliche Lebensgestaltung; hier entscheidet über den Wert nur der Gesichtspunkt der Kultur, der Höher­ge­stal­tung der Natur im menschlichen Gemeinleben: also Wei­ter­bil­dung des Gewordnen, Steigerung des Erreichten, stetige Neu­schaffung der Gesamtheit aus lebendigen Gliedern.

Hier setzt die Persönlichkeit ein und als ihr Rückenschutz die Aristokratie, soweit sie eben Herrschaft des Blutes ist, nicht des Besitzes, der männlichen Herrenkraft, nicht des weib­lich-bürgerlichen Haushaltungssinnes. Das Weib ist al­ler­dings demokratisch, aus stärkerem Gemeingefühl – wie sie ja auch das älteste Gemeinleben erschaffen – aus dem na­tür­li­chen Gebiete ihrer Betätigung, der Wirtschaft, aus der ganzen empfangenden, nicht schaffenden Anlage ihres Wesens, die sie auch weit vor dem Manne blind an den Grundsatz der Sitte kettet und sie, kritiklos zufrieden mit dem Erreichten, feindlich dem nach Neuem schwer ringenden Manne entgegentreten lässt: denn sie hat ihren Schwerpunkt, Mass und Halt in den Gemeinlebensformen, nicht in sich; daher gewinnt sie heute auch wieder so sehr und steigend an Macht. Wer aber als Persönlichkeit, als lebenschaffende Naturmacht der Kultur empfindet, muss für Mannesherrschaft und eine neu zu er­züch­ten­de Aristokratie sein: nicht dass es um äussere Vor­rechte und Titel ginge! sondern um die Anerkenntnis ererbter Wert­unter­schiede, deren nur politisch-sozialer Ausdruck eben der Adelstand war. Und so ist denn die Kultur aristokratisch und männlich, oder sie ist nicht.

 

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