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Die Zukunft der Natur, Teil 1

Das legalistische Weltbild: die Welt als Zwang

Der bürgerliche Glaube I

Neben das Weltbild der Laune, vom schwankenden Hun­ger­ge­fühle dem Menschen aufgedrängt, schob sich allmählich ein andres hervor, das schliesslich neben dem kirchlichen Gottes­staat und dem geldlichen Arbeitsstaat die gleiche Hörig­keits­ord­nung – vertiefter – bekennt. Zwar ist es nicht schlechthin Hungerfurcht, die den Antrieb abgibt; und dennoch ist es ein Ohnmachtsgefühl, durch wirtschaftliche Seelenbedingungen noch vertieft, das dem Geiste hierbei die Bahn des Erkennens und seine – gar so engen – Grenzen bestimmt.

Und freilich hat die arbeitstätige Willenseinstellung nahe­zu alle Schritte der «Wissenschaft» – denn um diese geht es – beeinflusst; es ist der Gemeinzustand der Hungerregelung, der dem Forscher jeweils Voraussetzungen, Vorurteile und Aus­gangs­punk­te gibt.

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Es ist gewiss nicht der «Zeitgeist», der seinen Inhalt dem Den­ker eingibt, in mystischer Offenbarung oder «sozialer Sug­ges­tion»; sonst könnten nicht gar so entgegengesetzte Denk­ge­füge in ein und derselben Zeit entstehen.

Nein, der einzelne Denker schöpft und gibt aus sich selber, auch wenn er die Gedanken aller Anderen kennt und durch­forsch­te. Zum Forschen und Grübeln treibt ihn freilich die Lebenshemmung des Chaos, die er persönlich, im Zeitgefüge erfährt. An irgend einem Wesenspunkte getroffen, sucht er die Notwendigkeit einzusehen, den Zusammenhang dessen, was ihn berührte, mit dem übrigen Dasein zu verbinden; aus barem Lebens­ge­füh­le darauf bedacht, einem Ausnahmezustand ja zu entgehen, sieht er das Weltgefüge wesentlich so, wie es ihn betrifft, und rechnet alles Geschehen in Werte der eignen Empfindung um, in ihr die «Währungseinheit» des Daseins setzend.

Nun kann es dreierlei Stellung zum Zeitgefüge geben. Der Eine stimmt gerade zum Hauptstrom des tätigen Alltagswillens in Arbeit, Erwerb, Verwaltung, Gesittung, Wertung: er würde gar nicht zum Nachdenken kommen, zeigten sich nicht bei An­dern ihm unbegreifliche Widerstände gerade gegen den Zu­stand, der ihm so lebensentsprechend ist, wie dem Fisch das Was­ser. Solche Angreifer, wären sie auch in Minderheit, wie Ver­bre­cher, Ketzer und Umstürzler, erschüttern dennoch die unbedingte Gültigkeit seines Lebenstandes. Gegen sie sucht und findet er Einsichten, die zur Rechtfertigung dessen wer­den, was grade gilt, in Macht ist, und ihm, dem Denker, per­sön­lich Lebenssicherheit bietet. Er wird zum Anwalt der Zeit und ihres Bedürfnisgefüges, zum Wortführer derer, die im Zeit­stro­me leben: so wird sein Eigenbekenntnis beinah zum amt­li­chen Zeitgedanken, dem tüchtigen Durchschnitt der Zeit­ge­nos­sen grade verständlich, selbstverständlich. Seine Schlüsse fliessen «natur- und vernunftgemäss» aus dem Obersatze des Lebenszustands der Meisten.

Ein andrer Denker steht mit seinem Empfinden abseits: er passt zur Mehrheit und Macht seiner Zeit nur schlecht: er muss das geltende Arbeitsgefüge, in dem für ihn kein rechter Platz ist, vereinen. Doch da er zum tätigen Widerstande zu stolz oder – müde ist, zieht er sich auf sich selbst zurück. Er wählt als Zuflucht jenseits der Tagesallgemeinheit die Weltallgemeinheit und hoch erhaben über das kleine Getriebe der Meisten um­schweift sein Denken das Weltenganze. Die Meisten verstehen ihn nicht, seine Lehre wird ein stilles Geheimnis im Kreise der Gleich-Ermüdeten.

Weder diese noch jene Denkart bringt in die Welt einen neuen Willenszustand. Dazu braucht es das heldische Wesen der dritten Geister, die an dem eignen Leiden den Wurzelfehler des aussichtslosen Zeitgefüges erleben und Einspruch dawider erheben, willens den Lebenszustand zu wandeln, die besseren Kräfte zu wecken. Sie gehören nicht ins zahme Gehege der Phi­lo­sophie, sie betrachten nicht das Leben in blosser Nach­spie­ge­lung, sondern weisen ihm neue rettende Formen kraft neuer Wesenserfassung. Das sind die Lebens- und Glaubensstifter – Vorläufer des Klarismus und seiner frohen Menschheits­be­sin­nung.

Doch diese erscheinen nur in Zeiten der höchsten See­len­not, wie Boten der Lebensklärung. Ehe es dahin kommt, fristet das wissenschaftliche Denken behaglich sein Dasein inmitten des Kreislaufs von Not und Arbeit.

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Setzt auch nach wie vor der Einzelne all seine Kraft an den Ta­ges­er­werb des Brotes, so wird ihm die Sicherheit dieses Brotes immer weniger vom eignen Bemühen und immer mehr vom Gemeinleben gewährleistet, von dessen weiten Zu­sam­men­hän­gen und Arbeitsansprüchen stark beeinflusst. Je mannigfaltiger nach und nach die Arbeit wurde, in zahllose Ge­wer­be ver­zweigt, desto ferner rückte der Einzelne ab vom wirklichen Nah­rungs­bezug, der Lebensmittelerzeugung, er wird mit Geld entlohnt. Und der Wert des Geldes beruht ja einzig darauf, dass all der Arbeitsaustausch in ungestörter Kette bis hin zur wirklichen Nutzniessung – Brot, Bekleidung, Wohnung – laufe.

Den Arbeitsaustausch, das Geld, die Nahrungspflege zu sichern, wird aber immer mehr bloss die Gemeinordnung im­stan­de sein, es ist die Eingliederung aller in ein gemeinsames Ganzes. Mit der Eingliederung aller unter feste Gesetze, wird die Lebensbedingung des Einzelnen, grade im Masse als seine Arbeit von der Natur unabhängiger wurde im städtischen Hand­werk und Handel, diese scheinbare Unabhängigkeit wird zur ärgeren Fron. Und was des Menschen Lebensbedingung ist, bestimmt seinen Blick in die Welt, die Formen in denen sein Geist das Dasein erfasst.

Verehrt der Bauer die Himmelsgottheiten, weil sie das Brot beschafften, so ehrt der Städter die Götter, sofern sie den Stand des Gemeinergehens sichern. Erste, höchste und «hei­lige» Lebensbedingung wird ihm immer mehr das Gesetz, da­rauf bezieht, daran misst er die Gottheit.

Das ist ein erstes Empfinden des neuen Zustandes.

Ferner:

Der Bauer sieht in all den Kräften und Dingen der Erde unerforschlich geheimes Walten. Doch dem gewerblichen Arbei­ter –, der in Bälde ein städtischer wird – sind die Dinge der Erde Grundlage seines Erwerbes, jedoch nur als Rohstoff, den er erst zur Nutzung verarbeitet: Erze, Steine, Holz, Leder, Wolle und Pflanzenfasern, sie müssen sein Walten dul­den, werden erforscht, zu reichster Verwendung.

So treibt das Handwerk dazu an, die Natur zu erforschen, tiefer und wesentlicher als es je die Heil- und Zauberkünste von Wurzelweibern, Priestern und Medizinmännern getan.

Da die Götter des Rechtes im vielgegliederten her­ren­recht­li­chen, anfangs kriegerischen, dann städtisch gewerblichen Staatsleben die älteren Mächte des Ackerlebens verdrängt, ent­thront und entwertet hatten, so fiel der Naturverlauf, des Le­ben­dig-Ge­heim­nis­vol­len entkleidet, der prüfenden Forschung des Arbeitsgeistes anheim. Sie selbst aber, diese Götter des Rech­tes, gerieten – durch Mythen der mutterrechtlichen Sit­ten­zeit im Lichte üppiger Willkür geschildert – in Sit­ten­wi­der­spruch mit den Grundlagen stetigen Arbeitslebens; sie wur­den zu wenig mehr als launische, sittenwidrige Will­kür­ge­spen­ster. Da suchte der prüfende Arbeitsgeist nach festerem, «ewig» gültigen Boden für Arbeit und Leben.

Zuerst durch das Handwerk, ledig der frommen Na­tur­schau des Ackerbauern, durch starren Ordnungsbrauch des Arbeits-Gemeinlebens ablehnend gegenüber den launischen Her­ren­göt­tern, sucht der Arbeitsbürger, von ehemals bis heute, die si­che­ren Lebensmächte im grossen Ganzen der Umwelt zu fin­den. An Recht und Gesetz gewöhnt, vom Rechtsverlangen um des sicheren Umsatzes willens geradezu getrieben, des starken Eigen­willens bar, vermag er das Walten des un­per­sön­li­chen Macht­ge­füges der Dinge, das er «Natur» nennt, nur noch als Rechts­ordnung zu fassen.

So tritt in die Welt das Bild des «Naturgesetzes».

* * *

Der Glaube des Arbeitsbürgers ist die Wissenschaft.

Freilich gingen die ersten Forschungen mehr «philo­so­phisch»-grübelnd aufs Ganze, um den Umriss des Lebens zu finden. Die «experimentell»-vergleichende Einzelforschung fehlte noch, dennoch ist es bezeichnend, dass die ersten Versuche wissenschaftlicher Welterfassung – in Hellas – dem «Rohstoff» des Daseins nachspüren gingen: so recht im Sinne des Handwerksgewerbes, auf dem der neue Allgemeinzustand beruhte. Kein Wunder, dass diese Geistesrichtung zuletzt, mit dem Siege des Grossgewerbes, die Welt als Gewerk, als «Ma­schi­ne» begreifen zu können wähnte – als blosse Be­triebs­kraft, gemessene «Energie». Damals war es der Stoff, aus dem der Handwerker Dinge schafft, der wichtig erschien; auch der Stoff, aus dem das Leben gezimmert, «Ilyle», das Holz, ist der griechische Philosophenausdruck für «Urstoff».

Da sind die ersten vier Philosophen, die älteren ionischen.

Thales, am Strande des Meeres in Milet geboren, dem Meer auf dem die Handwerkswaren hinauszogen, die Vater­stadt zu be­rei­chern, die Bürger zu nähren, fühlte den Urstoff im Wasser. Im Feuer, der Arbeitshilfe ephesischer Schmiede, erblickte ihn Heraklit von Ephesos. Anaximenes, Sohn der kleinasiatischen Inseln auch er, suchte ihn im leichten Lust­meer des Windes und Atems. Im formlos-unbestimmt Un­end­li­chen meinte Anaximander der Formenwelt stofflichen Urgrund zu finden. Keiner vermochte die andern zu überzeugen, so einig sie auch im Stoffglauben waren.

Den nächsten philosophischen Schritt tat wiederum der Arbeitsgeist: er begriff, dass es mehr auf die treibende Kräfte ankam, als auf den Stoff, der sich teilnahmslos so und anders formen liess; freilich waren die Kräfte nicht minder blind.

Der Bewegung sinnloser Zufall ward dem Demokrit so zur Daseinsmacht; er mochte im Menschengewirre mit tiefem Spot­te dasselbe fühlen, was er beim Töpfer beobachtet hatte: wie des Stoffes Teile sich gleichgültig schieben liessen, ge­trennt und vereinigt ohne bestimmtes Ziel – eine Menge von Splitterteilchen, von «Atomen» blind zusammengewürfelt erschien ihm das Leben, einzig wert, ausgelacht zu werden. Die gleiche innere Sinnlosigkeit fühlte mit tiefem Schmerze sein scheinbarer Gegner, derselbe bereits erwähnte Philosoph des Feuers, Heraklit: «alles fliesst» –, das war sein Lebensurteil, der ewige Unbestand, die ewige Wechselbewegung, am Wel­len­gang und Flammengeflacker erschaut. Heraklit gehört den beiden nah verwandten Gedankenrichtungen an: und so auch Empedokles, der im Atomengewoge der vier Elemente (Wasser, Feuer, Luft und Erde), im Menschengewoge der Städte das im­mer­währende Gegenspiel von Anziehung (Liebe) und Ab­stos­sung (Hass) erblickte.

Weiter ging die Erkenntnis in tieferer Wertung der macht­be­stimmenden Kräfte.

Hatte die Schutzgemeinde der Bauern in steter Arbeit ge­wur­zelt, der Herrenstaat der Eroberer im Mut, so war im Hand­werks- und Kaufmannsgetriebe der Stadt es vor allem der klug berechnende Kopf, der die Mittel gegen den Hunger be­schaff­te, die Macht zu erlangen und wahren taugte.

Nicht der Weltenstoff, wie es anfangs allzu hand­werks­mäs­sig erschienen, nicht die blinde Bewegung war die wirkliche Lebensgrundlage: Mass und Verhältnisse waren es, nach denen die bildende Hand die Dinge und der Bürgerwille den Staat ge­stal­tete; so sah es Pythagoras. Mass und Ordnung waren je­doch das Werk des Verstandes; über dem baren Weltensamen wal­te­te lenkend als Weltengrund der Verstand: dies war das Lebens­em­pfin­den Athens, des gewerblich beweglich klugen, so sah und sprach es Anaxagoras aus, und sicherlich ist in ihm der Ansatz tiefer Erkenntnis zu ehren.

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Es waren Schauungen arbeitstüchtigen Willens, bewusst der nüchternen Nöte und Kräfte, es war der Glaube kleiner Ge­mein­ar­beit – diese ersten Versuche der Wissenschaft, Zusam­men­hän­ge und Daseinsregeln zu finden. Diese älteren Denker kommen aus eng gefesseltem Arbeitswillen zur Allumfassung «ge­setz­li­chen» Daseins.

Anders die jüngeren.

Diesen genügen die nahen Tatsachen nicht, und der Hand­werks­verstand ist ihnen noch längst nicht geistig genug. Sie gehen daher vom eignen Gefühle der bindend-hegenden All­ge­mein­heit aus, kämpfen gegen die widerstrebende Le­bens­fül­le; mit tausend Bedenken spähn sie nach rein geistiger Grundwelt, forschen hinter die Wirrwelt der Sinneseindrücke. Deutlich spricht sich in ihnen – wie kurz zuvor bei Buddha – die Wil­lens­ermüdung am Lebens- wie Volksgetriebe aus.

Was Heraklit angedeutet: den Gegensatz zwischen Form und Inhalt, wird zum Hauptbekenntnis der Eleaten, freilich in grade entgegengesetztem Sinne. Heraklit erkannte als dauernd die Form, als immer wechselnd den Inhalt, als Lebenswahrheit den rastlosen Strom des Geschehens, den trügerisch bloss die scheinbar steten Formen verhüllten; die Eleaten leugneten umgekehrt das äussere Leben in seinem bewegenden Strom, in seiner Mannigfaltigkeit: «der fliegende Pfeil ruht», war ihr bezeichnender Satz. Wirklicher Daseinsgrund erschien diesen ersten bewussten «Monisten» nur die starre All-Einheit, un­wirk­lich all die Vielheit, Buntheit, Bewegung. Doch so oder so: nur eine Hälfte des Dasein ward geduldet, die andre als Schein verworfen.

Mit wägenden Worten, mit spitzfindigen Rechnungen hat­ten die Eleaten die Welt erledigt. Ihrer Mittel be­mäch­tig­ten sich die Sophisten. Mit schneller Anwaltsschlauheit athe­ni­scher Handel- und Händelsucht trugen sie alle Willens­ge­wiss­heit zu Grabe.

«Der Mensch als Mass aller Dinge!» – Das war noch nicht die Erkenntnis des Eigenwesens, das gottwärts strebend auf jeder erreichten Stufe Werte und Ziele der weitern Ent­wick­lung am eignen Fühlen erleben muss, das aus eignem, doch gott­ge­klär­tem Sehnen und Wollen schöpft, die Geis­tes­for­men aus Willensgraden erlebt. Es war auch nicht die Einsicht, wie tief­be­dingt durch die Willens- und Lebensumstände des wirk­li­chen Tagesdaseins die Lebensurteile jedes Menschen sind, also wie vorsichtig der Geist bei allgemeinen Be­haupt­un­gen sein soll. Für sie, die Sophisten, bedeutete das: der höchste Lebens­mass­stab wäre der wankelmütige Bürger Athens. Der auf­ge­bla­sene massenstaatliche Gleichheitsgedanke in diesem glit­zer­nden Satze ist unverkennbar bei weitem stärker, als das, was am prüfendem Mute, an entwicklungsfroher Bescheidenheit darin keimt.

An diesem Wesenszustand massenherrlicher («demo­kra­ti­scher») Lebenserfassung änderte Sokrates wenig, so wenig pöbelfürchtig er war. Er wollte Tugend lehren: er hielt sie, als rechter Sophist, für lehr- und erlernbar und allgemein mit­teil­bar: wenig oder nichts wusste er vom inneren Reifen der Seele, die ihre Werte stufenweise erleben muss: er hielt die Tugend für eine einzig allgemein gültige Willenswahrheit und zwar für die Unterwerfung unter die Staatsgesetze des Bürgerlebens – daher sein Kampf gegen all die Göttermythen üppiger Willkür. Er selber aber pries dennoch seinen eignen «Daimon», die eigenseelische Warnerstimme. So echt in diesem Erleben die Wahrheit keimt – so echt erahnt die reifende Kraft der geis­ti­gen Klärung ist, so werden daraus für Sokrates doch nicht Lebenseinsichten: diese zerbröckelt der unfruchtbare All­ge­meinsinn. Seine persönliche seelische Werbe- und Wir­kungs­kraft – wieder grade ein Zeugnis für Eigenleben und Eigen­wesen­heit – die erstickt in dem eingemeindeten Willen, in falscher Schätzung von Wort und Begriff, und dem scheinbaren Gleichwert der Menschen.

Wie sehr der athenische Zeitgeist der Volks­ver­samm­lun­gen alle Lebensbedingungen mitbestimmte, im Willen Aller umging, beweist das Denken des Platon: nicht ein Kind des Pöbels, nicht ein Mann des Volkes, voll herrischer Würde, war ihm dennoch das einzige Heil in alles regelndem All­ge­mein­em­pfin­den. Das Einzelwesen bedeutete ihm so wenig wie je einem Massengeist: nur die «Ideen», die ewigen Ur­bil­der der Dinge haben Wesenheit, nichtiger Schein ist alles Einzelne, un­be­ding­te Unterwerfung schuldet der Einzelne allerhand ewig wal­ten­den Allgemeinheiten. Seine Beweise gewinnt Platon genau wie mit der Anwaltfertigkeit andrer Sophisten, durch grü­beln­des Spiel mit begrifflichen Formeln. Der Unterschied ist bloss der, dass seine Ideen in adelsmässiger Ferne über dem Wirr­warr der «niederen» Wirklichkeit thronen – dass für ihn die Em­pfin­dungs­ein­heit, der Lebensgrund in der Kaste und nicht in der Masse liegt: die Ideen sind Kaste, sein Musterstaat beruht auf der Kaste. Es ist eine auserlesene Hörigkeit, ein ver­suchtes Wiederaufleben herrenrechtlicher Massenleitung, was Platon erstrebte; nicht umsonst erschien er späteren Denkern als Moses von Hellas – ein Fronstifter ist er wie dieser, in Willen und Einsicht bedingt durch die eigene Einordnung in straffes Gemeingefüge, in das für Platon freilich kein Jahwe hineinredet. Was von ihm als bestes hellenisches Erbe wei­ter­lebt, ist Wahrheit in der klaristischen Wertung der Kunst: der ewige Sinn der Formen.30a

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Platon also zeigt im Denken den grossen Gemeinkampf von Herrengewalt und Volksmacht, an dem, nach so vielen Städten die schon dies Schicksal erlebten, schliesslich ganz Hellas im peloponnesischen Kriege verblutet: das Herrenrecht, das schein­bar mit Sparta siegt, unterliegt zuletzt dem Mas­sen­recht, doch selbst wenn das Herrenrecht Sieger geblieben wäre – ein Unding beim mächtigen Handwerks- und Handelsgewerbe der steigenden Volkszahl – wär ein, wenn auch abgestuftes, «oli­gar­chisches» Allgemeingefüge, der Lebensumriss ge­wor­den, des Seelenaufstiegs des Einzelnen Feind; Platon be­weist es.

In Aristoteles, seinem Gegner, spiegelt sich darauf hin das nächste Staatsverständnis, soweit es eben dem Lebenswillen des Einzelnen, seinen Lebensnöten und Lebensleistungen Wege und Grenzen absteckt. Das grosshellenische Kaisertum Alex­an­ders des Grossen zwang die zermürbten Sondergebilde all der hellenischen Städte und Kleinstaaten zur Einheit, die schon vorübergehend in den Zeiten der Perser-Stürme waltete und nun in weit-erschlossnem Gesittungs- und Wirtschaftsgebiete, dem ganzen östlichen Mittelmeerkreise, sich werbend-er­wer­bend betätigen sollte.

Der Geist des «ancien régime» in Platon, musste in Aris­to­te­les so dem Gedanken des «imperialistischen» Mas­sen­wirt­schafts­ge­fü­ges weichen, innerhalb dessen jede tätige Son­der­kraft einzig ein Werkzeug des Ganzen ist. In immer geringerer Wesenheit – lehrt Aristoteles – stehen unter einander die tä­ti­gen Dinge, um so einzelner, erden-bestimmter, bedingter, je weiter sie ab von den allgemeineren Wesensformen sind, deren höchste der erst-erregende Geist ist, von dem die Wesenskraft ausgeht, die möglichen «potentiellen» Kräfte zu «aktuellen» zu machen. Sie zur Wirklichkeit wecken tut er und abwärts von Stufe zu Stufe strömend lässt er das tätige Dasein erstehn; in dem Einzelnen ist nur das Allgemeine wahrhaft wirklich – die Wesenswirklichkeit («Entelechie») des Einzeldinges ist dem Allgemeinen entlehnt.

Was dumpf vor Zeiten die ersten Schutzgemeinden in «ani­mis­tischem» Triebe gefühlt, ward hier, nach aller Zwi­schen­ent­wicklung, ein überlegtes Weltbild der Grossgemeinde des Grosserwerbes: als treibend erscheint in jedem Dinge die tätige Kraft, doch wirken die Dinge und Kräfte nur in un­be­ding­ter Vereinigung, hörig sind sie führender Regelung, eigentlich nur durch diese befähigt, die schon vorhandnen Daseinsvorräte auszubilden, und so – in Entlehnung – sich selbst zu verwirklichen.

Der Zukunftsgemeinstaat der Allfron-Arbeit, den vor den roten Genossen, die byzantinischen Kaiser versuchten,31 die massenstaatliche Zwangsgewalt der «Despotie» mit oder ohne persönlichen Spitze – sie liegen im Weltbild des Aristoteles vorgebildet, mit allen Künsten durchgefeilter Begriffe. Die Dinge sind und können nichts anders, als was der erste Erreger kraft der Allgemeinheit sie sein lässt: in nützlich-wirklicher Wirkung bedingen sie Leistung und Arbeit, was bereits, seit Ewigkeit her als mögliche Macht vorhanden ist –, sie sind der Rohstoff, in dem sich die Formen ausprägen. Insofern sind die Einzelwesen nur Atome, Leistungsatome, keine Mehrer des Daseins, fleissige Räder des Weltengewerkes das ohne Er­geb­nis sich ewig um den starr-ruhenden Mittelpunkt, seinen ersten Erreger, seinem Oberhaupt dreht – im Grunde so sinnlos, als wär es ein Nichts, ein Eigennichts, unerbittlich vom Strom der vorherbestimmten Notwendigkeit umgetrieben. Die alte mythi­sche Schicksalsmacht der «Ananke» (Notwendigkeit), über den Göttern waltend, wirkt hier weiter, und auch schon regt sich darin der spätere kirchliche Glaube der «Prädestination».

Dennoch keimt auch hier, wie in Platon ein klaristischer Vorgedanke, dem freilich zur Befruchtung die tiefe Erkenntnis der Eigenwesenheit nötig ist.31a

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Streng erwogen ist des Aristoteles Weltbild die all­um­fas­send­ste, eigentlich letzte mögliche Schauung des eingemeindeten Arbeitsempfindens – genau so gültig für unsre Gewerks­ge­sit­tung von heute und morgen, wie damals in Gross-Hellas. Er ist der Abschluss nicht nur des Denkens der abgelebten «Antike», sondern alles enteigneten Denkens: die mittelalterlichen Den­ker des «Realismus», die in den Allgemeinbegriffen göttlich gewollte Wesenheiten und Wirkungskräfte erblicken, sind ebenso seines Geistes Genossen, wie Leibniz, Kant und die Po­si­ti­vis­ten, wenn auch jeder von ihnen, von andern Er­le­bens­punk­ten aus an die Welterfassung geht, sie eigenpersönlich tönend.

Was nach Aristoteles kam, auf hellenisch befruchtetem Lebens-, Geistes- und Arbeitsboden war tief bezeichnende Ab­kehr vom wirklichen Leben, war tatenflüchtige, eingekapselte, nahezu mönchische Selbstbewahrung von Willensresten, selbst­süchtig freigewählter Glaubensverzicht inmitten des wirren Geschäftsgetriebes. Entsagungsgenuss und Grü­bel­wol­lust beseelte sie alle, die Geistesnachfolger des Stoikers Zenon von Kition, des Epikurs und der Skeptiker, alle waren sie gleich in der Unfähigkeit, neu die Welt zu erfassen, deren ir­di­scher Brennpunkt, das zeitgenössische Leben, wirklich nicht mehr als geschäftiger Stillstand war, im Wesenhaften ent­wur­zelt, ähnlich der heutigen Zeit. Ob der eine mit Ernst, der andere mit Heiterkeit und der dritte mit zweifelndem Spotte neben dem Leben stand, ist weniger wesentlich, als dass sie alle, in ihrem denkstolzen Tatenverzicht den Bruch zwischen Ta­ten­wil­le und Geistesschau belegten, der auch das ganze öffentliche Leben bezeichnete. Alles Wirken war geistlos, sinnlos und ziel­los geworden, ein blosses Machtgewerbe, auf kurze Le­bens­fris­tung gestellt, ganz wie’s dem menschlichen Leistungsatom, dem enteigneten Einzelnen ziemt. Die Ent­see­lung des mas­sen­staat­li­chen Lebens, der lähmende Biss im entwurzelten Ein­zel­leben bezeugt sich nur allzu sehr in dem Bilde der Zeit von damals und – heute.

Die Neuplatoniker waren schon eher dabei, eine neue Welt­eneinsicht zu suchen, da die ganze römisch-hellenistische Welt ein Unbehagen durchfröstelte. Freilich: sie wollten den Geisteskreis der Mittelmeerwelt in gleicher Weise umfassen, wie es das römische Sammel-Reich mit dem Arbeitskreise getan; sie wollten neu die Lebensgrundlagen festigen, aber sie flickten nur mit allerhand morgenländischen Werkstücken des Geistes, mit jüdischer und mit parsischer, «gnostischer» Weisheit den mürbe gewordenen Trümmerbau des Weltbildes. Ungewisser als selbst dem Platon war ihnen das äussere Leben geworden, in dem sie nur einen gott-entirrten Ausfluss des höchsten einzigen Urwesens erblickten, und diesem Scheinsein hiess es durch Sinnesertötung entfliehen, um wieder im Ursein mündend die qualvolle Einzelwesenheit abzustreifen. Im Neu­platonismus fliesst die Hoffnungslosigkeit vielfältiger Le­bens­er­schöpf­ung in eins; ungeeigneter konnte keine Einsicht zur Willensermannung sein, als diese alte und so doch «moderne» Leh­re, die deutlich die Willenserkrankung des Einzelnen dartut, der jedes sinnvolle Wirkziel eingebüsst hat.

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Gerade daraus stammt auch die neue Bewegung der vor­kla­ris­ti­schen «Theosophie»,32 in der sich «gnostische» und «budd­his­ti­sche» Einflüsse kreuzen; sie könnten gar nicht den Einfluss haben, wäre der Wille nicht heute wieder so weit erschöpft, wie zu jenen Zeiten.

Zweifellos ist die Theosophie, auch in bisherigem Ge­dan­ken­ge­bäude, ein echtes seelisches Aufbäumen gegen den blos­sen Stoff- und Nutzglauben –, von echter Kraft ist der Glaube an die Wiedergeburt. Doch ihre Wesenswurzel in der Wil­lens­schwä­che bezeugt sie darin, dass in ihrer Anschauung, aus dem einen Urgrund alle Einzelwesen entströmen und wieder in den Urgrund zurück gelangen. So fehlt der wirkliche Antrieb des Weltgeschehens. Die Sinnenwelt gilt ihr bloss als Irrtum und Fehler, einziger Daseinsstrom ist die Sühne, die Leben und Vorleben miteinander verknüpft, das «Karma»33 – das «Ta­ten­schick­sal», das da Rechttun oder Unrecht des einen Lebens, mit Glück oder Unglück im nächsten begleicht.

So wird der Entwicklungsgedanke – infolge der Nicht­er­kennt­nis des Eigenwesens sowie der Chaoswirklichkeit – durch den Wahn verzerrt, das irdische Wohl- oder Missergehen, be­deu­te übersinnlich genaue Gerechtigkeit.

Dieses Gefühl drängt den Menschen dahin, im Wirrwarr des Lebens ratlos umher geworfen, im Dunkel nach spi­ri­tis­ti­schem Rat und Verkehr zu suchen, und treibt den Menschen rückwärts ins Dämonisch-«Okkulte», wo er ungeklärt, nur zu oft von unreifen Geistern, von Gespenstern in seinem Wahne bestärkt wird. Als Ganzes beurteilt ist die vorklaristische Theosophie ein wertvoller Wunsch der Menschenseele, die Erdenschwere los zu werden.

Doch mangelt in ihren Bekennern der eigengründige Wille, der seiner selbst bewusst, rundum in der Welt die streitenden Daseinskräfte, als wirkliche Strebungen wirklicher Wil­lens­we­sen wertet. Ein solcher Wille misst sich mit all dem Gegen­wil­len, nimmt – für oder wider – zu ihnen Stellung und führt zur echten Lebensgestaltung ringend entgegen. Bei echtem Wil­lens­sinne wär es unmöglich, die Meinung zu teilen, der Ge­dan­ke sei unbeschränkt schaffend allmächtig und könnte mit Wün­schen, wenn sie nur kräftig genug, die Reifestufen vor­weg­neh­men. Die Leiden, Übel, Mängel – eigne wie fremde – müs­sen als blosser Schein, kühn hinweggedacht werden.

Dieser Wunschwahn, der in der «Christian Science» den Hauptgedanken darstellt, aber die ganze vorklaristische Theo­sophie durchzieht, widerspricht zunächst scheinbar dem «Kar­ma»-Glauben. Diesem zufolge ist das Leiden, so gut als die Freuden, wirklich und unabänderlich – also sind es auch die Gedanken des Leidens, der Not, der Mängel. Aber die Lehre: Gedanken seien Macht – sieht im Leiden aller Art ein bloss irregeleitendes Denken. Danach müsste sich auch das Karma durch Änderung der Gedanken ändern lassen. Die Karmalehre stellt aber erst für ein nächstes Leben die Änderung in Aus­sicht.

Dennoch hat dieser Widerspruch seine gemeinsame Wur­zel in brüchigem Willen, der nicht die Kraft besitzt, die Dinge ringend und reifend zu meistern. So findet er eine Dop­pel­ent­schul­di­gung seiner Tat-Enthaltung: die Missstände, die ihn anspornen müssten, seien ja unwirklich, also beanspruchten sie durchaus keine Änderung – oder sie seien unabänderlich vorveranlasst, also könnten sie gar nicht verändert werden. Und diese Doppelentschuldigung fliesst in die eine Erkenntnis zusammen: je nach den Taten früheren Lebens, sei das Pa­ra­dies oder die Hölle, vom Menschen durch seine Gedanken selbst­erworben.

Wie es aber zu solchen Sondergedanken der einzelnen Menschen kommt, aus Sondertaten, wo alles Einzelwesen aus einem göttlichen Urgrund stammt, bleibt völlig unbegreifbar, um so mehr als wenn – Gedanken Macht sind –, die den Ur­geist alles Bösen, aller Leiden, allen Irrtums, all die Mängel des Einzellebens, durch Wegdenken sofort beseitigen können. Da dieser Ur­geist es doch nicht tut – wie das Dasein bezeugt – so will oder kann er es nicht, er ist ein Teufel oder ein Selbst­quä­ler, der grade durch seine Qualgedanken, das ganze Jam­mer­da­sein hervorruft. Und wie ist dieses Karma Gottes entstanden?

Aus diesem uralten Widerspruch führt allein der Kla­ris­mus hinaus.

Durchaus keine Lösung ist die Vorstellung, die nach und nach «emanierten» Seelen erlitten ihre bösen Taten und Pein­ge­danken im Masse, als sie sich ab vom Urgrund bewegen, bis hin zum äussersten Abstand der Gottentfernung, worauf die Rückkehr in «guten» Taten und «frohen» Gedanken erfolge, bis hin zur Wiedervereinigung.

Da bliebe es bestehen, dass dieser göttliche Urgrund in seiner Unendlichkeit nur ein müssig, grausames, teuflisches Spiel mit Scheinwesen treibt, deren einzige Wirklichkeit ihre Qual ist: bevor dieses Scheinwesen die Qualen «emaniert», sie ausfliessen lässt und ausscheidet, sind sie nichts, nach dem das Scheinwesen sie wieder aufnimmt, sind sie wiederum nichts – dazwischen aber wird es durch hunderttausend Lebensstufen gequält, all sein Lebensgewinn vermehrt um nichts den ewi­gen Zustand des Ur-Eins, das bevor die quälenden Gedanken ent­standen, nicht weniger, und nachdem sie zu­rück­em­pfan­gen wurden, nicht mehr ist, als schon seit Ewigkeit. Das gilt genau so vom Monismus.33a

Der tiefe Wurzelfehler des theosophischen Sehn­suchts­glau­bens ist der Willensmangel, der sich zu eigner Qual der Einsicht der Eigenwesen verschliesst.

Das theosophische Fühlen ist wie jede Geistesform Aus­druck gegebnen Willensgrades; daher ist es nebensächlich, ihre geschichtliche Ersterscheinung belegen zu wollen. Freilich ist es möglich zu glauben, der theosophische «Armanismus» sei die geheime Uranschauung der sogenannten «fünften» Rasse, der arischen, uns sei von ihr bis nach Indien hinabgetragen worden, als sie die über-nordische Urheimat verlassen musste, vertrieben durch Vergletscherung. Sagenumhüllt, dem Volke näher gebracht, soll der Armanismus den wuotanischen Wal­hall-Glauben darstellen, in Runen-Liedern verborgen.34

Nur muss der Walhall-Glaube35 denn doch stärker ge­we­sen sein als sein «armanischer» Kern: diese theosophische Lehre der endlichen Wiederrückkehr in «Walhall» nach zweck­lo­sem Kreislauf der Wiedergeburten, ist bar des schaffenden Ei­gen­wil­lens, ohne den die Ario-Germanen nimmer die grossen Ero­berungszüge und Staatengründungen ausgeführt hätten; wohl aber ist es möglich, dass der heldenfrohe Arierglaube all­mäh­lich in dumpferen Zeiten und schwächeren Willensnaturen zum Armanismus verebbte und dadurch die Ungeheuerlichkeit mög­lich wurde, ihn im Geheimen – den Juden anzuvertraun, als gewaltsam das Christentum eingeführt wurde. Die «Kab­ba­la» soll ja diese urgermanische Lehre in jüdischer Form ent­halten – laut Guido von List.36

Mag sein.

Doch damit bezeugt sich der Armanismus als Geistesstufe, die zum verwechseln nah an die jüdische rückt, und nur die Geistesverwirrung entwurzelten Willens bringt es zuwege, dass grade Antisemiten nun den Armanismus als Urerbe verehren, als Rettung gegen die jüdische Macht empfehlen, oder sind es bloss feindliche Brüder?

Mit solcher Weisheit, nenne sie sich armanisch, budd­his­tisch, manichäistisch, gnostisch, neuplatonisch, kabbalistisch und sonst wie, versinkt die Willensgestaltung des Lebens. Uns heute aus diesem toten Punkt der Gesittung entreissen, aus dieser Erschlaffung aufrütteln, kann allein der wil­lens­ge­sun­den­de Klar- und Frohglauben des Eigenwesens, klaristisch erfasster Christusglaube, der alle tiefen Wahrheitskeime der Theosophie als schöne klare Blüte entfaltet.

* * *

Von anderthalbtausend Jahren waren es zwei entgegengesetzte Kräfte, durch die der Willensstillstand gebrochen ward.

Die eine war Christi Botschaft, die jeder einzelnen Seele ihren Wert, einer ewigen, zuerkannte und so in den Seelen der Unterdrückten, der Sklaven, aller deren, die nach Gerechtigkeit dürsteten, neues Leben entzündete.

Neben sie trat, als geschichtlich erneuender Vorgang der Einbruch der frischen nordischen Völker, die noch voll Wil­lens­üb­er­schuss waren. Wie wenig diese zur Sinnes­ent­sa­gung der Kirchenlehre taugten, so sehr entsprach ihnen doch, in aller Verzerrung, das freie Verhältnis zu Gott, den sie schon seit je als «Allvater» verehrten; ob mit oder ohne armanische Theosophie.

Freilich strömte die Kraft der Germanen allzu willig ins mächtige vorbereitete Bett des römischen Weltgefüges, und fanden daher an der Römischen Kirche den Herrn und Meis­ter.

Doch damit ward nun der Kirche die weltgeschichtliche Aufgabe: neuen Kräften der Menschheitsgestaltung das frühere Geisteserbe zu übergeben.

Leider geschah das weder planvoll noch klug in grossem Menschheitssinne, vielmehr in kleinem listigem Eigennutze mit allem Erbgifte des Hungerwahns – was menschlich-irdisch begreiflich ist. Doch so ward es den neuen Empfängern durchaus nicht zum Heil.

Dennoch trug die Kirchenmacht einen doppelten Schatz aus der alten Zeit hinüber ins neue Werden: in ihrem Be­kennt­nis die Kunde von Christus, in ihrem Gottesdienste den Ab­glanz der heiligen Schönheit von Hellas – Schätze, für die erst jetzt die Stunde gekommen ist, wieder und zwar in Einklang gehoben zu werden; das ist die klaristische Mensch­heits­sen­dung, die weiter- und ausführt, was die Kirche versäumte.

Neben diesem grossen Doppelklange des Mensch­heits­le­bens der alten Zeit, tönte freilich im Denken der kirchlichen Welt auch der kühlere Rhythmus der Philosophie hindurch, denn die Kirche war nicht nur eine blosse Botin von Glauben und Gottesdienst – sondern war auch die Erbin und Macht­ver­tre­te­rin jenes Gemeingefüges, das Rom aus eigenem Wesen zwar entwickelte, jedoch als Weltbild bereits des ersten Kai­sers, des Makedoniers Alexander, von dessen Geis­tes­ge­nos­sen und Lehrer Aris­to­te­les ausgesprochen war.

Sein Gedankengefüge ist dem bibelhörigen Kirchenglauben wie vorempfunden – war doch die hellenistische, romreife Welt dem Zustand des Judentums wesensnahe gerückt, der bis in die Kirche hinein die Christusbotschaft eigentlich übertäubt. Im Denken der Kirchenväter, die den «gnostischen» Neu­pla­to­nis­mus als ketzerisch abtaten, überwand Aristoteles noch einmal seinen Gegner Platon. Im früheren Christentum hatten die Meinungen freieres Spiel, Origenes war beinah Platoniker, als das Christentum aber zur Herrschaft gelangte und gar – als Römische Kirche – ein Macht-Staat geworden, mussten alle Lehren der einen sich fügen; Origenes ward zum Ketzer.

Die Kirchenwissenschaft, die «Scholastik», ist wesentlich aristotelisch: das gleiche Gefühl des einen weltumspannenden Allgeistes, dem gegenüber die Einzelwesen nichts bedeuten, und dennoch leistungsverpflichtet sind – dieses Gefühl ver­band Aristoteles, Paulus, Augustinus und Thomas von Aquin. Ihr Denken war weder heidnisch, noch christlich, weder hel­le­nisch, noch römisch, jüdisch oder germanisch – es war ge­mein­hö­rig. Diese Eigenschaft bekommt keiner Rasse be­son­ders, ward auch im Juden- und Römertum ein früh aus­ge­spro­che­ner Willenszustand, der freilich denen die irdische Macht gibt, die ihn bewusst benutzen.

So musste der Bibelglaube, aristotelisch gestützt, im römi­schen Denken zum grössten Siege gelangen.

Der bürgerliche Glaube II

 

Die Irrgänge des Geistes

Die Schule von Athen, (Ausschnitt)
Fresko von Raffael, 1515, Stanza della Segnatura, Vatikan

In der Schule von Athen, dem Wandgemälde in der Stanza della Segnatura, hat Raffael die natür­li­che Wahrheit und die philosophische Vernunft, in Form von antiken Philoso­phen und Denkern dargestellt – Aristoteles, Diogenes, Euklid, Heraklit, Platon, Ptolemäus, Pythagoras, Zara­thus­tra und anderen.

Die Zuordnung ist umstritten, die von Eduard von Mayer als erste Philosophen erwähnten Thales von Milet und Anaximenes sind wahrschienlich nicht darunter, aber Heraklit (im Vordergrund, sich auf einen Quader stützend) und Anaximander (vorne, ganz links).

Das Bild zeigt, dass zur Zeit der Renaissance die Römische Kirche sich in vielen philosphischen Dingen als Nach­fol­ge­rin der grossen griechischen Denker der Antike verstand.

Für Eduard von Mayer konnte der christliche Glaube nur auf dem aristotelischen Gedankengut entstehen (siehe Schluss dieses Kapitels).

Heraklit und Demokrit,
Gemälde von Hendrick Bloemaert ?, ca. 1640

In der Reszensionen der Neuzeit wurde das Weltbild des Heraklit als traugriges gesehen, im Gegensatz dazu sah man das Weltbild von Demokrit als fröhliches. Empedokles sah das Wesen aller Dinge in den vier Elementen: Wasser, Feuer, Luft und Erde. 

Pythagoras, römische Kopie einer griechischen Büste, Kapitolinische Museen, Rom

Pythagoras, Mass und Verhältnis prägten sein Welt­bild, seine mathematischen Erkenntnisse sind bis heute elementare Grundlagen der Gemoetrie und Mathematik.

Mit Anaxagoras gelangte die ionische Auf­klä­rung (Vorsokratik) nach Athen, denn dort verbrachte er die wichtigsten Jahrzehnte seines Lebens und stand dem leitenden Staatsmann Perikles als philosophischer Lehrer und Berater nahe. Als Mathematiker beschäftigte er sich hauptsächlich mit der Quadratur des Kreises.

Zenon von Elea zeigt die Türen zur Wahrheit und Falscheit, Fresco von Pellegrino Tibaldi,
Ausschnit, um 1595, El Escorial

Die Schule von Elea war eine nach der Stadt Elea (heute Ascea) benannte Denkrichtung der vorsokartischen Philosphen im damlas griechischen Süditalien. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Schule war Zeno von Elea.

Als Sophisten wird eine Gruppe von Männern aus der griechischen Antike bezeichnet, die über besondere Kenntnisse auf theoretischem (Mathematik und Geometrie) oder prak­ti­schem Gebiet (Handwerk, Musik, Dichtung) verfügten, im en­ge­ren Sinne vor allem Didaktiker und Rhetoriker, die mit dem Vermitteln ihrer Kenntnisse ihren Lebensunterhalt verdienten. Sie wirkten von etwa 450 v. Chr. bis etwa 380 v. Chr. Der Terminus «Sophist» bezeichnete ursprünglich alle, die für ihre Weisheit berühmt waren: Pythagoras, Thales, Staatsmänner, Kulturbringer, Dichter und andere «weise Männer».

Die Sophisten bildeten weder eine geschlossene philo­so­phi­sche Strömung, noch gab es sophistische Schulen. Sie hatten eine aufgeklärte Haltung zur Religion. Sie gingen davon aus, dass nicht die Götter das menschliche Schicksal lenken, ohne deren Existenz zu bestreiten.

Die philosophische Bewertung der Sophisten war lange Zeit (und ist es bis heute) stark von dem negativen Bild geprägt, das Platon, Aristophanes und Aristoteles und in Folge philo­so­phi­sche Historiker aus platonisch-aristotelischer Perspektive gezeichnet haben.

Sokrates, römische Kopie einer griechischen Büste, Musée du Louvre, Paris

Sokrates war ein für das abendländische Denken grundlegender griechischer Philosoph, der in Athen zur Zeit der Attischen Demokratie lebte und wirkte. Zur Erlangung von Menschenkenntnis, ethischen Grundsätzen und Weltverstehen entwickelte er die philosophische Methode eines strukturierten Dialogs, die er Maieutik (Hebammenkunst) nannte.

Sokrates selbst hinterliess keine schriftlichen Werke. Die Überlieferung seines Lebens und Denkens beruht auf Schriften anderer, hauptsächlich seiner Schüler Platon und Xenophon.

Die Akademie des Platon,
Mosaik in Pompeji, um 50 n. Chr.

Platon war ein Schüler des Sokrates, dessen Denken und Methode er in vielen seiner Werke schilderte. Die Vielseitigkeit seiner Begabungen und die Originalität seiner wegweisenden Leistungen als Denker und Schrift­steller machen Platon zu einer der be­kann­tes­ten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte. In der Metaphysik und Erkenntnistheorie, in der Ethik, Anthropologie, Staatstheorie, Kosmologie, Kunsttheorie und Sprach­phi­lo­so­phie setzte er Massstäbe auch für diejenigen, die ihm – wie sein Schüler Aristoteles – in zentralen Fragen wider­sprachen.

Der Peloponnesische Krieg zwischen dem von Athen geführten Attischen Seebund und dem Pelo­pon­ne­si­schen Bund unter der Führungsmacht Sparta dauerte, unterbrochen von einigen Waffenstillständen, von 431 bis 404 v. Chr. und endete mit dem Sieg der Spartaner.

Der Krieg beendete das klassische Zeitalter Athens und der attischen Demokratie und erschütterte die griechische Staatenwelt nachhaltig. Fast alle griechischen Stadtstaaten nahmen an ihm teil, die Kampfhandlungen umfassten nahezu die gesamte griechischsprachige Welt.

Aristoteles, römische Kopie einer griechischen Büste, Museo nazionale romano di palazzo Altemps, Rom

Aristoteles ist der bekannteste und einflussreichste Philosoph und Naturforscher der abendländischen Antike. Sein Lehrer war Platon. Aristoteles hat zahlreiche Disziplinen ent­we­der selbst begründet oder massgeblich beeinflusst, darunter Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Logik, Biologie, Physik, Ethik, Staats­theorie und Poetik (Lehre der Dichtkunst). Aus seinem Gedankengut entwickelte sich der Aristotelismus.

Prädestination ist ein theologisches Konzept, dem zufolge Gott von Anfang an das Schicksal der Menschen vorherbestimmt. Insbesondere geht es um eine Er­wäh­lung einzelner Seelen zum ewigen Leben oder zu ewiger Verdammnis. Hintergrund ist die Annahme, dass Gott über den Menschen erhaben und jenseitig ist. Das Heil erlangt, wer von Gott zum Heil vorherbestimmt ist.

Augustinus ist als Vertreter der Prädestination be­kannt. In seinem Spätwerk Vom Gottesstaat geht er davon aus, vor der Erschaffung des Menschen habe es zwei Engelsstaaten geben, den Staat der bösen (civitas diaboli) und den Staat der göttlichen Engel (civitas dei). Einige der Engel haben sich «grundlos» von Gott «abgekehrt» und sind böse geworden. Nach Erschaffung des Menschen wurden diese Staaten in den irdischen Staat (civitas terrena) und den Gottesstaat (civitas coelestis) über­ge­lei­tet. Nach dem jüngsten Gericht werde sich der Kreis schliessen; am Ende gäbe es wieder zwei Staaten: Civitas Mortalis – die Höllenstrafe in Ewigkeit – und auf der anderen Seite Civitas Immortalis – die ewige Herrschaft mit Gott (der Himmel). Die Anzahl der Menschen, die in den Himmel kommen, entspreche dabei genau der Anzahl der abgefallenen Engel, so dass der Ausgangszustand wieder hergestellt ist.

Augustinus’ Lehre von der doppelten Prädestination – mit ihrer impliziten Ablehnung des freien Willens zur Ent­schei­dung für Gott oder gegen ihn durch den Menschen – wur­de von der katholischen Kirche bereits im 5. Jahr­hun­dert nicht übernommen. Sie übte allerdings einen sehr grossen Einfluss auf die Reformatoren aus, wie Martin Luther und vor allem Johannes Calvin.

Stoa des Attalos (Kolonnade, Wandelhalle), Rekonstruktion, Peristeri bei Athen

Zenon von Kition war der Begründer der Stoa, einer philosophischen Schule, welche sich in einer Kolonnade (Stoa) traf. Ein besonderes Merkmal dieser Denkrichtung ist die kosmologische, auf Ganz­heit­lich­keit der Welterfassung gerichtete Betrachtungsweise, aus der sich ein in allen Naturerscheinungen und natür­lichen Zusammenhängen waltendes universelles Prinzip ergibt. Für den Stoiker als Individuum gilt es, seinen Platz in dieser Ordnung zu erkennen und auszufüllen, indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe nach Weisheit strebt.

Epikur war Begründer epikureischen Schule. Diese parallel zur Stoa entstandene philosophische Schule hat durch die von Epikur entwickelte hedonistische Lehre, Epikureismus, seit ihren Anfängen zwischen An­hän­gern und Gegnern polarisierend gewirkt.

Die antiken Skeptiker waren Philosophen, die eine Sache von allen Seiten genau untersuchten, um deren Beschaffenheit festzustellen. Dies führte zu prinzipiellen Bedenken gegen alles, was sich nicht untersuchen liess. Dazu gehörten alle Aussagen, die über sinnliche Phäno­mene hinausgingen. Daher wurde menschliches Wissen in Frage gestellt.

Plotin, Relief auf seinem Sarkophag (Ausschnitt),
Museo Gregoriano Profano, Vatikan

Plotin war der Begründer und bekannteste Vertreter des Neuplatonismus. Ab 244 lebte er in Rom, wo er eine Philosophenschule gründete. Er lehrte und schrieb in griechischer Sprache; seine Schriften waren für den Schü­ler­kreis bestimmt und wurden erst nach seinem Tod einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. In Kreisen der politischen Führungsschicht des Römischen Reichs er­lang­te er hohes Ansehen.

Plotin betrachtete sich nicht als Entdecker und Verkünder einer neuen Wahrheit, sondern als getreuen Interpreten der Lehre Platons, die nach seiner Überzeugung im Prinzip bereits alle wesentlichen Erkenntnisse enthielt. Sie bedurfte aus seiner Sicht nur einer korrekten Deutung mancher strittiger Einzelheiten und der Darlegung und Begründung bestimmter Konsequenzen aus ihren Aus­sa­gen. Als Vertreter eines idealistischen Monismus führte Plotin alle Phänomene und Vorgänge auf ein ein­zi­ges immaterielles Grundprinzip zurück.

Helena Petrovna Blavatsky, 1877

Helena Petrovna Blavatsky war eine russisch-ame­ri­ka­nische Okkultistin. Ihre Hauptwerke Isis Unveiled (Isis entschleiert) und The Secret Doctrine (Die Geheim­leh­re) trugen massgeblich zur Begründung der modernen oder anglo-indischen Theosophie bei und erlangten einen bedeutenden Einfluss auf weite Bereiche der mo­der­nen Esoterik. 1875 gründete Blavatsky mit Henry Steel Olcott die Theosophische Gesellschaft.

The First Church of Christ, Boston

Church of Christ, Scientist, meist kurz Christian Science genannt, ist die von Mary Baker Eddy begründete weltweite Glaubensgemeinschaft. Die von ihr entwickelten Lehre, welche sie in ihrem Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift formuliert, ist die Grundlage der Gemeinschaft; die Mutterkirche ist «The First Church of Christ» in Boston.

Walhall, der Palast Wotans (Odin) und der germanischen Götter, das Paradies in der nordischen Sagenwelt. Gemälde von Emil Doepler

Der wuotanische Armanismus ist eine neureligiöse Lehre und wurde von Guido von List gegründet. Man nennt diese Bewegung auch Ariosophie, ein Begriff der Jörg Lanz von Liebenfels geprägte. Ariosophische Autoren verbanden Vorstellungen einer Überlegenheit der «arischen Rasse» und Forderungen einer Reinerhaltung dieser vermeintlichen Rasse mit Elementen der Astrologie, der Zahlensymbolik, der Kabbala, der Graphologie und der Handlesekunst. Die wichtigste ariosophische Orga­ni­sa­tion (Geheimbund) war der von Lanz gegründete Neu­temp­ler-Orden.

Die Ariosophie basiert auf der Vorstellung, dass es in vor­geschichtlicher Zeit ein Goldenes Zeitalter gegeben habe, in dem die arische Rasse noch «rein» gewesen sei und von einer weisen Priesterschaft geführt wurde. Diese ideale Welt sei durch Rassenmischung zerstört worden, und darin lägen die Gründe für Kriege, wirtschaftliche Not und politische Unsicherheit.

Die deutsche Mythologie wurde von Jacob Grimm aus der Edda, vereinzelten Runen-In­schrif­ten und Legenden, darunter auch christliche und grie­chi­sche, und aus den Berichten des Tactius zu­sam­men­ge­tragen. Walhall, die nordische Götterwelt, die germanischen Gottheiten, germanische Mythologie und, Schöpfungs­ge­schich­te.

Viele Autoren nach Grimm haben diese Mytologie er­wei­tert, es herrscht ein Durcheinander wie in der grie­chi­schen Götter- und Sagenwelt. Die nordischen Götter und Helden erreichen allerdings nie die allgemein gültigen psychologischen Wesensmerkmale, die den griechischen Göttern und Helden eigen ist.

Origenes,
Kupferstich von Frère André Thévet

Origenes war ein christlicher Gelehrter und Theologe. Zum seinem Leben stehen nur wenige Quellen zur Ver­fü­gung. Das meiste stammt aus der Kirchengeschichte von Eusebius von Caesarea. Eusebius war ein be­geis­terter Anhänger des Origenes und seiner Lehren.

Ob Origenes als Kirchenvater oder nur als Kirchen­schrift­stel­ler zählt, ist umstritten. Nicht umstritten sind Paulus, Augustinus und Thomas von Aquin.