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Die Zukunft der Natur, Teil 1

Das monistische Weltbild: Die Welt als Laune

Der Beginn des Götzenwahns

Die Himmelsgeister da droben bestimmten mit ihrer Ordnung die nahrungspflegende Arbeit der Menschengemeinde.

Ihrer nicht achten, hiess das Gemeinwohl schädigen, stand doch die Gottheit der Nährerde eng mit jenen oberen Göttern im Bunde, konnte sie doch den Ungehorsam, die Achtungs­ver­letzung, durch Nahrungsverweigerung strafen.

Gemeinwohl also heischte von jedem Glied der Men­schen­ge­meinde die strengste Regelfrömmigkeit – jeder Einzelne stand somit unter strenger Gemeinaufsicht. Nur so erschien es möglich, der Übertretung des Willens der himmlisch-irdischen Nah­rungs­mächte vorzubeugen, das Recht auf Nah­rungs­lie­fe­rung sicher zu stellen. Der eingemeindete Mensch erkannte, droben und drunten, über, auf und unter der Erde, sich ge­gen­über eine Göttergemeinde, seiner Menschengemeinde ähnlich, nur weitaus mächtiger. Regelung und Willensbeugung, die ihm die Gemeinbestimmung bei allem Handeln geworden, war das, was der Götter Walten der ganzen Gemeinde auferlegte. Wie er für seine Arbeit, seine Fügsamkeit, Anteil am Güter­ge­mein­ertrag erhielt, so erwartete nun die ganze Gemeinde die gött­li­che Hungerstillung, als Gegenleistung ihres Gehorsams – ihr Anteil am Weltenschatze.

Die fromme Götterverehrung war Hungergemeinfron, genau wie des Einzelnen fleissige Hörigkeit Hungereinzelfron war; der Einzelne stand zur Gemeinde so nahrungshörig, wie sie als Ganzes zur Göttergemeinde. Eine Mittel- und Ver­mitt­lungs­stelle zwischen der Gottesmacht und dem Menschen war der Gemeinde erteilt; den Göttern Verantwortung schuldig war sie als Ganzes, wie der frühere russische «Mir», die Dorf­ge­mein­de, es der Regierung für den Steuerbetrag war. Und darum stand ihr ein heiliges Recht gegen jeden Einzelnen zu. Sie hat es grausamst betätigt.

* * *

An Anlässen fehlte es nicht dazu.

Mitunter, und oftmals! gab es Missertrag: die Göttin Erde versagte die Ernte; Weiden und Saaten hatte mit un­barm­her­zi­gen Strahlen der Sonnengott versengt –, die Himmelsgottheit hatte die Regenbrunnen verschlossen, Vieh- und Menschen verschmachten lassen, oder aber mit Regenfluten die spries­sen­de Nahrungsfülle ersäuft; die Wettergottheit hatte den Blitz in die Speicher geschleudert und alles verzehrt, was Vielen monatelange Zehrung wäre; irgend eine Gottheit hatte fres­sen­de Scharen von Mäusen und Heuschrecken ausgesandt, und hungrig sahen die Menschen vor ihren Augen verwüstet, ver­geu­det, was gottergebner Fleiss als Jahresnahrung erhoffte.

Da trat die bittere Not, der nagende Hunger ärger als je in die Mitte der Menschen, und raffend fuhr noch gar die Seuche dazwischen.

Da machte die Lebensbeurteilung neuerlich einen all­zu­be­greif­lichen Irrschritt, vom Hungergeiste beraten.

War der Erntesegen der Lohn des Götterbundes für from­men Gehorsam gewesen, so musste die Missernte Strafe für menschlichen Fehltritt sein.

Sollte weiterer Schaden vermieden werden, so musste die Gnade der Gottheiten wiedergewonnen werden; sie mussten versöhnt, sie mussten fest vergewissert werden, dass die Men­schengemeinde nicht aus frevelndem Mute noch Selbst­über­he­bung, sondern versehentlich irrend gefehlt hätte: strenger als jemals sollten die alten Ordnungsweisungen eingehalten wer­den; ausgerottet sollte werden, wer etwa übermütig ein Götter­ge­bot übertreten; die besten Gaben, sollten als Unter­wür­fig­keits­zoll, den Menschen entzogen, die Götter bereichern.

Und so erlebte die alte Totenpflege den ungeheuerstem Aufschwung.

Und so verringerte sich der frühere Unterschied zwischen den unterirdisch finsteren und den überirdisch lichten Mäch­ten. Die schon aus Hungerbesorgnis verzerrte Ahnung höheren Daseins verfinsterte sich noch mehr, als die ehemals gütigen Himmelswesen genau wie die bösen Gespenster mit Nahrungs­opf­ern gefüttert zu werden begannen. So wurden sie wirklich nur übermächtige, schreckliche Rachegespenster, je länger, je lebensfeindlicher –, zitternd gefürchtet.

Und so begann die Gottes-, die Götzenfurcht voller Opfer­tum.4

Unvermeidlich wächst ja das Opferwesen, einmal in die­sem Sinne begonnen, immer fort, zu entsetzlichstem Umfang. Denn unbekümmert um solche Selbstberaubung des hunger- und furchtbetörten Menschen, entsteigen dem Wirrwarr der Dinge mancherlei Nöte, Qualen und Misserfolge.

Der Mensch – im Wahne die Gottheit regle ihm Ernährung und Arbeitsgedeihen und gäbe ihm gnädig, versagte ihm zür­nend, was er bedurfte – glaubte bei jedem nur allzu «natur­ge­mäs­sen» Missgeschicke, die Götter noch nicht genügend ver­söhnt zu haben, die alte Verschuldung gar durch neue ver­mehrt zu haben. Und da er nicht wusste, was er versehn, noch wie sein Verfehlen zu tilgen, zu meiden wäre, so glaubte er fromm und ergeben, das Gemein­wohl und jedes Einzelnen Hun­ger­stil­lung zu fördern, wenn er Opfer auf Opfer häufte: Sühneopfer, Dankopfer und Lob­opfer – Fruchtopfer, Tieropfer, Schmuck­opfer, ja als höchstes Opfer der tiefsten Todes-, Furcht- und Hunger­ver­blen­dung, auch Menschenopfer.

Da war es bisweilen die zarte, edelste Blüte der Jugend, die grade zu Hackbeil und Flammenstoss gut genug war. Vor allem aber verbluteten jene als richtige gottgefällige Opfer, die irgend trotzig den eignen Willen dem allgemeinen ent­ge­gen­setzten und so als widerspenstige Gegner der festen Himmels­ord­nung, als schuldige Urheber aller Gemein­be­dräng­nis er­schie­nen.

Es war das abgefeimte, fast «dämonisch» bewusst er­schei­nen­de Mittel des Hungerwahns und des mit ihm zusam­men­wir­ken­den, zukunftswidrigen, feigen Gemeingeistes, derart die mannigfaltig kraftvollsten Lebenstriebe planmässig aus­zu­mer­zen. Und selbst als das wirkliche Menschenopfer, desgleichen die bloss vermummten gesetzlichen Halbopfer für Ketzerei, Hexerei, geschlechtliche Abweichung, die Todesstrafe nicht mehr angewendet wurde, bestand dieselbe Geistesseuche in Freudenopfern, in Sittenzwang, in Verpönung; ja in straf­ge­wal­tiger Ahndung der Liebe weiter –, alles nur um ja die hun­ger­still­ende Gunst der höheren Welt zu erlangen, durch stumpf­sin­nig blinde Be­fol­gung abergläubischer Götzensatzungen. Diesem Wahn fiehl freilich die ganze Ahnung höherer Le­bens­ord­nung, der Über­na­tur und Zukunftsnatur zum Opfer, und zwar gerade das, was beginnende echte Einsicht war; nur das Zerrbild, der Irr­tum, der Stoff- und Naturwahn erhielt sich weiter.

Dass nach solchem Jahrtausende langem Aderlass besten Lebens doch noch Persönlichkeiten erstehen und mutig den Massenmissbräuchen trotzen, beweist aus welcher un­ver­schütt­barer Wesenstiefe des Daseins Menschen ihren Willen und Geist schöpfen.

* * *

Die Götterversöhnung durch Opferabfindung, deren aller­nied­rigs­te Form sich schliesslich im Ablass zeigte, knüpft an die To­ten­speisung an.

Die Weiheverrichtungen aber, mit denen die Hunger­ge­mein­de den göttlichen Groll zu umschmeicheln hoffte, er­neu­ten in stärkster Weise die Zauberei, den geheimen Willens­zwang durch Brauch und Namenanruf.5

Im Anfang der Nahrungspflege und dann in der Verehrung der Nahrungsgötter galt die wirkliche Arbeit, jede Verrichtung an Acker, Saaten und Herden, das Pflügen, Eggen und Säen, Ernten, Dreschen und Mahlen, das Melken und Scheren als fromme Befolgung göttlicher Willensregeln. Im Laufe der Zei­ten hatte sich dann gar manche kleine Verbesserung durch­ge­setzt, weit vereinfachte Handhabung, Hilfe von Werkzeugen: alles eigentlich gegen die altüberlieferten heiligen Arbeits­bräuche.

Nun, wo die Hungernot den göttlichen Zorn gegen jede Verletzung der heiligen Vorschriften dartat, hiess es, die alten Bräuche, als eigens gewolltes Bekenntnis zur Gottheit, zu ei­gens gewählten Zeiten streng wiederholen – nicht als wirk­li­che Arbeit, jedoch als ehrendes Schauspiel, als weihevoll alter­tüm­li­ches Festgepränge, die noch in Eidschwur und Messe be­ste­hen. Bester Erbe ward zuletzt die dramatische Kunst – frei­lich als der Glaube beinah schon erstorben. Zunächst war das gar nicht Kunst, sondern bloss ein Kunstgriff.

Und so begann der Mensch zu wähnen, es käme gar nicht drauf an, die Götterregeln wirklich treu zu befolgen; die Götter glauben zu machen, man hielte an ihrem Gebot, genügte.

So wurden die Götter zu eitlen Tyrannen, zu täuschbaren Wesen gestempelt und mehr als je bestand ihre Hoheit bloss in der baren äusseren Macht, zu leisten, was über Menschenkraft ging. Der Schein, die Täuschung, die Lüge, diese Kriegslisten des Schwachen, drängten sich unaufhaltsam, die Göt­ter­ver­eh­rung noch weiter verzerrend, in sie hinein. Mit hohlen Ge­bär­den ver­schwundner Andacht, mit leerem Geplapper er­stor­be­nen Bekenntnisses meinte der Mensch die Gottheiten abzu­spei­sen, und nebenher nach eignem Belieben und Dünken sein Arbeits­leben zu regeln; ging es doch offenbar ohne die Regeln der Götter! und doch nicht offen gegen die Götter …

Nicht mehr Walter und Lenker, nur launische mächtige Störenfriede schienen die Götter. Drückten die Sühneopfer die Götter zu Totengespenstern hinab, so zogen die spukischen Zauberbräuche sie nieder zum Stand der Dämonen.

Als bare Laune erschien die Welt dem hungergeplagten Menschen, der wohl eine andre Ordnung der Dinge ahnte, als nur die Hungerfron, doch vom Hunger betäubt ersah er das Höhere nur als gewaltige Kraft, als üppigen Schmaus, von des­sen Brocken er sich zu sättigen hätte, ein Bettler und Hund.

Andre Werte als Hunger und Arbeit, Kraft und Ernährung vermochte sein Geist noch kaum zu erfassen: Hunger und Ar­beit, Not und Mühe war seine Bestimmung. Genuss und Macht das Vorrecht der Götter; und wollte er Teil daran haben, so hiess es sich demütig beugen.

* * *

Der Schein der äusseren Gotteshörigkeit – freilich nur deshalb in Kraft, weil die hungerbestimmte innere Hörigkeit wirklich bestand – war gemeinwichtig, zum Wohl des Gemeinlebens vonnöten. Sie forderte strengste Genauigkeit aller «heiligen» Bräuche.

So wurde das wichtigste Amt im Gemeinleben die Kenntnis dieser Gebräuche.

Die Ältesten, deren Gedächtnis am weitesten rückwärts langte, mochten am Anfang die altüberlieferten Gottesregeln genau berichten, so wie sie anfangs die Träger der Himmels­kun­de gewesen. Aber als die wachsende Gliederung aller Arbeits­gebiete soweit gedeihen war, dass die Ältesten nur die Brauchüberlieferungen ihres besondern Gebietes zu kennen imstande waren, da mussten die allgemeinen heiligen Regeln von eignen Regelbewahrern gepflegt und gleichbestimmten Genossen weiter gegeben werden, um jeden gemeinschädlichen Regelverlust zu verhindern. Die Gottesregeln kamen zu Eigen­tum schliesslich an eine Berufszunft.

Zunächst mochten solche Männer dazu geeignet er­schei­nen, die oft bereits die Gemeinde mit klugem Sinn und Rat gefördert – die sich somit als besser vertraut mit Wesen, Willen und Ratschluss der Götter bewiesen hatten – die al­ler­hand Krankheiten abzuwenden oder zu heilen wussten. Aus solchen Personen mit regem und klugem Verstande gingen Berater, Erfinder, Zauberer, Ärzte und – Priester hervor: die geeigneten, auserwählten Helfer gegen die göttlichen Launen, die Lenker des allgemeinen Lebens, mit Fug die wichtigsten Amtspersonen der Hungergemeinde.

Erst als das Amt eine um so festere Weihüberlieferung for­derte, je entfernter die Urzeit der Bräuche zurücklag, da wurde die echte Begabung unnütz, treue Fügsamkeit alles.

Die Amtsverwalter, um Nachwuchs zu sorgen genötigt, wähl­ten die Zöglinge nach und nach vor allem aus herrischem Gutdünken, zwar wohl nach Geistesbegabung und keine Dümm­linge, dennoch Willenshörige, keine Eigenmenschen: es sollte ja gra­de das Alte, auf dem das Gemeinwohl scheinbar beruhte, fest erhalten bleiben und ja nichts Neues versucht werden – so will es das Wesen des «Brauches», erst recht eines «heilig-gött­li­chen» Brauches, und vollends! wo Hunger die Sättigung for­der­te, Nahrung die von den göttlichen Ur­he­bern launisch verwaltet wurde. Nicht zu vergessen! dass dieses Weihamt der Brauchsegelung selbst eine sichere Nahrung ein­brachte. Noch einmal machte der Hunger sich geltend.

Nun erst schoben sich solche Naturen ein, die nicht aus in­nerem Antrieb in echter Freude die Priestertätigkeit aus­üben, sondern als äusserlichen Beruf ohne jeden Funken des seel­sor­genden Geistes als blosse Gemeinarbeit sehen, und so als ein Gemein­an­recht an Nahrung.

Damit begann die Macht der Priesterschaft, der Verfall des Priestertums, in Überschwang und Erstarrung der Gottes­ver­ehrung.

Macht ist Nahrungssicherheit!

Nun, so ward es der einfache Hunger- und Machtverdienst des einzelnen Priesters und aller, wenn einzig von ihnen und ihrem Rate die Gnadenstimmung der Gottheit, das Wohl­er­ge­hen der Gemeinde, die Sättigung aller Einzelnen abhing.

Je häufiger man an sie sich zu wenden hatte, desto besser gestaltete ihr besonderes Dasein sich. Bot das Leben in seiner Verwicklung schon so wie so genug der Anlässe, wo Verdruss und Zweifel den Menschen zum Gottvertrauten hinschickten –, greifbaren Dank in der Hand – so waren weit fruchtbarer, zin­sen­tragender noch, die wirklichen grossen Nöte, als Strafen der Gottheit gedeutet. Am allerfruchtbarsten wurde schliesslich die Furcht vor möglicher Gottesrache für sogenannte geheime Sün­den; die Sündenangst wurde zur Kornkammer der Priester.

Der Priester konnte Zahl, Art und Länge der Weihe­ver­rich­tun­gen, Wert und Lohn seiner Mühewaltung beliebig ver­meh­ren. Jede Weihehandlung, und wär es die neueste, wurde als urüberliefert hingestellt, den Priestern allein bekannt und zu­gäng­lich. Zugehüllt mit dichten Schleiern der Vorzeit, in dunk­len Sagen und wirren Sprüchen verborgen, war es allein für die Priester möglich, die Weisheit und Wahrheit, den Got­tes­wil­len zu erkennen.

Und nicht den Gottes­wil­len zu kennen und tun, war ge­mein­gefährlich.

Das mussten die Priester schärfer als je betonen.

* * *

Der Anfang dieser Opfer- und Weihebestrebungen war so wie so die Furcht des Menschen gewesen, «heilige» Pflichten ver­säumt und so den «göttlichen» Unwillen gegen die Hunger­gemein­de verschuldet zu haben, den Nahrungsmangel in all seinen Formen. Nun wird es das oberste Ziel des Priester­stan­des, den möglichen Unmut, Groll und Zorn der Götter zu schil­dern,6 den möglichen Schaden für alle und jeden schauer­voll auszumalen, bei jedem Missergehen von göttlicher Strafe und Rache zu reden, entsetzliche Beispiele solcher «Gerech­tig­keit» aufzuzählen; ein guter Teil der Dichtungen dient dieser Göt­zen­ver­herrlichung — bis zu Dantes heiliger Komödie hin­auf. Das ist in allen Jahrtausenden gleich geblieben, und selbst die priesterfreien Naturverehrer und «Theosophen» suchen stets in Nachgefühl vergangenen Wahnes in jedem Leide des Men­schen «gerechtes» Verhängnis zu preisen; bis in die Kunst er­streckt sich solche «Gerechtigkeit», Leistung und Lohn, Ver­feh­lung und Not in scheinbarem Gleichgewicht, wovon der wirk­li­che Lebenswirrwarr durchaus nichts weiss.

Eingeängstigt durch machtbegierige, hungerkluge Ver­stär­kung der irrigen Gottesverehrung, der Götzenfurcht – um Nah­rung, Erfolg, Gesundheit bangend: liess sich der Mensch nur allzuleicht überzeugen, wie wichtig! die Weihehandlung, die einzig der Priester gottgefällig vollziehen konnte, als einziger Kenner und Künder altheiliger Satzungen.

So ergab sich, den Priestern zunutz, ein Hin-und-her von gottesdienstlicher Fron und götzenfürchtigem Wahn: glaubte der Mensch sich in seinem Tun von göttlicher Regel zu sehr entfernt zu haben und suchte nun «aus eigner Vernunft und Kraft» sie wieder zu finden, so war es sündige Fehl im einen, wie andern Falle. Welcherart Gott zu besänftigen war, konnte der Mensch nur vom Priester erfahren; dieser riet ihm Opfer, doch kannte den richtigen Opferbrauch wiederum nur der Pries­ter, und diesem das Opfer zu übermitteln, war einfach ratsam, ja unerlässlich. Aus jeder Tatverfehlung entsprangen Opfer und Weihen, aus jeder Opferverfehlung und Weihe­ver­feh­lung entsprangen neue sühnende Weihehand­lungen, neue Opfer und neue «heilige» Bräuche.

Undurchdringlich dichtes Gewirr erklügelten Treibens, dem Priesterstande zu Ehre, Reichtum, Macht und Brot, spross aus dem Wahne des Menschen, am Hunger erwacht, aus dem Wahn: die Gottheit in menschenüberlegner Stärke und Schlau­heit regle den Hungerwirrwarr, die Massenwelt und fordere launisch des Menschen geängstigte Fron. Weil die Hunger­stil­lung eben von List, Gewalt und Glück bedingt war – weil die Hungerschau als einzigen Lebensumkreis die Nahrung er­kann­te, so mussten List, Gewalt und Glück als Eigenschaften der erdenentrückten Lebenswalter erscheinen; diese wurden zu – Götzen, von Herrschsucht, Rachsucht, Genusssucht beseelten Über-Dämonen. Ein finstres Gewölk von Hunger und Angst, Gewinngier und Täuschung kreiste um die Sehnsuchtsahnung des Menschen, um das wesenstiefe Verlangen nach höherem, lichterem Dasein.7

Freilich haben die meisten Priester die längste Zeit wohl sicherlich selber geglaubt, was sie lehrten; bestehen bleibt dennoch, dass sie durch Nichtbekämpfung des götzischen Hun­ger­wahns, durch Züchtung bettelnder Rachefurcht vor den Göttern statt Gottesverehrung in Wahrheit Gottesverleumdung nährten. Und mittlerweile erwarben sie ungeheures Besitztum in Toter Hand durch allergeheimste Seelenbeeinflussung.

Der Hungerverdienst der Priester, den Ängsten der hun­ger­fro­nen­den Menschheit abgepresst, ist allzu ergiebig ge­we­sen – ihr Anteil an Klärung der Menschenseele in lichter Gott­er­kennt­nis ist allzu gering ge­we­sen, (zumal bei Erwägung, welche erzieherisch tiefe Möglichkeiten ihnen geboten waren), wenn nicht gesagt werden muss, sie hätten das hohe Amt der Gottes­ver­mitt­lung, das heilige Amt der Seelenpflege, ihnen vom Suchen der Menschheit anvertraut, in allzumenschlicher Geistesenge gröblichst missbraucht, wenn auch meistens in ehrlichem Irrtum.

Freilich darf dessen sie niemand verantwortlich machen, der selber in Hun­ger­reglung und Willensbeugung den einzigen Sinn des Daseins und schreckliche Daseinssatzungen un­per­sön­li­cher Chaosgewalten wider des Menschen Eigenbestreben bekennt, diese Lobhudler der Stiefmutter Natur, des grossen All-Eins, der ewig strengen Naturgesetze. Priesterfeinde von diesem Schlage sind Pfaffengenossen.

Einzig wer, zu wahrer Gottesverehrung gelangt, auch den Hungerirrtum durchschaute, darf die Priesterschaft anfechten, ehrlich bedauernd, dass so viel Geistesmacht, Ordnungswille, Seelenkenntnis und Würde dem Menschenaufstieg verloren gegangen sind – vergeudet im Hunger.

* * *

Die hungrige Götzenfurcht trieb auch den echten Gemeinsinn in giftigen Widersinn.

Wohl ist es gut, dass alle Genossen einer Gemeinde ge­mein­sam fühlen, und ist es billig, dass keiner darin geduldet wird, der aus Eigensucht alle gefährdet, und ist es gesund, dass solche sich meiden, die keinen Lebensbund fördernden Aus­tauschs zu schliessen vermögen. Denn hier geht es um wirklich bestimmte Werte, Gefühle und Leistungen, die durch Un­stim­mig­keit leiden mussten.

Doch wenn sich die abweichende Tat und Gesinnung des Einzelnen nicht auf irdische Zustände, sondern auf hunger­fürch­tige Götzensatzung bezieht – wenn himmlische Strafe für Regelverletzung auf jedes menschliche Eigengeschehen steht – wenn doch dabei der wirkliche Wille der Gottheit immer im Unbestimmten verborgen bleibt und dem Einzelnen doch, bei den waltenden Zuständen, ohne Lebensgefahr ein freier Aus­tritt unmöglich ist: dann entsteht lebensgefährliche Geistes­stö­rung der Schutzgemeinde; Gemeinsucht und Eigen­angst befällt die Miteinanderlebenden.

Was ergibt sich?

Willkürliche Aufsicht Aller auf Jeden – das spürende Miss­trau­en, ob sich nicht irgend einer der Hungergenossen gegen die Gottesregeln der Arbeit, der Opfer, der Weihe­bräu­che vergangen – die lauernde Sprungbereitschaft, sogleich den vermeintlichen Übeltäter und Schadenstifter zur Strecke zu bringen, anzuzeigen, zur frommen Satzung mit Busse anzu­hal­ten, ihn gar überhaupt auszumerzen, als Sühneopfer zu schlach­ten: alles, damit die Gottheit nicht am Gemeindeleben den Groll über einen auslasse, sondern am Todesopfer des einen Schul­digen aller übrigen Wohlgesinntheit erkenne. Kajaphas:

 

«Es ist uns besser, der eine Mensch sterbe für

das Volk, denn dass das ganze Volk verderbe.»

Johannes XI:50

* * *

Und was ergibt sich nun daraus?

Dass jeder Einzelne, um nur ja nicht als Regelverletzer zu gelten, ängstlich bemüht ist, stets und in allem den andern zu gleichen. Er muss sich gewöhnen, die eigne Meinung, das eigne Gefühl hinter dem Schein der Gleichheit und Übereinstimmung zu bergen.

Gegenseitiges Misstrauen erfüllt die Lebensgenossen; je­der heuchelt vor dem Beobachter, darum auch vom andern nur Heuchelei erwartend, geneigt den Angeber zu spielen, um selbst als zuverlässig zu gelten. Auf solchen Geisteszustand stellt sich das Miteinanderleben der Menschen ein, wenn Ra­che­wahn und Gemeinsucht die Herrschaft führen.

Schaden bringt dieser Sittenzwang allem lebendigen Aus­tausch, allem gesunden Gemeinbrauch, aller wirklichen Le­bens­art: denn das ist der Sitte wertvoller Kern, ein in Nöten er­wor­be­nes, in Kämpfen erprobtes Menschheitsgut. Hier wird es vernutzt, verstümmelt, vergiftet, der lebensvollen Weiter­ent­wicklung entzogen.

Nutzen bringt dieser Sittenzwang aus Gemeinsucht und Eigenangst wieder zunächst den Priestern, bei denen sich jeder beliebt zu machen versucht ist, um kraft des Umgangs mit die­sen geeichten Regelbewahrern nun selber vor jedem Verdacht gemeingefährlicher Regelverletzung gesichert zu sein. So wird daraus für die Priesterschaft eine neue, unsagbar ergiebige Quelle stetigen Einflusses, den zu bewahren, zu mehren sie alle Angstgedanken im Menschen pflegte und alle Freudengefühle verketzern.

Nutzen erwächst daraus des weitern allen unpersönlichen, mutlosen, minderwertigen Menschen, denen der unlautere Wettbewerb um den Freibrief als zuverlässige «Stützen der Gesellschaft» grade entspricht; sie verdrängen allmählich die starken Eigenpersönlichkeiten von hohem Lebenswert, denen die Heuchelei wider ihre Natur geht. Das Leben wird auf nie­de­rer Stufe festgehalten, weil der Neid sich in der «Moral» eine Festung errichtete.

Und wenn dabei nun wirklich die Mängel der Selbstsucht, – der Neid, der Hass, die Lüge, Betrug und Raub und Mord im kleinen und grossen beseitigt worden wären – dann möchte ein zeitweiliger Stillstand des Lebensaufstieges den Wert einer klärenden Ruhe besitzen. Doch sind die Mängel der Selbstsucht alle geblieben; nur wenig verkleidet und fast überhitzt beherr­schen sie alle Teile und Träger des Hungergefüges; der Wirt­schafts­kampf zwischen Staaten, Parteien, Volksgenossen ist mehr als je erbittert, seit alle Kräfte der Eigengestaltung bloss zum Hunger- und Machterwerbe geduldet werden.

Weit davon entfernt, den tiefen Drang des Menschen nach innerem Aufstieg über die Mängel der Rohnatur hinaus irgend zu fördern, entwöhnt die Gemeinsucht – dieser abergläubisch-götzengläubige, hungergefälschte Gemeinsinn –, den Menschen von ehrlicher Selbstverantwortung, macht ihn zum feigen Hö­ri­gen, immer weniger fähig durch mutige Klarheit das Leben zu mehren, immer mehr in dem blossen Strom des Erwerbes ver­sin­kend, macht ihn zufrieden, wenn äusserlich alles nach Hun­ger­satz­un­gen vorgeht.

Nicht die Welt durchgeistigt, vielmehr die Seele ver­stoff­licht, durch Scheinwerte sie entartet, hat die Hunger­sit­ten­ord­nung die Menschen.8

Gewiss, die Schadensentwicklung der Lebensverarmung durch Götzenopfer und Sittenzwang hat lange Zeit beansprucht und stetig wirkte darauf, äusserlich mildernd, innerlich aber verschärfend, die weitere Arbeitsentwicklung des Lebens ein. Die Wurzel jedoch liegt ferne zurück, in jenen Tagen der mensch­lichen Vorgeschichte, da unerwartete Schadenfälle den fest erwarteten Arbeitsertrag verkürzten und jede Er­den­stö­rung als Himmelsrache gedeutet wurde.

Der eingemeindete Mensch erblickte über dem Leben die übermächtige Launenordnung der Gottheit, die ihm die blin­des­te Hörigkeit auferlegte: alles um des Hungers willen.

Der Olympische Herrenglaube

Die Irrgänge des Geistes

Opferung zu Ehren des Huitzilopochtli, dargestellt im Codex Magliabechiano, Mitte 16. Jahrhundert

Menschenopfer wurden vor allem in den prä­ko­lum­bischen Kulturen Mittelamerikas praktiziert. Diese Opfer­ungen sind nicht nur in den zeitgenössischen Chroniken der Spanier belegt, sondern auch in zahllosen bildlichen Darstellungen der einzelnen Kulturen, in denen die Opferpraktiken teilweise bis ins Detail gezeigt werden.

An der Authentizität dieser Darstellungen und den Men­schenopfern an sich gibt es keine wissenschaftlichen Zwei­fel, zumal sie mittlerweile durch archäologische Befunde bestätigt wurden.

Besonders grausam war der Opferkult der Azteken, wie es neueste Ausgrabungen am Templo Major in Mexiko-City zeigen.

Dante schaut auf den Läuterungsberg.
Gemälde von Agnolo Bronzino, 1530
National Gallery of Art, Washington D.C.

In seiner Göttlichen Komödie besucht Dante als Ich-Erzähler, von verschiedenen Geistesgrössen begleitet, die drei Ebenen des Jenseits: Das Inferno (Hölle), das Pur­gatorium (Fegefeuer) und das Paradies (Himmel).

Der Läuterungsberg ist ein hinter einem Tor be­gin­nen­der Rundweg um einen Berg angelegt, der sich all­mählich dem Licht entgegen schraubt. Auf sieben Ter­ras­sen büssen die Seelen.

Vor der Pforte des Läuterungsberges zeichnet der wa­chen­de Engel mit seinem Schwert sieben P (für Peccato = Sünde) auf die Stirn für die sieben Sünden Hochmut, Jähzorn, Neid, Habgier, Wollust, Völlerei und Trägheit, von denen es sich zu reinigen gilt.

Gegenüber der Trostlosigkeit der Hölle dominieren hier Busse und Hoffnung der Sünder. Die Hochmütigen kön­nen unter der Last von Steinen den Blick nicht mehr vom Boden lösen, den Neidischen wurden die Augen mit Draht zugenäht, die Trägen müssen um den Berg hetzen, die Habsüchtigen liegen mit dem Gesicht im Staub des Weges …

Der Petersdom in Rom bei Sonnenuntergang

Papst Julius II. befand zu Beginn seines Pontifikats, dass die rund 1200 Jahre alte Basilika St. Peter keinen angemessenen Platz für sein monumentales Grabmal bieten würde. Er gab deshalb eine Erweiterung des Kirchenbaus in Auftrag. Da dieser jedoch an vielen Stellen einsturzgefährdet war, entschied man sich statt­des­sen für einen monumentalen Neubau.

Der kostenintensive Neubau des Petersdoms wurde entscheidend durch den sogenannten Peterspfennig und den Verkauf von Ablässen finanziert. Die Diskussion um diese Finanzierungsart wurde später zu einem der Ausgangspunkte der Reformation. Im späteren Verlauf wurde der Bau auch von Spaniern finanziert, die einen Teil der im neu entdeckten Amerika erbeuteten Schätze spendeten.

Die meisten monumentalen Klosterbauten Europas wurden durch die Gläubigen finanziert, sei es durch den Verkauf von Devotionalien an Pilger, oder durch adlige Stifter, welche so sich oder verstorbene Familienmitglieder von den Sünden freikauften. Solche Stiftungen sind in Toter Hand der Kirche.

Christus vor Kaiaphas, Fresco von Giotto, um 1305, Capella dei Scrovegni, Padua

Kajaphas wird in allen Quellen als Schwiegersohn von Hannas dargestellt, der von 6 bis 15 n. Chr. selbst das Amt des Hohenpriesters bekleidet hatte und einer einflussreichen Priesterfamilie vorstand. Kajaphas wurde durch den römischen Präfekten Valerius Gratus im Jahre 18 n. Chr. zum Hohenpriester berufen.

Das Amt des Hohenpriesters war seit der Regierungszeit Herodes kein erbliches, lebenslanges Amt mehr, sondern wurde von den jeweiligen Machthabern, nach politischer Opportunität an ein Mitglied der Pries­ter­aris­to­kra­tie der Sadduzäer vergeben.

Die Gestalt des Kajaphas hat in der Darstellung der christ­lichen Evangelien eine äusserst zwiespältige Be­rühmt­heit gewonnen. Nach Matthäus überführte der jüdische Hohe Rat durch Falschaussagen Jesus einer Gesetzesübertretung. Matthäus schildert dann das Urteil des Hohenpriesters Kaiphas, das auf Gotteslästerung lautet und vom Hohen Rat mit dem Todesurteil gegen Jesus bestätigt wird. So ward der amtierende Hohe­pries­ter Kajaphas federführend beteiligt an der Auslieferung Jesu an die Römer.

Die jüdische Führung besass zur Zeit Jesu nicht das Recht auf Kapitalgerichtsbarkeit. Auch formaljuristisch widerspricht das in den Evangelien geschilderte Verfahren gegen Jesus zeitgenössischen jüdischen Rechts­grund­sätzen.