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Zukunft der Natur, Teil I

Die Irrgänge des Geistes

Amor mi mosse, che mi fa parlare

Mich trieb die Liebe, Liebe heisst mich reden

 

Dante (Inferno V, 72)

Einleitung

Welches Urteil sprechen die Menschen dem Leben?

Die Einen nennen es Weisheit, die Anderen Unsinn. – Diese reden von Ausstieg, von Niedergang Jene. – Als Macht ver­eh­ren es Einige, manche als Pflicht – als Leiden verklagen es Viele, als Freude bejubeln es Wenige.

Und wer von ihnen hat Recht?

Die Frage wäre müssig, lebte ein Jeder mit seinen Em­pfin­dungs­genossen allein. Doch nun beherbergt alle die Gegner ein und derselbe Stern; durcheinander gewürfelt leben und streben sie, ineinander greifen sie unvermeidlich in Wollen und Wir­ken. Da treten Urteil mit Urteil, Massstab mit Massstab in Wider­spruch; fordern müssen die Einen, was abzulehnen den anderen ebenso notwendig ist.

Gibt es wirklich gar nichts allen Gemeinsames? – Wo ein jeder stets den Allwert, den unbedingten und einzigen seines Sonderurteils behauptet … Ist gar kein gemeinsamer Grund gegeben, der jeden und alle bestimmte?

* * *

Das Dasein ist freilich ein Eigenerlebnis. Durchaus nicht entscheidend ist für den Glücksverwöhnten das bittere Urteil des Elends, und nicht für den, der auf Mängel gestossen, des Schwärmers Bewunderung.

Aber dennoch: der glücklichste, selbst der gesundeste Mensch, der zufriedenste, anspruchsloseste lernt die Stunde der Bitternis kennen.

Ich meine gar nicht den Tod – den Erleben ja eigentlich nur die Anderen, die Hinterlassenen.

Nein! Ich rede vom Hunger.

Hunger: so heisst das allgemeinste Menschenerlebnis, der Einheitsboden aller Erfahrung, die Ausgangsfrage jeder Er­kennt­nis.

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Jeder weiss wie der Hunger den Menschen zur Nahrung treibt, zum Nahrungserwerbe stachelt – doch wichtig ist es endlich einzusehen, wie der Hunger die Lenkung des Geisteslebens gewann und noch innehat.

Solange der Hungergeist unbegriffen und ungebändigt verbleibt, ist die Klärung der Menschheit beinah unmöglich, und selbst die unerlässliche Hungerregelung kann ihres Amtes nicht sinnvoll warten, zu falschen Massen verleitet. Die heute gültigen steigern die Not, anstatt ihr zu steuern: das Zeigen erschreckend die Krämpfe unserer Gesittung.

* * *

Der Hunger ist das allgemeinste Menschenerlebnis.

Hunger ist der Wecker des Sonderbewusstseins, der erste Lenker des Sonderwillens; als solcher heilsam und fördernd.

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Belebt Behagen den Menschen, steht er leiblich und seelisch in günstigem Austausch mit dem, was die nahe und ferne Um­ge­bung hergibt – dann fühlt er sich selber so reich und ruhig weit, als um ihn herum die Sinne bunt die Gegenwart breiten. In solchem Augenblick stimmt er zu dem, was umher ist: reines Daseinsgefühl erfüllt ihn, Einigkeit waltet zwischen ihm und der Welt; sie dünkt ihm Einheit.

Aber sobald ein Mischklang entsteht, verändert sich alles.

Will der Mensch mit schnellerem Pulsschlag das, was die zaudernde Umwelt verweigert – mag er mit trägerem Triebe nicht leisten, was drängend die Aussenwelt fordert: so klafft plötzlich die Welt auseinander. Sich gegenüber empfindet der Mensch ein widriges Etwas, sich selbst erkennt er fremder Macht gegenüber. In Feindschaft starren «Ich» und «Nicht-ich» einander an, zerstoben ist aller Schein der Einheit.

Und dennoch: im Einklang treibt es den Menschen und nun erst recht.

Erlangt der aber den Einklang weder durch eigene Kraft oder Hilfe, die Zustände zwingend, noch durch günstige Wen­dung der Dinge selbst – so sucht er noch lieber wirklich den düsteren Anblick des Daseins, die Bilder des Schreckens und Elends, Trümmer und Schauder; es sei denn sein unerfüllter Wille wäre stark genug, im eigenen ungebeugten Sehnen das grosse Unterpfand einer Neuordnung des Dasein zu finden, über den Wirrwarr hinwegzusehen, über dem Wirrwarr im hel­dischen Schaffen hinwegzustreben, bis zur erahnten Zu­kunfts­natur und Einklangwelt. Sonst und meistens wird, was das tätig-üppig-wirre Leben verweigert, dem Einen leidsam in Schwermutromantik, dem Andern in peinlich roher Bet­rach­tung des fried- und schwunglosen Alltags: so oder anders fühlt er Zugehörigkeit, Gleichgestimmtheit zur Umwelt statt ein­sa­mes Ringen.

Gestörter Lebenseinklang ist es, der all die rasende Selbst­quälerei gebiert, die Sucht nach den hässlich-gemeinen in Leben und Kunst; und findet sich darin selber beglaubigt und dadurch für Augenblicke beruhigt. Aus Lebensstörung verfällt der Mensch, zermürbt, auf die ätzende Zweifelssucht: Ruhe erlebt er auch so im Verzicht auf Gewissheit. Der dauernde Lebensmissklang der Fron und Notdurft peitscht den ver­geb­lich ringenden Menschen nach langer Willensqual in den auf­at­mend «Wahrheit» genannten Wahn: es herrsche ein uner­bitt­lich strenges Daseinsverhängnis, es walte grausamen ehern ein Netz von Daseinsgesetzen, denen des Menschen Jam­mer­er­scheinung willen- und rettungslos preisgegeben – ein elendes Nichts.

Kämpfend flieht der Mensch die Vernichtung; vom Kampfe erschöpft begrüsst er als Ziel die – Vernichtung, nicht mehr fähig noch lange zu fragen, wieso ein nichtiges Scheinding sich selbst zu behaupten begehre und dadurch auf sich nur Leiden lade, statt im Schicksal des Nichtseins die Wesenserledigung stracks zu ergreifen. Genug; im Gefühl der Zugehörigkeit – wäre es sogar zum erdichteten All-nichts – findet der Mensch seine Rettung aus Qualen der Störung.

Solche Seelenerfahrung eröffnet dem Blick die Bedeutung des Hungers im geistigen Werden und Werten.

* * *

Zweifellos: der gereifte Lebensgestalter erkennt den Gegensatz seines Sonderwillens zum übrigen Dasein, so oft die ver­wor­re­ne Menge und wer Ihres Geistes, mit Blindheit geschlagen, sich feindlich sträubt von ihm zu empfangen, was gütigen Sinnes er hingibt, das Leben zu mehren. Das Kind erlebt seine Selbstheit gleichfalls, so oft es im Spiele zurückgewiesen wird.

Gewiss! Doch längst vor dem willenbewussten Spiele lebte das Kind: den Säugling, der eingelullt in dumpfem Behagen kaum oder nichts von sich selber weiss, entreisst dem son­der­ungs­losen Gleichstrom des Dämmerdaseins plötzlich die na­gen­de Notdurft des Hungers und weckt die quälende Ahnung des Ichs. Und so der Erwachsene: neben dem Hochkampf leuchtender Ziele spürt er qualvoll der Notdurft Joch, wenn seinem Ringen um Nahrung fremde gleiche Begierden ent­ge­gen­treten und ihn die Hungerfron zwingt, sich selbst zu ver­raten – kleinlich erniedrigt, von keinem Schwunge verschönt, erlebt er sein hungerhöriges Sonderdasein.

Bei weitem einflussvoIler, denn alle Hemmung der Spiel­kraft im Kinde, der Schaffenskraft im Lebensgestalter, erweist sich im geistigen Zustand des Alltags, im steten Alltagswirken des Geistes, fürwahr gerade das, was der hilflose Säugling, der lebensrüstige Mensch am Hunger erlebt.

Der Hunger ist wirklich der erste Wecker des Sonder­be­wusst­seins, die Weckung des Sonberbewussteins die erste Wirkung des Hungers. Auf diesem allgemeinsten Erlebnisse baut sich die ganze Erkenntnis der Menschheit auf, genau wie auf ihm die ganze Menschenarbeit ersteht, ist er doch der Geist des Chaos, an das er durch Erbunrecht1 alle kettet.

Doch eben dadurch verzerrt sich von vornherein die ge­wal­tige erste Tatsache allen Daseins: die Eigenwesenheit.

Nur ein Zerrbild malt die stockende Kraft, von Ängsten bedroht und verfront und vergeudet; Zerrbilder sind die bis­he­ri­gen Lebensurteile alle, wie abweichend auch die Sehwinkel scheinen. Sie alle entflammen der einen gleichen Bewusst­seins­enge des Hungers.

* * *

Nicht Atemnot, die das Leben ungleich schneller erdrosselt, noch Durst, der ebenfalls rasch zur Vernichtung führt, sondern Hunger ist dieser einzige Anlass aller Erdenerkenntnis. Jene würden eher mit Todschweigen die Daseinsfrage ersticken, als irgendwelche Antworten reifen lassen; doch dieser gibt Gal­gen­frist und schickt die Sehsucht fort und fort in die Irre.

Und dann: mit Mühen beschafft sich die Nahrung, mit su­chender Überlegung und geistigem Aufwand, indes die At­mung mit sichererer Regelung jeden Verbrauch des Sauer­stoffs ohne weiteres wettmacht, da für gewöhnlich doch Luft in Fülle vor­handen; und Wassermangel kann im Gemeinleben wohl zu schweren Folgen führen, Siedlungsfragen bestimmen,2 Streit­ig­kei­ten entzünden – jedoch die geistigen Grundgeleise haben sich früher, im Einzelerleben gebildet, und da ist Wasser­man­gel kaum von Belang; der Hunger aber beschäftigt mit stetem Stachel den Willen.

Die geistige Hungerwirkung begreifen, heisst die Wurzel sämtlichen Wahns erfassen. Und vorher ist jedes Lebensurteil verfrüht, eine bloss beliebige Lebensstimmung, doch nimmer ein wirklicher Massstab.

Der Urwaldglaube

Zukunft der Natur, Teil I
Die Irrgänge des Geistes

 

Die Irrgänge des Geistes