Die Seele Tizians, zur Psychologie der Renaissance, Kapitel IV
Tizian der Psycholog
Die Feinheit Giorgiones und die Lebensfreude Palmas finden ihre Vollendung in Tizians Werk, weil sie in Tizians Persönlichkeit selbst lebten; natürlich gewinnen beide Anlagen erhöhte Kraft durch die innige Vereinigung in einer Natur. Dennoch ist es nur einmal, in einer Gestalt, als vollzöge sich der Ausgleich, als glücke die höchste Einheit: in der «himmlischen Liebe», jenem wunderbaren nackten Weibe am Brunnenrande, das in Haltung, Gebärde und Blick wie eine Priesterin des Paradieses erscheint. Aber diesen inneren Gipfel seiner Künstlersendung erreicht Tizian nie wieder, fast ist es, als habe er ihn nachtwandlerisch erstiegen, aber im nüchternen Tageslicht hat ihn immer vor der erhabenen Höhe geschwindelt, er ist unterhalb geblieben und hat in «doppelter Buchführung» sein Werk und Leben geleistet. Dass er auch so Grosses geschaffen wie wenige, lässt eben nur bedauern, dass er nicht das Allergrösste sieghaft offenbart hat. Freilich wäre er dann zur Einsamkeit — wie Correggio — verdammt gewesen; so ward ihm ein glänzendes Dasein, und wir müssen vor den einzelnen Schönheiten und einzelnen Feinheiten seines Schaffens zu verschmerzen versuchen, was wir im ganzen vermissen.
In seiner Farbkunst, technisch gediegen und inhaltlich empfindungsreich, hatte Tizian ein grossartiges Werkzeug seiner Darstellung; dazu fügt er aber eine Lichtkunst, die seine Schilderungen noch mehr vertieft und gliedert. Diese Licht- oder Schattenwirkung erreicht er durch die grosse Rolle, die er den Wolken zuweist. In seiner Bergheimat wie in Venedig mag er sich in das ganze Scheinleben dieser chaotischen Luftwelt vertieft haben, aber wenn seine Seele dabei nicht mitgeklungen hätte, würde er gewiss nicht die meteorischen Stimmungswerte zu seinen besten Helfern erwählt haben, er würde sie kaum erkannt haben, vielleicht nicht einmal bemerkt. Zwar in der «Pesaro-Madonna» haben die Wolken oben an den Säulen fast nur die Nebenaufgabe, die unendliche Höhe der sie überragenden Steinriesen zu zeigen, deren Kolossalität und Starrheit der innerlichen, milden Hoheit Marias zum Hintergründe dienen. Sonst aber gibt er uns seine Seele, wenn er an die Stelle des heiteren, klaren Himmels Giovanni Bellinis seine Wolken setzt. Doch das ist auch nicht die dunstige, dumpf-nüchterne Schirokkoblässe, wie Carpaccio sie bevorzugt, sondern es sind schwerere, dramatischere Töne, wuchtigere Gebilde und damit eine packendere Sprache. Freilich ist das nun nicht eine stereotype Manier: denn die sinnlich-frohen «Poesien» belebt er mit hellen, hohen Sonnenwolken; aber all die Gemälde, wo trübere, leidsame, ungeklärte Seelenzustände ihn umschweben, da lässt er schwere dunkle Massen auf dem Himmel lasten, und das Licht, das aus der fernen Tiefe oder steiler Höhe oder durch die finsteren Wolkenzüge bricht, hellt grell das innere Leben der Gestalten auf.
So in der «Assunta», wo die Wolkenschicht, die Maria entrückt hat, die Apostel mit banger Ungewissheit überschattet; und weit unten versinkt die Sonne, mit gelblichem Schimmer das Schwarzblau des drohenden Himmels nur steigernd. Von droben aber, wo die Wolken sich in Engelsgestalten und goldige Engelsköpfchen auflösen, sendet dann das überirdische, wandellose Licht seine tröstende Zuversicht auf die Gesichter und in die Seelen herab. Denselben Gedanken nehmen die Bilder in Ancona (Maria mit dem Kinde und Heiligen, 1520), im Vatikan (Madonna in der Glorie mit Heiligen, 1523), in Verona (Mariä Himmelfahrt, um 1533—40), in Serravalle (Madonna in der Glorie mit Petrus und Andreas, 1547) auf. Ebenso steigt auf dem«Auferstehungs»-Bilde in Brescia (1522) Christus hell am dunkeln Abendhimmel empor, der sinkenden Sonne, der sinkenden Hoffnung zu siegreichem Trotz. Der heilige Sebastian, unten auf dem rechten Flügel desselben Bildes, wird von der finsteren Nacht um ihn erdrückt, sein Haupt ist gesenkt, und wie ein erlöschendes Leben ruft aus der tiefen Ferne der letzte Schimmer des Tages, ein einsamer Stern neben ihm blinkt trügerisch. In gleicherweise ist auf dem «Laurentius»-Bilde (1560—65) die Marterszene in Finsternis getaucht, die durch die rötliche Glut der Scheite, durch das qualmige Licht der Fackeln noch unheimlicher wird, und der eine verheissungsvolle Strahl aus dem Himmel macht die Nacht der Seelenqualen erst recht zu drückender Wirklichkeit. Licht und Schatten sind hier Gefühle geworden, Pinsel und Farben reden hier, wo Worte versagen. Noch stärker ist diese Seelenkunst im «Petrus Martyr» (1530). Zwar die eine hellere Wolke im Hintergründe macht das Dunkel des Waldes, das Dunkel der Stunde nur noch beängstigender, aber das hoch von oben fallende Licht begegnet dem aufgereckten Arme des Sterbenden, der durch diese Gebärde seine wurzeltiefe, unmittelbare Überzeugung besser ausdrückt, als durch den Glaubenssatz, den er mit seinen blutigen Fingern auf den Boden schreibt — wie die Legende das wollte. Ähnlich dramatisch, wie zehn Jahre später die Farbenanordnung beim «Tempelgang Mariä», wirkt die Lichtverteilung dieses berühmten Gemäldes. Das Auge fällt zunächst auf den fliehenden Begleiter; seine Kopfwendung und Handhaltung richten nun den Blick auf den Rumpf des breit und grell beleuchteten Mörders, dessen stossende Bewegungen zu seinem Opfer überleiten, und hier lenkt der in Licht getauchte Arm den Blick hinauf, wo die hellen Sendboten des Himmels palmenschwingend erscheinen. Der beleuchtete Arm des Märtyrers hatte schon Jahre früher einen Vorgänger gehabt, und auch da benutzt ihn Tizian, wenn auch noch zaghafter, zu dieser durch Verzögerung vertieften Wirkung. In der «Verkündigung» in Treviso (1515—17) stürmt der Engelknabe mit freudigem Eifer herein; aber sein Gesicht nun ist nahezu ganz beschattet, dafür weist der helle Arm auf den lichten Glanz, der hinter der blauen Wolke hervortritt und auf Maria niederstrahlt. In dem Bilde von «Adam und Eva» (1560—65) ist ebenfalls Evas Gesicht durch den Stamm nur deshalb verdunkelt, damit der helle Arm, der nach dem versucherischen Apfel langt, und dadurch der begehrende Sinn augenfällig werden. Welche Inbrunst weiss Tizian auf dem Deckengemälde «David und Goliath» (1543—44) in der Salute in die erhobenen Arme Davids zu legen, der neben dem Ungeheuer von Goliath seinen Dank zum Himmel schickt, wo aus finsterem Blaugewölk das goldene Licht der Hilfe niederkommt. Davids Züge liegen im Schatten, denn seine Seele ist in den Händen — eine tiefe Psychologie, die um so schwerer wiegt, als ein solcher Meister der Mienenschilderung sie offenbart, wie Tizian das ist. Ein andres Mal weiss er durch das gleiche Mittel lustige Schelmerei zu wecken, wie in dem reizenden Geschöpf in lichtem Rot und Blau, das vom erhobenen Arme des «heiligen Nikolaus» beschattet wird (1563): nur das eine Auge blitzt hervor und wiegt den Ernst auf, mit dem der Knabe die schwere Bischofsmütze zu halten sich bemüht. In seinem Jugendwerke, dem «Markus»-Bilde, griff Tizian zu diesen beschatteten Zügen noch, einfach um die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken: denn der dunkle Kopf des Schutzheiligen Venedigs tritt, von der hellen Wolke gehoben, fast mehr hervor als die hellen Köpfe der Heiligen drunten. Sonst macht er es wohl umgekehrt und nimmt die dunkle Wolke als Hintergrund zu hellen Zügen — wie im Porträt der Irene von Spilimberg (1560).
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Eine tiefere, persönlichere Bedeutung in Tizians Werk gewinnt diese Verdunklung des Kopfes, wenn wir sie auf seiner ersten «Grablegung» (1523) finden, dann im «Petrus Martyr», «Kreuztragenden Christus» (1560), endlich auf der «Kreuzigung» (1561), wo die Antlitze Christi und der Maria bis auf wenige hohe Lichter in tiefen Schatten versenkt sind. Es widersprach eben Tizians Empfinden, das körperliche, entstellende Leiden zu schildern, und wo er es nicht umgehen konnte, da drängte er es doch mindestens zurück. Die zweimal (1560 und 1570) wiederholte, unerfreuliche «Dornenkrönung» gebot doch immerhin einen Gegensatz zwischen duldender Hoheit und brutaler Niedrigkeit, also eine mehr seelische Erfassung, als das Letzte des Martertodes; und mehr hat Tizian auch nicht gegeben. Aber gleich die inhaltlich verwandten «Ecce homo»-Bilder befriedigen nicht. Zwar jenes grosse Bild in Wien (1543) schildert mehr das Leiden der einsamen, hüllenlosen Persönlichkeit, die sich vor der bunten, gaffenden und geifernden Masse erniedrigen muss, gerade weil sie abseits und höher steht, und da wirkt der ganze grosse, ewig menschliche Vorgang, in Gebärden und Farben dramatisch suggestiv. Die helle Frau hält den Knaben, der zum Hellebardenträger aufblickt, und neben dem weisen die Köpfe und Hände aufwärts, wo über dem dunkeln Grün, Braun, Violett und Rot die blaugelbe Gewandung des Pilatus hervorsticht, und er, mit den Zügen Pietro Aretinos, stellt höhnisch den Märtyrer der Mildherzigkeit, Ehrlichkeit und Göttlichkeit dem Pöbel vor, der diesen Befreier beschimpft, aber den feisten roten Prälaten gerne als lenkenden Fronvogt hinter sich duldet. Hier war Tizian bei der Sache; hingegen kommt in den Brustbildern Madrid (1547), Chantilly (1547) und Petersburg (1565—70) es kaum zum Ausdruck, dass dieser Schmerzensmann weiss: er ist der Erlöser der Welt, gehasst, gespottet und gerichtet — der hier leidet, ist ein sanfter, freundlicher Mensch, wie in Betäubung seines Schmerzes versunken.
Ebenso fehlt in den beiden «Mater Dolorosa»-Bildern (1548 und 1554), trotzdem Karl V. sie bis zum Tode hoch schätzte, jeder Zug wahren Leidens, und das gilt auch von der «Mater Dolorosa» in den Uffizien und den Mariengestalten der «Grablegungen»: es sind zuviel Leiden da und zu wenig, es kommt etwas Übertriebenes, Gekünsteltes, Süssliches hinein, die Gemälde verraten, dass der Meister innerlich nicht ergriffen war, seiner Natur nach es nicht sein konnte. Hierfür war ihm Giorgione überlegen, wie der ungeheuer tiefe Ausdruck der Mutter in der sogenannten «Familie des Giorgione» am besten beweist. Dieses Versagen der Tizianschen Meisterschaft bei der Leidensgeschichte ist ein überaus wichtiges inneres Zeugnis.
Und doch hat Tizian eine Schmerzensmutter, Niobe-Maria, voll grossartigen Lebens geschaffen, auf seiner «Pietà». Da liegt in Haltung, Gebärde und Miene der in der Tiefe nagende, dumpfe Schmerz. Es ist, als ob mit dem Seufzer, der sich eben ihrem Munde entrungen haben muss, eine erhabene Entsagung über sie gekommen ist, als ob alles, was sie bisher geahnt und im Herzen bewegt hat, nun Gewissheit geworden ist und Erkenntnis: das war der Schicksalsweg ihres Sohnes. Seine Reife hat eben Tizian hier einen für ihn dankbaren Augenblick wählen lassen, geeigneter als das stille, tatenlose Leiden oder das untätige Zuschauen bei der Grablegung; hier ist nicht ein Seelenzustand, sondern ein Seelenvorgang geschildert. Das Seelendramatische entsprach Tizian mehr, weil er selbst eine tätige, sich fort und fort entfaltende Seele hatte — vielleicht, weil er eben nicht eine einheitliche, sondern, eine gespaltene Persönlichkeit, zwei Seelen hatte, die ungebändigt immerzu miteinander kämpften und sich aneinander entzündeten. Der Mangel an Einheit seines Wesens wurde so bei der Grösse seiner Anlagen doch zu einem äusseren Gewinn und Vorzug. Zwingt ihn aber der beauftragte Inhalt, der Wunsch des Bestellers zum Verzicht auf dramatisches Seelenleben, so erlahmt er oder zeigt nur in Nebenheiten sein Können oder aber setzt sich über den Stoff hinweg, er eskamotiert etwas ganz andres, ihm Zusagendes hinein.
Für seine Auffassungs- und Anfassungsweise sind hier die Fresken in der «Scuola del Santo» zu Padua (1511) sehr bezeichnend, so wenig sie auch technisch bieten; die Zeit, die Menschen haben daran herumgewüstet, vielleicht trägt am Verfall auch das schuld, dass Tizian zur Freskotechnik nie ein Verhältnis finden konnte, und gar hier war er, auf der Flucht vor der Pest, recht widerwillig bei der Arbeit.
Drei Wunder des heiligen Antonius galt es zu verherrlichen; aber wenn es Tizian später gelingen konnte, im «Tempelgang Mariä» ein Wunder vor unsern Augen sich ereignen zu lassen — hier war aus den Wundern selbst nichts zu holen. Die Verleihung der Sprache an ein als Bastard verdächtiges stummes Kind, die Heilung eines abgehackten Beines, die Erweckung einer ermordeten Frau liessen sich nicht je in einen Augenblick verdichten, denn die Frau musste tot sein oder nicht, das Bein abgehackt oder nicht, und ein sprechendes Kind konnte auf dem Bilde doch nur einen lautlos offenen Mund zeigen. Deswegen schildert Tizian auch nur die Erwartung und Spannung der Zuschauer, ob dem Heiligen, der eben erst seine Hand gebietend hebt, das Wunder glücken wird: die Zuversicht des guten Gewissens liegt in der Nackenhaltung und ein wenig zweifelnde Furcht in dem gesenkten Blicke der Frau; Zweifel, Neugier und Misstrauen in Zügen und Gebärden des argwöhnischen Gatten lassen auch den Beschauer das Drama miterleben. Ebenso liegt der Jüngling, der seine Mutter geschlagen und dann sich selbst gestraft hat, mit der tiefen Wunde im Bein ohnmächtig da, und die Mutter fleht mit fliegender Angst den herantretenden Heiligen um Hilfe überhaupt erst an. Im dritten Bilde versetzt Tizian den Heiligen samt seinem Wundererfolge gar in die fernste Ecke und Tiefe: was er zeigt, ist ein ergreifender Eifersuchtskampf, die Frau ist von einem ersten Dolchstoss zu Boden geworfen worden und sucht nun mit der erhobenen Rechten den blutgierigen Gatten zurückzupressen, der hart und mit tierischer Verbissenheit zur letzten Tat ausholt. Wenn Lessing diese Bilder gekannt hätte, er hätte an ihnen den wesentlichen Kern seiner «Laokoon»-Gedanken entwickeln können. Noch weit verfeinerter, aber demselben psychischen Grunde entstammend, ist die Auffassung im «Zinsgroschen» (1514). Ein Augenblick zwischen zwei Welten offenbart sich. Eben hat Christus gefragt: «Wes ist das Bild und die Umschrift?» auf die Münze weisend, und man fühlt, wie der Pharisäer mit der Antwort stockt, denn in der unendlich überlegenen Ruhe seines Gegners ahnt er schon den ihn vernichtenden Bescheid. Alles in diesem Bilde ist lebendige Sprache, vom Bau der Köpfe und der Hände an bis zu Blick und Mund; Adel und Gemeinheit sind nie in grösserem inneren Gegensätze dargestellt worden, die göttliche Macht der Innenwelt, die ihrer Sendung bewusst ist, und die grobe Kraft des Mammonsinnes, maulwurfsklug. Für Tizians bildnerische Kraft ist diese Wahl des glücklichsten, dramatischsten Augenblicks — der Frage, nicht der abschliessenden berühmten Antwort — ein ebensolches Zeugnis, wie es für Leonardo sein «Abendmahl» war. Diese Berührungslinie zweier Empfindungen, zweier Handlungen liess ihn denn auch das schönste «Verkündigungs»-Bild schaffen — das in Treviso. Allerdings ist die Komposition ein wenig locker, der Raum ist nicht intensiv genug behandelt, Mauer, Fussboden und Himmel nehmen zu viel Platz in Anspruch — aber das Antlitz Marias enthält so ganz den Moment, wo ihre Überraschung in die Frömmigkeit der gehorsamen Ergebung übergeht, dass ich es nur ein Meisterstück nennen kann. Neben diesem Bilde sind Tizians eigne zwei «Verkündigungen» viel späterer Zeit (1540 und 1567) trotz Einzelheiten geradezu leer. In Treviso ist der Vorgang ganz seelisch-dynamisch, die Empfängnis geht im Strahle des Lichtes vor sich, später kommt die orthodoxe Taube wieder auf, die durch einen Chor von Engelputten nicht besser wird; Marias Demut wird rein äusserlich in die Handhaltung gelegt, gar im letzten, als Michelangelos würdig gepriesenen Gemälde sagt sie mit der Gebärde einer gekränkten Dame: «Ich weiss von keinem Manne». Doch diese Überlegenheit des jüngeren Meisters vor seinen eignen Werken reiferer Zeit gehört zur inneren Geschichte seines Wesens. Wenn die älteren Meister die «Tobias»-Legende zu behandeln hatten, so zeigen sie immer einen hübschen Jungen in der Gesellschaft der drei Erzengel durch eine sonnige Landschaft schreiten; Tizian benutzt auch hier eine willkürliche Episode, um in einem bewegten Augenblicke den Charakter der ganzen Geschichte zu zeigen (1537—40). Der Gegensatz zwischen dem schönen, machtvollen Engel und dem dummen Bauernbuben lässt diesen so recht als unbeholfen und täppisch erscheinen; zwar ist es ein braver Junge, der ein Wagnis aus gutem Herzen unternommen hat, doch ohne den helfenden Schutzgeist hätte er nie den heilenden Fisch gefunden, so wenig, wie er jetzt in der Dämmerung den Heimweg kennt. Der Engel weist in der Ferne den klug erschauten Pfad, Tobias stimmt, von dem festen Willen seines Begleiters unbewusst bezwungen, mit hypnotisch-geistloser — hier um so geistvollerer — Bewegung zu; selbst das Hündchen scheint klüger als er. Dieser Seelenkenner schuf denn in seinem «Johannes der Täufer» (1548) wieder ein Erlebnis. Wenn Andrea del Sarto in seinem unvergleichlichen, leider verdorbenen Bilde ein ganzes tragisches Schicksal in den Blick zu legen gewusst hat, ein: «weh dem Verkünder!» — so war dies wiederum nichts für Tizian, der ihn mitten in seiner Tatkraft schildern muss. Und so stellt er den Prediger in der Wüste in die Einsamkeit; dennoch ist er nicht allein: vor seinem geistigen Auge, wenn auch vielleicht nicht vor dem leiblichen, sieht er die Menschenwüste. Sein zornig weisender und winkender Arm, die ausgereckt bebenden Finger der emporgewandten, offenen, entgegenkommenden Hand rufen zugleich und bedrohen das «Otterngezücht», das gleissend an ihn herankriechen wird — er weiss es —, sobald er nur dazwischentritt, ein neuer Kitzel für das satte Geschlecht. Und doch ist es seine Sendung, sie zu rufen! Hastig wie die Bachschnelle hinter ihm im steinigen Bett geht seine Rede, leidenschaftliches Blut läuft in seiner braunen Haut um. Doch in seinem Blick, in den zusammengepressten Augenbrauen verbirgt sich ein düsterer Gedanke, der ihn selbst schreckt; er fühlt es: dieses Gottesreich, dessen Nahen er verkündet, wird er selbst nie betreten, wie Moses nie das Gelobte Land betrat, denn ist er auch der Grösste unter denen, vom Weibe geboren, so ist doch «der Kleinste im Himmelreich» grösser denn er. Das gilt auch von Tizian selbst.
Auch in kleineren Gemälden — kleiner dem menschlichen Ewigkeitsgehalte nach — kommt immer am stärksten und glücklichsten diese Eigenheit der Tizianschen Kunst zur Geltung: das Geschehen dermassen zu verdichten, dass der Beschauer je länger je mehr, ohne es zu wollen, eine lange Erzählung anhört und nicht etwa bloss von Handlungen und Ereignissen vernimmt, sondern von Entfaltung der Seele. So sind die beiden «Hieronymus»-Bilder von Tizian mit siebzig und achtzig Jahren gemalt; beide versetzen uns in tiefes, waldiges Farbendüster, die Wetterstimmung der Felsenei ist aber bei dem späteren Bilde noch eindrucksvoller, schauriger als beim früheren. Auf dem ersten Bilde (um 1550) lehnt sich der Greis kniend an einen Felsblock, und seine linke Hand packt die hohe Steinkante, über der das Kruzifix aufragt; mit dem sehnigen linken Arm stützt und stemmt er sich zugleich, hält sich fest und hält sich fern, langt nach dem, was ihm Rettung dünkt, und will sich selbst doch nicht aufgeben; und die Rechte umkrampft ein Wurfgeschoss! einen Stein. Dazu blickt der zurückgeworfene Kopf starr und fast in Augenhöhe auf das heilige Bild, als fragte er: «Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?» Es ist der Anachoret, in Seelenangst aus der Welt geflüchtet und doch nicht Herr seiner Zweifel, ob das, was er erwählt, wirklich das Heil ist: «labiles» Gleichgewicht der Seele und des Leibes! Viel rückhaltloser hat sich Hieronymus auf dem zweiten Bilde (etwa 1559) seinem selbstgesuchten Schicksal ergeben; er zweifelt nicht mehr, und die Gewissheit in der Anbetung des Kreuzes hat ihn noch mehr seine eigne Ohnmacht gelehrt. Er wagt nicht, dem Kruzifixe zu nahen, sondern kniet in Andacht, von ihm entfernt, er schaut von weitem zu ihm auf, seine Tatkraft kämpft nicht mehr mit der göttlichen Macht, sondern wie ein Entwaffneter wirft er willenlos die Arme zurück. Ähnlich das Bild des Patriarchen Johannes von Alexandria, des heiligen Almosenspenders, prächtig in Rot und Weiss gehalten (1533). Der geistvolle Greis war in die Bibel vertieft, aber plötzlich ist die zitternde Bitte eines Armen an sein Ohr geschlagen, und er gibt nun, sich umwendend, freundlichen Blickes das Almosen; in der langsamen Senkung der Hand liegt Herzensgüte, der kühle, verletzende Hast fremd ist, und der ganze kleine Vorgang predigt mit warmem Blute, wie viel gottgefälliger als Schriftgelehrsamkeit die Milde und Barmherzigkeit sind. Ebenfalls der «heilige Nikolaus» hat das Bibelbuch geschlossen; er aber spricht mit nachdrücklichem Ernst über den verlesenen Text: das Überlegene, Gebietende, aber auch das Unbeugsame und Beschränkte eines cholerischen Kirchenfürsten kommt ausgezeichnet zur Geltung, besonders auch durch den Gegensatz des schelmischen Chorknaben.
Ein Maler, der so die periphersten Äusserungen der bewegten Seele mit sicheren Pinselstrichen, der so sehr in der Augenblickshandlung den Charakter zu offenbaren vermochte, der konnte nur ein grosser Meister des Bildnisses sein; muten doch schon wiederholt die Gestalten seiner kirchlichen Bilder wie Porträts an — so der almosenspendende Greis rechts in dem Bilde von «Mariä Tempelgang», auch der beschattete Kopf des «Petrus Martyr» hat etwas Edel-Persönliches.
Himmlische und irdische Liebe,
Bildbesprechung
von Gustav von Bezold, 1903
Petrus Martyr
Kopie von Jean Louis Théodore Géricault
Mater Dolorosa Florenz